Krebs fühlen (eBook)
540 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11589-5 (ISBN)
Bettina Hitzer studierte Geschichte, habilitierte sich und lehrt als Privatdozentin an der FU Berlin. Seit 2014 leitet sie eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Berlin), die Krankheit als Emotionsgeschichte erforscht. Ihre Arbeiten zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Migrations- und Religionsgeschichte wurden 2016 mit dem Walter-de-Gruyter-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Bettina Hitzer lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Bettina Hitzer studierte Geschichte, habilitierte sich und lehrt als Privatdozentin an der FU Berlin. Seit 2014 leitet sie eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Berlin), die Krankheit als Emotionsgeschichte erforscht. Ihre Arbeiten zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Migrations- und Religionsgeschichte wurden 2016 mit dem Walter-de-Gruyter-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Bettina Hitzer lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Kapitel 1
Gefühlsgeschichte schreiben
Mit dem Abstand von mehr als 100 Jahren blickt uns aus diesem Porträt die damals 37-jährige Valentine Godé-Darel in die Augen, festgehalten über eine längere Zeit hinweg von Ferdinand Hodler, Schweizer Symbolist und Maler des Jugendstils. 1910, als Hodler dieses Bild seiner Geliebten malte, wusste Valentine Godé-Darel noch nicht, dass sie an Unterleibskrebs erkranken würde, einer zu diesem Zeitpunkt fast immer tödlichen Krankheit. Zwei Jahre später zeigten sich jedoch die ersten Krankheitszeichen und kurz darauf bekam ihre Krankheit auch einen Namen: Krebs. Hodler, der sich bereits zuvor in seinem Werk häufig mit dem Tod auseinandergesetzt hatte, begleitete das Sterben Valentine Godé-Darels malend bis zum letzten Tag ihres Lebens am 25. Januar 1915. Mehr als 50 Ölgemälde und weit über 100 Zeichnungen dokumentieren Hodlers Blick auf seine Geliebte, viele zeigen ihren körperlichen Verfall ebenso wie ihre zunehmende Zurückgezogenheit in sich selbst, ihren Blick, der sich dem Betrachter mehr und mehr entzieht.
Dieser Zyklus als bildliches Protokoll der Jahre, in denen eine Frau mit Krebs lebte und an Krebs starb, ist einzigartig, nicht nur für seine Zeit, das frühe 20. Jahrhundert. Er öffnet ein Fenster, durch das der Betrachter aus dem Abstand eines Jahrhunderts berührt wird, durch das er auf die Unausweichlichkeit des Sterbens, auf die Zerstörung durch Krankheit und die Fähigkeit zu Leiden und Mitleiden, auf die (Un-)Möglichkeit von Nähe im Sterben blicken kann – eine zeitlose Begegnung. Daneben aber erzählen die Bilder von einem Krankheitsverlauf und einem Sterbeprozess, die eine Zeit und einen Ort haben, von den Gefühlen des Malenden und der Sterbenden, die in diese Zeit und an diesen Ort gehören.
Fast 100 Jahre später starb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. 44-jährig hatte er erfahren, dass in seinem Kopf ein bösartiger Tumor wuchs, ein Glioblastom. Mehr als drei Jahre lang protokollierte er in einem Blog, was er tat, dachte, fühlte, wie er operiert, bestrahlt und mit Medikamenten behandelt wurde, wie sein Körper und sein Geist reagierten und wie Kraft und Fähigkeiten ihn schließlich verließen. Sechs Tage, bevor er sich am 26. August 2013 in Berlin erschoss, veröffentlichte Herrndorf den letzten Eintrag auf seinem Blog, den seine Freunde nach seinem Tod unter dem Titel »Arbeit und Struktur« herausgaben.[1] Doch trotz der von ihm selbst initiierten öffentlichen Sichtbarkeit seiner Krankheit und seines Sterbens erteilte Herrndorf jedem Versuch seines Internetpublikums, mit ihm persönlich in Kontakt zu treten, eine klare Absage, erlaubte er – insofern Valentine Godé-Darel ähnlich – den Blick von außen, aber nicht die persönliche Begegnung.
Abb. 2: Selbstporträt Wolfgang Herrndorfs, gepostet unter dem Eintrag vom 12. Juni 2012
In einem seiner letzten Gedichte kreisten seine Gedanken um die Frage von Distanz und Nähe, um die grundsätzliche Unverstehbarkeit und Unteilbarkeit von Gefühl und Erfahrung im Leben und Sterben.
Niemand kommt an mich heran
bis an die Stunde meines Todes.
Und auch dann wird niemand kommen.
Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.[2]
Fühlen wir alle gleich?
Der hier angedeutete Blick auf zwei Menschen, deren Krebserkrankung und Sterben in unterschiedlicher Weise öffentlich erzählt wurde, verweist auf zwei meiner Grundannahmen. Sie geben Antwort auf zwei radikal entgegengesetzte Fragen. Zunächst: Sind die Gefühle nicht das ganz Eigene, Innere, das keinem anderen Menschen wirklich mitgeteilt werden kann, insbesondere nicht im Moment des Leidens und Sterbens als Moment der existentiellen Einsamkeit? Wie kann ich als Historikerin beanspruchen, eine Geschichte dieser weder mitteilbaren noch zu verallgemeinernden Gefühle schreiben zu wollen? – Dann: Fürchten nicht Menschen zu aller Zeit in gleicher Weise schwere Krankheiten, sei es die Pest, die Tuberkulose oder eben den Krebs? Sind es nicht die immer gleichen Gefühle der Verzweiflung, Trauer und Angst, vielleicht auch der Resignation und des Sich-Fügens, der Hoffnung und der Wut, die Menschen bewegen, wenn sie mit einer tödlichen Krankheit konfrontiert werden, einer für alle Menschen in ihrer Radikalität letztlich gleichen Herausforderung? Ist es also gerade im Hinblick auf eine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs nur das Gewand der Gefühle, das im Lauf der Geschichte ausgetauscht wird, nicht aber ihre tatsächliche Gestalt?
Als Menschen auf der Suche nach Halt und Sinn, erfüllt von dem Wunsch, berührt zu werden, lesen und betrachten wir vergangene Zeugnisse wie die Bilder der Valentine Godé-Darel, als ob wir sie unmittelbar verstehen oder doch zumindest leicht übersetzen könnten, als ob wir mit allen Menschen über die Zeit hinweg eine Art lingua franca, ein Grundvokabular der Gefühle teilten: Liebe, Angst, Verzweiflung, Trauer. Diese Annahme ist keineswegs naiv oder trivial, sondern aus ontologischer Sicht legitim. Aus historiographischer Sicht ist sie jedoch fragwürdig, denn die Vorstellung, Gefühle blieben sich in ihrer Grundsubstanz immer gleich, entpuppt sich als höchst voraussetzungsreich.
Heute sind es vor allem die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, die ihren Forschungen das Axiom einer Universalität der Gefühle zugrunde legten. Am deutlichsten kam dies in der jüngeren Vergangenheit in der Suche nach den sogenannten basic emotions, einem bestimmten Set universal gleicher Grundgefühle, zum Ausdruck.[3] Doch auch aus den Reihen der neurowissenschaftlichen Emotionsforschung wird diese Annahme zunehmend kritisiert und relativiert.[4]
Der ganz andere Blick – Gefühle und Geschichte
Aus Sicht der Emotionsgeschichte sind Gefühle zunächst einmal das, was Menschen als Gefühl beschreiben und erleben.[5] Gefühle haben immer eine körperliche Entsprechung, da Nervenreizungen, Synapsenverbindungen ebenso wie biochemische Vorgänge das Fühlen begleiten. Doch gerade mit Blick auf die damit in vielem verwandte Schmerzforschung wird deutlich, dass die Relevanz, Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit durch den Blick auf das körperlich Nachweisbare allein nicht zu erfassen sind.[6] Die Schmerzforschung ist konfrontiert mit Phänomenen wie dem Phantomschmerz, dem chronischen Schmerz ohne erkennbare Ursache, dem nicht gefühlten Schmerz des Soldaten in der Kampfsituation sowie der Möglichkeit der mentalen Schmerzregulation. Dementsprechend ringt sie seit langem mit dem Problem, dass Schmerz zwar zweifellos an den Körper gebunden ist, dennoch aber selbst bei ähnlichem körperlichen Befund vollkommen unterschiedlich empfunden werden kann.
Wenn die Emotionsgeschichte Gefühl nicht als feststehende analytische Kategorie versteht, so wie es die Sozialgeschichte etwa mit dem Begriff der Klasse vorgeführt hat, muss sie ihren Gegenstand anders bestimmen. Die Alternative könnte lauten, nach den jeweiligen historischen Begrifflichkeiten Ausschau zu halten und deren Bedeutungen und Verwendungsweisen im Sinne der Historischen Semantik als Gegenstand zu definieren: Gefühl ist immer das, was die Menschen als solches empfunden und benannt haben. Mit einer solchen, aus den Quellen herausgelesenen Definition des Gefühls und der Gefühle kann das Gefühl ebenso wie einzelne Gefühle dann auch dort aufgefunden werden, wo der Begriff selber fehlt. Ebenso können historische Bedeutungsverschiebungen von Gefühlsbegriffen nachvollzogen werden.
Doch stößt dieses Vorgehen immer dann an...
Erscheint lt. Verlag | 21.1.2020 |
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Zusatzinfo | mit zahlreichen sw-Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Allgemeines / Lexika |
Technik | |
Schlagworte | Arzt und Patient • Emotionen und Geschichte • Emotion und Überemotionalisierung • Forschungsgeschichte der Medizin • Krebs • Krebsdiagnose • Krebsforschung • Krebsheilung • Medizin • Medizingeschichte |
ISBN-10 | 3-608-11589-7 / 3608115897 |
ISBN-13 | 978-3-608-11589-5 / 9783608115895 |
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