Warum Latein?
Reclam, Philipp (Verlag)
978-3-15-018565-0 (ISBN)
- Titel erscheint in neuer Auflage
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Friedrich Maier, geb. 1935, ist Professor em. für Didaktik der Alten Sprachen an der Humboldt-Universität Berlin.
Interview mit Friedrich Maier
Der Lateinunterricht erlebt derzeit eine Renaissance. Überrascht Sie diese Entwicklung?
Dass der Lateinunterricht zur Zeit in Deutschland einen enormen Zulauf hat, ist so überraschend auch wieder nicht. Zwar hat sich das Fach im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts gegen starke Angriffe von Seiten der Öffentlichkeit und der Schulpolitik wehren müssen - ich war als langjähriger Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes damit unmittelbar konfrontiert -, doch hat die innere Erneuerung des Faches seine Ablehnung größtenteils ins Gegenteil verkehrt. Dazu trug gewiss auch die allgemeine Verunsicherung in Bildungsplanung und Schulorganisation bei. Man sah und sieht offensichtlich im Fach Latein einen stabilisierenden Faktor innerhalb des Gymnasiums. Latein gilt wie Mathematik als gymnasiales Basisfach. Die Zahl derer, die pro Jahr das Fach lernen, ist zwischen 1996 und 2008 von ca. 600.000 auf weit über 800.000 gestiegen. Eine von mir 2005/06 durchgeführte Repräsentativuntersuchung über die Elternerwartungen bezüglich des Faches Latein hat ergeben, dass nahezu die Hälfte aller Eltern für ihr Kind bewusst eine Lateinschule ausgesucht haben; doch auch die andere Hälfte erwartete von Latein recht wichtige Bildungseffekte. Es scheint so, als würde man gerade im G8 auf Latein wegen seiner fächerübergreifenden und fächerverbindenden Wirkungen nicht verzichten wollen.
Dass Latein als "Reflexionssprache" gilt, wurde dem Fach gern zum Vorwurf gemacht. Aber gerade der Reflexionscharakter des lateinischen Sprachunterrichts ist auch seine Stärke...
Der Reflexionscharakter des lateinischen Sprachunterrichts ist in der Tat seine Stärke. Gerade darauf setzten die Eltern, wie die angezeigte Untersuchung nachdrücklich erkennen lässt. Dem Fachangebot "Erhöhung des Sprachverständnisses" ist nämlich die Priorität eingeräumt worden. Demnach gilt Latein für die meisten als "Modell von Sprache", an dem sowohl der systematische Aufbau der Sprache als auch das Funktionieren von Sprache als Verständigungsmittel nachhaltig studiert werden kann (Was freilich im Kern nur auf die Sprachen Europas und der westlichen Welt zutrifft). Im Reflexionscharakter von Latein ist größtenteils auch seine Transferleistung begründet. Dass Latein die muttersprachliche Kompetenz fördert, wird heute kaum weniger bezweifelt als seine Brückenfunktion zu den modernen, besonders den romanischen Sprachen. Zudem trainiert das gewiss anstrengende und stets geforderte Nachdenken über Sprachstrukturen, Sätze und Satzperioden das Gehirn. Man hat Latein deshalb als "Trimm-dich-Pfad des Geistes" bezeichnet. Die dabei geschulten Fähigkeiten des mikroskopischen Beobachtens, des geduldigen und beharrlichen Analysierens und Kombinierens, des Überprüfens der logischen Stimmigkeit des jeweils Übersetzen sind Sekundärtugenden, die fast für alle Universitätsstudien die Voraussetzung bilden.
Als Argument für den Lateinunterricht wird auch die kulturelle Bildung angeführt.
Latein gilt seit langem auch als kulturelles Basisfach des Gymnasiums. Gerade mit dem Blick auf das sich mühsam vereinigende Europa kommt dem Lateinunterricht eine grundlegende Bedeutung zu. Kein anderes Fach (auch nicht Geschichte) kann die jungen Menschen so authentisch mit den geistigen Wurzeln unseres Kulturkreises konfrontieren wie Latein. Alle Lehrpläne machen es den Lehrern mit Recht zur Aufgabe, am Inhalt der sorgsam ausgewählten Originaltexte die Lernenden zur Auseinandersetzung mit den "Entdeckungen" der Antike herauszufordern. Das beginnt in Ansätzen bereits in den modernen Sprachlehrbüchern und rückt in der Lektürephase in das Zentrum des Unterrichts. Das Übersetzen eines Textes soll wohlgeplant jeweils in die Interpretation seines Inhalts übergehen. Dabei wird zunehmend auch das Fortwirken der Antike, die sog. Rezeption in Wort, Bild und Musik, berücksichtigt. Diese kulturelle Dimension des Lateinunterrichts wird von den Eltern gleichfalls sehr geschätzt. In deren durch Befragung gewonnenem Votum erhielt sie die Bewertung "recht wichtig".
1. Was ist Latein?
1.1 Latein - Basissprache Europas
1.2 Latein - Wieder im Aufwind
1.3 Latein - Was Eltern erwarten
1.4 Latein - Gymnasialfach par excellence
1.4.1 Sprachbildung und "Menschwerdung"
1.4.2 "Weltkulturerbe" und gymnasialer Bildungsauftrag
2. Warum Latein? Zehn gute Gründe
2.1 Latein - Königsweg zu vertieftem Sprachverständnis
2.2 Latein - Trainingsfeld für die Muttersprache
2.3 Latein - "Trimm-dich-Pfad" des Geistes
2.4 Latein - Brücke zu modernen Fremdsprachen
2.5 Latein - Labor zur Analyse einer "hinterlistigen" Rhetorik
2.6 Latein - Fahrstuhl zu den Wurzeln Europas
2.7 Latein - Schatzkammer europäischer Sprachbilder
2.8 Latein - Studierstube für europäische Grundtexte
2.9 Latein - Treffpunkt mit Menschen, die die Welt veränderten
2.10 Latein - Zugang zu den Quellen von Dichtkunst und Philosophie
3. Zu guter Letzt: Latein und Latinum als Studienvoraussetzung
Literaturhinweise
1.1 Latein - Basissprache Europas
Die lateinische Sprache ist insofern "tot", als sie nicht mehr die natürliche Sprache einer lebenden Nation ist. Sie ist mit den Römern untergegangen. Deren Sprache war sie über mehr als 1000 Jahre. Je weiter dieses Volk von seinem Ursprungsland Latium und von dessen Hauptstadt Rom aus sein Imperium ausdehnte, um so mehr verbreitete sich auch seine Sprache: das Lateinische. Zuerst in ganz Italien, dann nach den Siegen über die Karthager (im 3./2. Jh. v.Chr.) in Sizilien und Nordafrika, schließlich nach erfolgreichen Kämpfen im Osten auch in Griechenland und Asien.
In den überall entstehenden Provinzen wurde die Sprache der Römer zur Verwaltungssprache, auch zur Verkehrssprache. Nur dort, wo die griechische Zivilisation festen Boden gewonnen hatte, blieb Griechisch die "Gemeinsprache" (griech. 'Koiné') zur Verständigung. Nach der Eroberung Galliens durch Caesar in der 2. Hälfte des 1. Jh.s v.Chr. gewann Latein auch nördlich der Alpen an Bedeutung. Unter Augustus, der bereits über weite Teile der damals bekannten Welt herrschte, wurde Latein zur Weltsprache. Seine weiteste Verbreitung erlebte es unter Kaiser Trajan zu Beginn des 2. Jh.s n. Chr., da unter ihm das 'Imperium Romanum', auf drei Kontinenten fest gegründet, seine größte Ausdehnung erreichte.
Allenthalben nämlich - mit Ausnahme des griechisch zivilisierten Ostens - war man eifrig bemüht, die Sprache des Herrschervolkes anzunehmen. Mit dem Ende des römischen Weltreiches im 5. Jh. n.Chr. verlor auch die Sprache der Römer zwangsläufig an Bedeutung. Das Latein verflachte, ja verkam gewissermaßen in den Wirren der Völkerwanderung; es wurde zur Sprache des kleinen Mannes. Als sogenanntes Vulgärlatein unterlag die lateinische Sprache vielfachen regional beschränkten Veränderungen, und zwar so stark, dass sich daraus mehrere Nationalsprachen entwickeln konnten. Ihr linguistischer Tod bedeutete jedoch nicht ihr sozusagen "geistig politisches" Ende. Latein lebte weiter.
Nach seinem Untergang als natürliche Sprache verfestigte sich Latein zu einer Art Kunstsprache oder richtiger: zu einer standardisierten Bildungssprache. Das "tote", d.h. unveränderliche Latein wurde - im Laufe mehrerer Phasen der kulturellen Renaissance in Europa - zur Sprache der Denker (und in Maßen auch der Dichter). Es wurde als "Zweitsprache" gerettet (W. Stroh, 2007, 143ff.). Des Lateinischen bedienten sich vor allem die Juristen, Theologen, Philosophen und Mathematiker. Latein blieb von da an die Basissprache Europas.
Es wurde zur Sprache der Kirche, der Wissenschaft, auch der internationalen Diplomatie. Es bekam in den Klöstern und bischöflichen Residenzen, an den Universitäten und in den kaiserlichen Kanzleien einen weiten und mächtigen Geltungsraum. Die Bibel, seit Langem (4. Jh. n.Chr.) vom gelehrten Mönch Hieronymus in eine "allgemein verbreitete" lateinische Fassung ('Vulgata') gebracht, avancierte allmählich zum meistverbreiteten Buch. Den Ordensregeln des hl. Benedikt verlieh ihre lateinische Fassung universale Bekanntheit.
In Latein erfuhr das staunende Europa vom neu entdeckten Kontinent, den man später Amerika nannte; Christoph Columbus schrieb nämlich auf der Fahrt in die "Neue Welt" seine Tagebücher in lateinischer Sprache. Auf dem Frankfurter Türkentag 1454 hielt Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., seine berühmte Rede, mit der er nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken vor dem drohenden Unheil aus dem Osten für Europa, "unser Vaterland" ('patria nostra'), warnte, in Latein. Die folgenreiche Entdeckung, dass die Erde sich um die Sonne dreht, wurde von Nikolaus Kopernikus der schockierten Elite in Kirche und Wissenschaft auf Lateinisch mitgeteilt. Den berühmten Eid des Griechen Hippokrates leisteten die Ärzte in Europa über 400 Jahre lang in der lateinischen Übersetzung eines gewissen Ianus Cornarius.
All dies war sicher auch der Grund dafür, warum die "Königin der Sprachen"
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2008 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek ; 18565 |
Sprache | deutsch |
Gewicht | 43 g |
Einbandart | kartoniert |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Latein • Taschenbuch / Pädagogik/Allgemeines, Lexika • TB/Pädagogik/Allgemeines, Lexika |
ISBN-10 | 3-15-018565-3 / 3150185653 |
ISBN-13 | 978-3-15-018565-0 / 9783150185650 |
Zustand | Neuware |
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