Geschwister verstehen (eBook)
200 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61325-0 (ISBN)
Dr. Inés Brock, Halle/Saale, Erziehungswissenschaftlerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist freiberuflich als Dozentin, Supervisorin, Familientherapeutin, Beraterin und Psychotherapeutin tätig.
Dr. Inés Brock, Halle/Saale, Erziehungswissenschaftlerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist freiberuflich als Dozentin, Supervisorin, Familientherapeutin, Beraterin und Psychotherapeutin tätig.
„eltern und kinder leben nur
ein halbes leben miteinander,
geschwister ein ganzes […]
niemand weisz folglich bessern
bescheid zu geben als vom bruder
der bruder […]“ (Jacob Grimm, Rede auf Wilhelm Grimm, 1860)
Unsere längste nahe verwandtschaftliche Beziehung ist die zu unseren Brüdern und Schwestern. Das Interesse an dieser engen Bindung, die oft mit widersprüchlichen Gefühlen verknüpft ist, stieg in der Öffentlichkeit und auch in der Wissenschaft in den letzten Jahren an. Sei es die Beschäftigung mit uns selbst in biografischer Reflexion, aber auch im sozialen Umfeld und in pädagogischen und psychologischen Praxisfeldern wächst die Aufmerksamkeit zur Bedeutung von Geschwistern. Das Leben in Familien entwickelt sich vielfältiger und Elternbeziehungen verändern sich. Dadurch werden auch die Beziehungen unter den Geschwistern beeinflusst. Mütter und Väter gestalten ihr Leben mit neuen Optionen, insbesondere Väter sind heute stärker in den Familienalltag involviert. Es werden in den letzten Jahren auch mehr Kinder geboren; so stieg die Rate inzwischen deutschlandweit auf 1,6 pro Frau. Familien entscheiden sich häufiger für ein drittes Kind. Auch planen die Eltern die Geburten bewusster und bereiten die älteren Geschwister auf die neuen Herausforderungen vor. Familienformen haben sich ebenfalls verändert; es gibt mehr Halb- und Stiefgeschwister.
Ein längeres Leben, flexible gesellschaftliche Bedingungen und die gleichberechtigte Wertschätzung von Jungen und Mädchen geben zudem den Beziehungen zu Schwestern und Brüdern einen wechselhaften Verlauf.
In dem vorliegenden Buch folgen die 11 Kapitel jeweils einem Themenblock, der sich an Lebenswirklichkeiten und Umgebungsfaktoren orientiert.
Geschwister im Lebensverlauf beginnt mit der Betrachtung der Zeit um die Geburt nachfolgender Geschwister. Die Älteren werden vorbereitet und einbezogen, Eltern beachten dabei die Bedürfnisse ihrer Kinder. In der Kindheit sind Geschwister enge Vertraute und Unterstützer aber auch Rivalen, die um Anerkennung ringen und sich voneinander zu unterscheiden versuchen. Eine große Intimität entsteht, sie verbringen miteinander mehr Zeit als mit den Eltern. In der Pubertät wandeln sich die Interessen und die Gleichaltrigen und Freunde gewinnen an Bedeutung. Dennoch werden mehr emotionale Geheimnisse miteinander geteilt. Gemischte Gefühle entstehen, wenn die ersten Geschwister ausziehen, um ein eigenes Leben zu führen. Trotz der Ablösung voneinander kann man sich nicht wirklich von seinen Geschwistern trennen. Sie bleiben im Inneren präsent und rücken näher, wenn sie Tanten und Onkel der eigenen Kinder werden. Später verbindet die gemeinsame Sorge und Pflege der Eltern, und wenn diese gestorben sind, gewähren Geschwister die engsten biografischen Verknüpfungen. Es entsteht häufig eine neue Verbundenheit.
Geschwister als Förderer sind häufig noch wenig betrachtet worden. Geschwister fördern die Sprachentwicklung und lernen voneinander durch Nachahmung und kooperatives Spiel. Sie können helfen, wenn Eltern überfordert sind und profitieren insbesondere auch in der körperlichen Entwicklung voneinander. Selbst die Gesundheit wird durch das Aufwachsen mit Geschwistern gefördert. Das betrifft die Immunabwehr ebenso wie die seelische Gesundheit. Sie lernen Konflikte alleine zu lösen, erwerben Frustrationstoleranz und entdecken sich selbst im Wettbewerb mit ihren Geschwistern. Die emotionale Entwicklung wird gefördert durch alltägliches Mitfühlen und durch die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen. Dies alles sind Fähigkeiten, die im Zusammenleben von Menschen nützlich sind.
Das Kapitel Geschwister - Geschlecht und Gender beschäftigt sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf die Geschwisterbeziehung. Schwestern untereinander entwickeln eine völlig andere Dynamik als Brüder. Die Identifikation mit demselben Geschlecht geschieht nicht nur über Vater und Mutter, sondern auch durch die gleichgeschlechtlichen Geschwister. Mädchen und Jungen entwickeln sich oft sehr unterschiedlich – in der Geschwindigkeit und in Talenten, Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen. Deshalb sind auch gemischtgeschlechtliche Geschwisterpaare interessant, weil die Nähe und Vertrautheit und die Intimität spezifische Impulse geben für den Umgang und das Verständnis der „Anderen“. Wenn die Geschlechtspartnerorientierung einsetzt, können sich Brüder und Schwestern unterstützen und dies greift auch, wenn ein Kind sich homosexuell entwickelt. Für die Geschwister kann dies leichter zu verstehen sein als für die Eltern oder den Freundeskreis. So kann es eine Ressource in der Familie geben, die in der Identitätsdiffusion der Pubertät Orientierung gibt.
Das alte Thema der Geschwisterforschung Geschwister und Geburtsrangfolge wird differenziert betrachtet. Vor dem Hintergrund, dass sich die Literatur über viele Jahre ausschließlich der Geschwisterkonstellation gewidmet hat und dies dann in der wissenschaftlichen Community sehr kontrovers diskutiert wurde, werden hier einerseits die überzufällig häufigen Charaktermerkmale von Erstgeborenen, Mittelkindern und Letztgeborenen zusammengefasst. Andererseits können psychologische Zusammenhänge aufgezeigt werden, die den Geburtsrangplatz als einen wichtigen Anteil des Selbstbildes beschreiben. Auch die Spezifika von Kindern in Mehrkindfamilien, in denen sich größere Geschwistergruppen organisieren müssen, werden besprochen.
Unterschiedliche Formen von Geschwisterschaft rücken vor allem dann in den Fokus, wenn Familien zerbrechen, Patchworkfamilien gegründet werden oder die Kinder in andere Familien aufgenommen werden. Die vielfältigen Anforderungen an Mütter, Väter und Kinder in solchen Familienkonstellationen beschäftigen nicht nur die Eltern, sondern häufig sind auch Fachkräfte der Jugendhilfe und andere Unterstützungssysteme damit befasst. Stiefgeschwister, die nicht leiblich miteinander verwandt sind, können sich als Bereicherung wahrnehmen, aber öfter kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen und Konkurrenzen. Halbgeschwister sind durch ein Elternteil miteinander verbunden und wachsen oft wie leibliche Geschwister auf. Manchmal kennen sie einander aber auch gar nicht und entdecken sich erst viel später im Leben. Bei Adoptivgeschwistern gibt es zusätzlich zur nicht leiblichen Verwandtschaft die Sehnsucht nach dem Wissen um die eigene Herkunft, und dazu gehören nicht nur die Eltern, sondern auch mögliche leibliche Geschwister. Wenn Kinder in eine Pflegefamilie aufgenommen werden, kann es da bereits leibliche Kinder geben, was zu Rivalitäten bzgl. des Platzes in der Familie führt. Außerdem wirkt sich aus, ob Geschwister zusammen in eine Pflegfamilie kommen oder durch die Inobhutnahme getrennt werden.
Eine ganz besondere Form von Geschwisterschaft ist das Leben und Aufwachsen als Zwillinge. In diesem Abschnitt werden zunächst die Spezifika dieser Geschwisterkonstellation beleuchtet; dann wird auf Unterschiede von ein- und zweieiigen Zwillingen eingegangen. Trotz der dürftigen Forschungslage zu höheren Mehrlingen wird auch das Thema Drillinge betrachtet. Auch der Verlust eines Zwillings kann für Kinder und Eltern eine prägende Erfahrung sein.
Es gibt auch Geschwister mit besonderen Bedürfnissen. Dazu gehören Kinder mit Behinderung, chronischen Erkrankungen oder lebenszeitverkürzenden schweren Krankheiten. Sowohl für diese Kinder in der Familie als auch für ihre nichtbehinderten und gesunden Geschwister entstehen besondere Schwierigkeiten im Aufwachsen und auch im Lebensverlauf. Spannend ist es auch, die Einflüsse der Geschwister auf seelische Erkrankungen und deren psychotherapeutische Behandlung in den Blick zu nehmen. Eine schwere Hypothek für die Biografie ist zudem der Tod eines Bruders oder einer Schwester. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt, die Umstände, die Situation der Familie und die Fähigkeit der Eltern an, ihre anderen Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren.
Nicht immer stehen bei Geschwistern die Liebe und Nähe, die Bereicherung und Förderung im Vordergrund. Es gibt auch Geschwister und Grenzverletzungen, die sowohl von den Eltern ausgehen können wie bei den Lieblings- und Schattenkindern als auch unter den Kindern selbst zu gefährdendem Verhalten führen können. Eine destruktive Rivalität kann das gesunde Aufwachsen behindern. Dramatischer sind zudem körperliche Gewalt und systematisches Mobbing einzelner Kinder. Zwischen inzestuösen Annäherungen und sexuellem Geschwistermissbrauch gibt es fließende Übergänge, die oft schwer zu identifizieren sind.
Eltern von Geschwistern wird sich im Buch ebenfalls gewidmet. Denn Mütter sind mit anderen Anforderungen konfrontiert als Väter; sie verhalten sich gegenüber ihren Kindern anders als die Väter. Mädchen und Jungen nähern und entfernen sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit verschiedenen Motivationen von ihren Eltern. Sie adressieren unterschiedliche Anliegen an Mutter oder Vater. Diesen familiendynamischen Wechselbewegungen wird hier nachgespürt. Eltern in kinderreichen Familien, die sich für...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie | |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik | |
Technik ► Architektur | |
Schlagworte | Familie • Geschwister • Geschwisterbeziehung • Psychosoziale Arbeit |
ISBN-10 | 3-497-61325-8 / 3497613258 |
ISBN-13 | 978-3-497-61325-0 / 9783497613250 |
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