Entwicklungsstörungen im Kleinkind- und Vorschulalter (eBook)
260 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61946-7 (ISBN)
Dr. Friedrich Voigt, Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, war viele Jahre leitender Psychologe im kbo-Kinderzentrum München.
2Diagnostische Ebenen in der Frühdiagnostik
Ziel der Früherkennung von Entwicklungsstörungen ist es, frühzeitig Auffälligkeiten der Entwicklung zu erkennen, mögliche Ursachen abzuklären und Fördermaßnahmen einzuleiten. In der Literatur finden sich Angaben zwischen 12 bis 16% für den Anteil der Kinder mit Entwicklungsstörungen im Vorschulalter und beginnenden Schulalter (Boyle et al. 2011, Li et al. 2023). Gleichzeitig geht man in verschiedenen Studien davon aus, dass nur zwischen 30 und 50% dieser Kinder bis zum Schuleintritt eine eindeutige Diagnosestellung erhalten (Morelli et al. 2014, Boulton et al. 2023). Das Dilemma verstärkt sich, weil eine enge Wechselbeziehung mit dem sozialen Status, niedrigem Einkommen und familiären Belastungsfaktoren zu beobachten ist (Emerson 2012, Lampert / Richter 2013). Familiäre Belastungsfaktoren können sich zudem auf den Verlauf und den Schweregrad einer Entwicklungsstörung auswirken. Obwohl die Wirksamkeit von Frühfördermaßnahmen für Kinder aus diesen sozialen Risikolagen mehrfach nachgewiesen wurde (Guralnick 2018), führt die späte Diagnosestellung dazu, dass nur ein Teil dieser Kinder vor Schuleintritt eine systematische Frühförderung erhält.
2.1Entscheidungsschritte in der Frühdiagnostik
Für die Organisation der Früherkennung wird ein abgestuftes Vorgehen empfohlen. In den USA wurde eine Systematik für das Screening und die weiterführende diagnostische Abklärung von frühen Entwicklungsstörungen bereits 2006 veröffentlicht (Council on Children with Disabilities 2006, aktualisiert Lipkin et al. 2020). In Deutschland wurde eine aktuelle Systematik über eine Arbeitsgruppe verschiedener pädiatrischer Gesellschaften (IVAN-I) (Interdisziplinäre Verbände übergreifende Arbeitsgruppe Entwicklungsdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP) zur Behandlung von Entwicklungsauffälligkeiten in Praxis, Klinik und im sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) erstellt (Schmid et al. 2016).
Die Grundidee dieser Diagnoseschemas ist es, das diagnostische Vorgehen übersichtlich zu planen, um die verfügbaren fachlichen und zeitlichen Ressourcen optimal zu nutzen. In der kinderärztlichen Praxis und im öffentlichen Gesundheitsdienst werden auf der ersten Ebene Möglichkeiten für das Screening von Entwicklungsauffälligkeiten zusammengestellt. Ziel der Vorsorgeuntersuchungen in der kinderärztlichen Praxis ist die zuverlässige Identifikation von Entwicklungsauffälligkeiten, die Beratung der Eltern zur Alltagsförderung und die Entscheidung über weitere Maßnahmen auf der Ebene von Diagnostik und Therapie. In der kinderärztlichen Praxis stützt sich das Screening für frühe Entwicklungsstörungen auf Informationen aus der Anamnese und dem bisherigen Entwicklungsverlauf und die Bewertung von Meilensteinen der Entwicklung für die jeweilige Altersstufe. Das Schema zur Screeninguntersuchung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen in kinderärztlichen Praxen im Kleinkind- und Vorschulalter (U1-U9) folgt dem Konzept des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA 2020). Im Untersuchungsheft sind wesentliche Entwicklungsthemen und Meilensteine der Entwicklung aufgeführt, die im Rahmen der Screeninguntersuchung bewertet werden. Zusätzlich wird ein Elternfragebogen eingesetzt.
Mit der zweiten Ebene – der Basisdiagnostik – versucht man, in diesem System eine weitere Entscheidungsebene einzuführen. Die Früherkennung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen führt nicht immer zu einer aussagekräftigen Bewertung. Vor allem um die Indikation für eine Therapie zu prüfen, versucht man deshalb, anhand ausgewählter standardisierter Verfahren ein genaueres Bild der kindlichen Entwicklung zu bekommen. Der zeitliche Aufwand für diese Verfahren soll im Bereich von 20 bis 40 Minuten liegen, erfordert also eine Auswahl von Entwicklungsfunktionen und Bereichen.
Bestandteile der Basisdiagnostik sind nach der Darstellung des IVAN-Papiers eine ausführliche Anamnese, eine entwicklungsdiagnostische Basisuntersuchung und eine Bewertung der emotionalen Entwicklung und der Verhaltensregulation, der Interaktion und des Spielverhaltens. Zur Früherkennung von Risikofaktoren im sozialen Umfeld versucht man, eine Reihe von red flags zu definieren, die eine Zuweisung an die nächsthöhere Betreuungsebene begründen (Schmid et al. 2016). Eine Basisdiagnostik kann in der kinderärztlichen Praxis stattfinden, teilweise findet sie aber auch in den sozialpädiatrischen Zentren als Eingangsuntersuchung zur ersten Abklärung statt.
Für die Basisdiagnostik wurden eine Reihe von entwicklungsdiagnostischen Verfahren für die einzelnen Altersstufen empfohlen (Tab. 3).
Tab. 3: IVAN-Stufenkonzept – Empfehlungen von Testverfahren für das Screening und die Basisdiagnostik im Kleinkind und Vorschulalter (Stand 2022)
Empfohlene Testverfahren für die Altersspanne |
Entwicklungsbereich | 6 bis 12 Monate | 3 bis 4 Jahre | 5 bis 6 Jahren |
Globale Entwicklung / Kognition | MFED 1. Lj / MFED 2-3. Lj. ET6-6-R | ET6-6-R BUEVA-III (ab 4;0 Jahre) | ET6-6-R BUEVA-III |
Sprache | FRAKIS-K ergänzend ET6-6-R MFED 2-3. Lj. | SBE-3-KT (3;0 Jahre) HASE (ab 4;0 Jahre) BUEVA-III (ab 4;0 Jahre) | HASE BUEVA-III |
Motorik | ET6-6-R MFED2-3. Lj. | ET6-6-R | ET6-6-R |
Emotionale und soziale Entwicklung | ET6-6-R | ET6-6-R MEF | ET6-6-R MEF |
Eine Übersicht der Testverfahren und der aufgeführten Abkürzungen findet sich in der Tab. 28 im Kapitel 12.
Dabei ist auch bei der Verwendung von Verfahren zur Basisdiagnostik kritisch zu betrachten, wieviel Routine die untersuchende Person bei der Anwendung der einzelnen Untersuchungsschritte hat. Da die Verfahren der Basisdiagnostik oft an geschulte medizinische Fachangestellte in der Praxis delegiert werden, muss immer wieder überprüft werden, wie gut die methodischen Kenntnisse sind und wie zuverlässig die Anwendungen des Verfahrens erfolgen. Auch bei diesen Methoden sind für die Entscheidungsfindung die klinische Expertise, vertiefte Kenntnisse über die Differentialdiagnostik und ein sorgfältiger Blick auf die aktuelle Entscheidungssituation wichtig. Entwicklungsbewertungen wirken oft als Momentaufnahme, wichtig ist aber vor allem, den Verlauf der Entwicklung in den letzten Monaten und mögliche wirksame Anpassungsprozesse zu verstehen. Dies entscheidet mit über die Treffsicherheit der vorläufigen diagnostischen Zuordnung.
Prinzipiell verbessert die Verwendung standardisierter Beobachtungen die Treffsicherheit der Entscheidungsstrategien (Glascoe 2005). Im deutschsprachigen Raum stehen nur für einzelne Altersstufen zufriedenstellende Methoden für diese Basisdiagnostik zur Verfügung, einige der aufgeführten Methoden müssten überarbeitet oder aktualisiert werden. Die Verfahren eignen sich nur zu einer vorläufigen Diagnosestellung.
Die Angaben zur Sensitivität und Spezifität der aufgeführten Methoden sind nur teilweise zufriedenstellend, vor allem wenn man an Entwicklungsstörungen mit niedriger Prävalenz denkt. Nach wie vor werden globale Störungen mit niedriger Prävalenz relativ spät erfasst, z. B. Kinder mit globalen Entwicklungsstörungen etwa beim fragilen X-Syndrom (Bailey et al. 2009) oder Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (Sheldrick et al. 2017).
Die Feststellung einer Störung wird auf den Prozentrangwert < 10 in den einzelnen Entwicklungsskalen bezogen. Die verfügbaren Verfahren bilden allerdings einzelne Symptombereiche nicht ausreichend ab (z. B. bei Sprachentwicklungsstörungen). Dies erschwert eine genau Einstufung.
Mit der mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik, die als Aufgabe den sozialpädiatrischen Zentren zugeordnet ist, versucht man, sich über mehrere Ebenen der Entwicklung eines Kindes und die möglichen Einflussfaktoren einen Überblick zu verschaffen. Weitere Facheinrichtungen mit Spezialisierung in der Entwicklungspädiatrie und Kinderpsychiatrie lassen sich in diese Systematik sicherlich miteinordnen.
Die mehrdimensionale Bereichsdiagnostik in der Sozialpädiatrie umfasst eine Prüfung von Entwicklung / Intelligenz (E) durch eine psychometrisch-klinische Diagnostik, die Erfassung des körperlich-neurologischen Befundes (K) durch eine pädiatrisch-neuropädiatrische Untersuchung, die Erhebung des psychischen Befundes (P) durch eine ärztliche...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-497-61946-9 / 3497619469 |
ISBN-13 | 978-3-497-61946-7 / 9783497619467 |
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