Das Weltbild des Kindes (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 1) (eBook)
448 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10680-0 (ISBN)
Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf
Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.
EINLEITUNG
DIE PROBLEME UND
DIE METHODEN
Das Problem, das wir hier untersuchen wollen, ist eines der wichtigsten, aber auch eines der schwierigsten der Kinderpsychologie. Welche Vorstellungen haben die Kinder in den verschiedenen Stadien ihrer intellektuellen Entwicklung spontan von der Welt? Das Problem hat zwei wesentliche Aspekte. Zuerst muss die Frage nach der Modalität des kindlichen Denkens gestellt werden: Auf welchen Wirklichkeitsebenen bewegt sich dieses Denken? Mit anderen Worten, glaubt das Kind, wie wir Erwachsenen, an eine wirkliche Welt, und macht es einen Unterschied zwischen diesem Glauben und den verschiedenen Fiktionen seines Spiels und seiner Einbildungskraft? In welchem Maß unterscheidet das Kind zwischen der äußeren und einer inneren oder subjektiven Welt, wie zieht es eine Grenze zwischen dem Ich und der objektiven Wirklichkeit? Alle diese Fragen bilden einen ersten Problemkreis, den der Wirklichkeit beim Kind.
Eine zweite grundlegende Frage hängt unmittelbar mit dieser ersten zusammen, die der Erklärung beim Kind. Wie gebraucht das Kind die Begriffe »Ursache« und »Gesetzmäßigkeit«? Welche Struktur hat die kindliche Kausalität? Man hat die Erklärung bei Naturvölkern und in den Naturwissenschaften untersucht, man hat sich mit den verschiedenen philosophischen Erklärungstypen befasst. Wartet das Kind mit einem eigenen Erklärungstyp auf? Alle diese Fragen stellen einen zweiten Problemkreis dar, den der kindlichen Kausalität. Mit der Realität und der Kausalität beim Kind setzen wir uns in diesem Buch (und in einer weiteren Publikation über die physikalische Kausalität beim Kind) auseinander. Es geht somit um eine ganz andere Problemstellung als diejenige, die wir in einer bereits publizierten Untersuchung (Piaget 1923 [LP]; 1924 [JR]) erforscht haben. Während wir dort die Form und das Funktionieren des kindlichen Denkens analysiert haben, befassen wir uns hier mit seinem Inhalt. Die beiden Fragenkomplexe hängen eng miteinander zusammen, sie lassen sich aber ohne allzu große Willkür voneinander trennen. Die Form und das Funktionieren des Denkens kann man immer dann aufklären, wenn das Kind mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen in Berührung kommt. Es sind soziale Verhaltensweisen, die von außen beobachtet werden können. Der Inhalt hingegen kann sichtbar werden oder unsichtbar bleiben, je nach Kind und je nach dem Objekt seiner Vorstellung. Er ist ein System von inneren Überzeugungen, die nur mit einer speziellen Technik aufgedeckt werden können. Er ist vor allem ein System von Tendenzen, von geistigen Haltungen, deren sich das Kind selbst nie bewusst geworden ist und von denen es nie gesprochen hat.
Wir kommen deshalb nicht darum herum, uns zuerst und vor allem anderen über die Methoden zu verständigen, die wir bei der Untersuchung solcher kindlicher Überzeugungen anwenden wollen. Damit man die Logik der Kinder beurteilen kann, muss man oft nur mit ihnen sprechen oder man muss sie nur beim Umgang mit anderen Kindern beobachten. Ihre Überzeugungen lassen sich jedoch nur mit einer speziellen Methode beurteilen, die, das sei von Anfang an festgehalten, schwierig und mühsam ist und einen durch mindestens ein oder zwei Jahre Erfahrung geschulten Blick voraussetzt. Psychiater mit klinischer Erfahrung sehen sofort ein weshalb. Um den wahren Wert irgendeiner kindlichen Aussage beurteilen zu können, muss man peinlich genaue Vorsichtsmaßnahmen treffen. Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen möchten wir zuerst einige Worte sagen, denn der Leser, der sie nicht kennt, könnte den Sinn der folgenden Seiten völlig missverstehen und die Versuche, die wir durchgeführt haben, verfälschen, falls er sich, was wir erhoffen, dazu entschließt, sie selbst noch einmal auszuführen und zu überprüfen.
1. Die Testmethode, die reine Beobachtung und die klinische Methode
Eine erste Methode, die man anzuwenden versucht sein könnte, um das zur Diskussion stehende Problem zu lösen, sind die Tests. Die Kinder werden organisierten Prüfungen unterzogen, die zwei Bedingungen genügen müssen. Es wird allen Kindern die gleiche Frage unter gleichen Voraussetzungen gestellt; die Antworten der Kinder werden auf ein Stufenmodell oder eine Skala bezogen, die einen qualitativen Vergleich ermöglicht. Die Methode hat für eine individuelle Diagnose unzweifelhaft Vorteile. Die Statistiken, die man auf diese Weise erhält, geben für die allgemeine Psychologie oft nützliche Aufschlüsse. In Bezug auf die Probleme, mit denen wir uns hier befassen, kann man jedoch den Tests zwei erhebliche Mängel vorwerfen. Eine zureichende Analyse der Ergebnisse ist zunächst nicht möglich. Wenn man dauernd unter identischen Bedingungen arbeitet, erhält man ein Rohergebnis, das für die Praxis interessant sein mag, das aber oft für die Theorie unbrauchbar ist, weil der Kontext nicht ausreicht. Das ist noch nicht sehr schwerwiegend, denn man könnte sich vorstellen, dass sich die Tests durch eine entsprechende geistige Anstrengung so lange abwandeln lassen, bis sie alle Komponenten einer bestimmten psychologischen Haltung aufdecken. Der Hauptmangel des Tests bei den Untersuchungen, mit denen wir uns befassen, besteht jedoch darin, dass die geistige Orientierung des befragten Kindes verfälscht wird oder mindestens verfälscht werden könnte. Wir wollen beispielsweise herausfinden, wie sich das Kind die Bewegung der Gestirne vorstellt. Wir stellen die Frage: »Weshalb bewegt sich die Sonne?« Das Kind wird etwa antworten: »Der liebe Gott stößt sie« oder »Der Wind stößt sie« usw. Das sind zwar Vorstellungen, deren Kenntnis nicht unwesentlich ist, auch wenn sie auf kindliche Fabulierlust zurückzuführen sind, denn Kinder neigen dazu, Mythen zu erfinden, wenn sie durch eine bestimmte Frage in Verlegenheit gebracht werden. Wenn man aber Kinder jeden Alters auf diese Weise getestet hat, ist man immer noch gleich weit wie vorher, denn es ist durchaus möglich, dass sich das Kind diese Frage noch nie in dieser Weise gestellt hat oder dass es sie sich überhaupt noch nie gestellt hat. Es kann durchaus sein, dass sich das Kind die Sonne als ein Lebewesen vorstellt, das sich von selbst bewegt. Mit der Frage: »Weshalb bewegt sich die Sonne?« suggeriert man die Vorstellung eines äußeren Wirkens und provoziert eine Mythenbildung. Mit der Frage: »Wie bewegt sich die Sonne?« suggeriert man möglicherweise im Gegenteil eine Beschäftigung mit dem »Wie«, um das sich das Kind bisher gar nicht gekümmert hatte, und man provoziert neue Mythen: »Die Sonne bewegt sich durch Blasen«, »mit der Wärme«, »sie rollt« usw. Es gibt nur ein Mittel, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, nämlich die Fragen abwandeln, Gegenvorschläge vorbringen, mit einem Wort, auf jeden fixen Fragebogen verzichten.
Bei Geisteskrankheiten stellt sich das Problem genau gleich. Ein Patient mit Dementia praecox kann sich in bestimmten Augenblicken durchaus daran erinnern, wer sein Vater ist, obwohl er üblicherweise seine Abstammung auf berühmtere Vorfahren zurückführt. Das eigentliche Problem ist aber, wie sich ihm die Frage in seinem Geist gestellt hat und ob sie sich gestellt hat. Die Kunst des Klinikers besteht nicht darin, dass er seinen Patienten dazu bringt zu antworten, sondern dass er ihn dazu bringt, frei zu sprechen, dass er die spontanen Tendenzen entdeckt und sie nicht in eine bestimmte Richtung leitet und kanalisiert. Er stellt jedes Symptom in einen geistigen Kontext hinein und abstrahiert nicht von diesem Kontext.
Kurz, Tests sind in verschiedener Hinsicht nützlich. Bei unserem Vorhaben besteht aber die Gefahr, dass sie die Perspektive verzerren, indem sie den kindlichen Geist in eine falsche Richtung lenken. Sie gehen möglicherweise an wesentlichen Fragen, an spontanen Interessen und ganz ursprünglichen Vorstellungen vorbei.
Wir wollen deshalb auf die reine Beobachtung zurückgreifen. Jede Untersuchung des kindlichen Denkens muss von der Beobachtung ausgehen und zur Beobachtung zurückkehren, um die Experimente, die sich vielleicht an ihr inspiriert haben, kritisch zu überprüfen. Bei den Problemen, mit denen sich diese Untersuchung befasst, bietet die Beobachtung eine erstrangige Informationsquelle an, nämlich das Studium der spontanen Fragen der Kinder. Die detaillierte Prüfung des Inhalts dieser Fragen gibt Aufschluss über die Interessen der Kinder auf den verschiedenen Altersstufen, und sie deckt viele Probleme auf, die sich dem Kind stellen, an die wir nie gedacht oder die sich uns nie in dieser Form gestellt hätten. Die Untersuchung der Form solcher Fragen zeigt vor allem auch, auf welche Lösungen die Kinder implizit kommen, denn fast jede Frage enthält in der Art, wie sie gestellt wird, bereits die Antwort. Wenn etwa ein Kind sich fragt: »Wer macht die Sonne?«, kommt darin offenbar die Meinung zum Ausdruck, die Sonne sei auf irgendeine herstellende Aktivität zurückzuführen. Oder wenn ein Kind fragt, weshalb es den Salève1 zweimal, nämlich den großen und den kleinen, das Matterhorn aber nur einmal gebe, scheint das darauf hinzuweisen, dass es glaubt, die Berge seien einem Plan gemäß angeordnet, der jeden Zufall ausschließe.
Damit können wir für unsere Methode eine erste Regel aufstellen. Will man bestimmte kindliche Erklärungen untersuchen, muss man, damit die Arbeit etwas einbringt, von spontanen Fragen ausgehen, die gleich alte oder jüngere Kinder gestellt haben, und für die Fragen, die man den als Prüflingen ausgewählten Kindern stellen will, dieselbe kindgemäße Form wählen. Falls man aus den Ergebnissen einer solchen Untersuchung Schlussfolgerungen ziehen will, muss man insbesondere nach einem Gegenbeweis suchen, indem man diese spontanen Fragen der Kinder studiert....
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2015 |
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Zusatzinfo | mit Register |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Technik | |
Schlagworte | Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-608-10680-4 / 3608106804 |
ISBN-13 | 978-3-608-10680-0 / 9783608106800 |
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