Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! (eBook)

Vom Ende der Dienstleistungsgesellschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Verlag Die Werkstatt
978-3-89684-718-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! -  Reimer Gronemeyer
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1.Die Dienstleistungsgesellschaft zerfällt vor unseren Augen. Sie funktioniert nicht mehr. Warum passiert das? Und wie kommen wir da wieder raus? 2.Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen zerbröseln. Sie werden depressiv; sind erschöpft, ängstlich, krank oder mutlos. Was fehlt ihnen? 3.Wie hängt das zusammen? Hat die perfekte Dienstleistungsgesellschaft uns entmündigt und kraftlos gemacht? Ist also endlich Schluss mit dem zunehmenden Konsum von Profiangeboten? Laufen wir vielleicht ohne die Krücken besser? 4.Die Erde wird immer heißer, die Gesellschaft wird immer kälter. Wollen wir sozial erfrieren? Die Profis stehen nicht mehr zur Verfügung, sie werden uns nicht mehr pampern. Werden wir erwachsen und sehen uns um: Wir können selbst mehr als wir ahnen. Nehmen wir die Chance wahr. 5.Entziehen wir uns der Herrschaft der Spezialisten, die sowieso nicht mehr kommen. Probieren wir die neuen Freiheiten aus.

Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, ist emeritierter Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Demenz und Hospiz sowie mit dem subsaharischen Afrika. In diesen beiden Feldern ist er auch in mehreren Ehrenämtern aktiv und zudem regelmäßig publizistisch tätig.

Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, ist emeritierter Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Demenz und Hospiz sowie mit dem subsaharischen Afrika. In diesen beiden Feldern ist er auch in mehreren Ehrenämtern aktiv und zudem regelmäßig publizistisch tätig.

Panikattacke
Ein Kurzbesuch in der Dienstleistungsgesellschaft


„Es donnert in den Kitas!“

„Wir können sagen, dass das System auf den Kollaps zugeht“, sagt Katharina Raschdorf, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi. Sie sagt es im Blick auf die Zustände in sächsischen Kindertagesstätten.2 Sachsens Personalschlüssel ist im Keller: Im bundesweiten Vergleich findet sich Sachsen auf dem vorletzten Platz. In der Krippe liegt er bei 5,2, im Kindergarten bei 11,5 Kindern pro Erzieher oder Erzieherin. Es sei nicht möglich, sich einmal mit drei Kindern hinzusetzen, um eine Geschichte vorzulesen, klagt eine Kita-Mitarbeiterin. Wenn jemand wegen Krankheit oder Urlaub fehlt, ist die Belastungsgrenze für die Betreuenden schnell erreicht. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt einen Betreuungsschlüssel von eins zu drei in der Krippe, von 1 zu 7,5 im Kindergarten. Aus dem Kultusministerium heißt es: Eine solche Aufstockung würde für Krippen fast 400 Millionen Euro kosten und 6.800 neue Vollzeitstellen bedeuten. Das Geld dafür sei nicht da und das Personal sowieso nicht. Und so beschränkt sich die Tätigkeit der Kinderbetreuung auf die Wahrung der Aufsichtspflicht. Bildungsimpulse zu setzen – die vorgesehen sind –, das ist nahezu ausgeschlossen. Eine Mitarbeiterin sagt, sie kenne niemanden, der momentan zufrieden sei. Deshalb verlassen viele den Beruf vor der Rente: „Wir unterhalten uns häufig darüber: Schaffe ich das noch 35 Jahre mit dieser krassen Belastung?“ Und die Erzieherin aus Leipzig ergänzt: „Meiner Meinung nach fehlt ein großer gesellschaftlicher Aufschrei.“3

Der große gesellschaftliche Aufschrei fehlt, aber wenn man Fledermausohren hätte, könnte man hören, dass in der Bundesrepublik unablässig ein Aufschrei in Zimmerlautstärke stattfindet. Über Kitas. Über Schulen. Über Ärzte. Über Krankenhäuser. Über Handwerker. Über Sparkassen. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden – und das Personal gibt es auch nicht. Was passiert da? Ein Flüstern, ein Mosern, ein Meckern, ein Klagen erfüllt die Luft. Man könnte denken, die Gesellschaft im Ganzen leidet unter einer Panikattacke. Das System geht auf einen Kollaps zu – das gilt nicht nur für Sachsens Kitas, sondern die Panikattacke ist zu einer gesellschaftlichen Grundmelodie geworden. Ob ich mich im Café mit Freunden treffe, auf einer Geburtstagsfeier bin, im Zugabteil sitze oder in der Pizzeria – alle sind sofort beim Thema: Die Bahn fährt nicht. Der Arzt hat keine Termine frei. Die Gastherme wartet auf eine Reparatur. Die Banküberweisung klappt nicht. Alles wackelt, darüber besteht Einigkeit.

Standortwechsel. Frau Müller-Flass sitzt hinter ihrem Schreibtisch in einem großen Altenwohn- und Pflegeheim der AWO. Und sie fragt: „Was ist los mit den jungen Leuten?“ Sie ist seit 1975 in der AWO tätig, Sie sitzt auch jetzt nach ihrer Pensionierung hinter dem Schreibtisch, sie ist vor allem für die Ehrenamtlichen zuständig, kümmert sich aber um alles Mögliche. Aber da – hinter dem Schreibtisch – sitzt sie selten, weil sie viel im Haus und in der Kommune unterwegs ist. 240 Pflegebedürftige leben hier in dieser Einrichtung. Sie ist voller Empathie für die Menschen, für die sie verantwortlich ist. Aber sie engagiert sich außerdem noch im Ortsbeirat und im Seniorenbeirat der Kommune … Voller Zorn ist sie über die – aus ihrer Sicht – wuchernde Bürokratie. Da braucht eine Frau, die allein lebt, einen Handgriff in ihrer Dusche. Die Krankenkasse lehnt die Bewilligung ab. Frau Müller-Flass erhebt Einspruch. Wer sollte es sonst tun? Die Betroffenen, Alte, Behinderte, Kranke können es oft selbst nicht. Was ist die Haupttätigkeit, die Frau Müller-Flass ausübt? Die Auseinandersetzung mit einer Bürokratie, die immer weniger funktioniert. Da sind junge Leute, die sich nicht mehr auskennen. Sie sitzt hinter ihrem Schreibtisch und fragt sich (beziehungsweise uns, ihre Gesprächspartner): „Was ist los mit den jungen Leuten?“ Sie stellt jetzt auch Leute ein, die Schwierigkeiten mit dem Einstieg in das Berufsleben haben. Der Personalmangel zwingt sie dazu, neue Wege zu gehen. Auf ihrem Bildschirm ploppt gerade eine Anfrage aus der Mongolei auf, ob sie einen Job zu vergeben hätte … Die Leute, die sich da reihenweise aus der Ferne bewerben, stellen sich eine quasi medizinische Tätigkeit wie im Krankenhaus vor, von Pflege wollen sie nichts wissen. Angesichts des Personalmangels nimmt Frau Müller-Flass nun zum Beispiel auch Menschen, die psychische Probleme gehabt haben. Das werden immer mehr. Aber es fehlt bei vielen das, was man früher Pflichtgefühl genannt hätte. Ihr Beispiel: Ein junger Mann, durchaus zufrieden mit seiner Tätigkeit in der AWO, bricht zu einem Hausbesuch auf. Er macht seine Sache wohl gut. Aber danach geht er erst mal nach Hause. Es verblüfft Frau Müller-Flass, dass er kurzerhand während des Dienstes eine Auszeit zu Hause nimmt. Er teilt das niemandem mit. Er versteht nicht, dass Frau Müller-Flass das nicht versteht. Und Frau Müller-Flass fragt darum: „Was ist los mit den jungen Leuten?“

Das sind zwei Szenen, die das Dienstleistungsdilemma offenlegen: die Empörung der Kita-Mitarbeiterin einerseits und die Empörung der Mitarbeiterin im Altenwohnheim andererseits. Es ist, als würde gerade von zwei Seiten eine Sturmflut über uns hereinbrechen. Von der einen Seite kommt die Woge, die die gewohnte, zuverlässige Dienstleistungsgesellschaft unterspült, weil überall das Personal fehlt. Von der Bundeswehr bis zur Müllabfuhr klafft die Lücke. Und die Pensionierungswelle, die die Babyboomer jetzt auslösen, wird den Personalmangel noch einmal dramatisch zuspitzen. Von der anderen Seite bricht eine Sturmflut über uns hinein, die man als Motivationszusammenbruch bezeichnen könnte: Die Leute wollen und können nicht mehr weitermachen wie gewohnt. Es ist von allen Seiten zu hören: „Ich kann nicht mehr.“ Und: „Ich will nicht mehr.“ Kitamitarbeiter kollabieren ebenso wie Fernsehmoderatorinnen, Verwaltungsangestellte ebenso wie Shiatsu-Therapeutinnen. Das Gespräch über den Burnout, den jemand hat oder der sich ankündigt, droht zum letzten gemeinsamen Thema einer Gesellschaft zu werden, die im Panikzustand lebt.

Die doppelte Diagnose ist klar: Einerseits ist die Dienstleistungsgesellschaft dabei, wegen des Mangels an Geld und Personal zu kollabieren. Andererseits schmilzt die Motivation der Dienstleistenden, die nicht mehr das leisten können oder wollen, was ihnen abverlangt wird. Die Krise der Dienstleistungsgesellschaft ist deshalb eine, die sich gleichzeitig von außen und von innen ereignet. Sie explodiert und implodiert in einem Augenblick. Die gesellschaftliche Panikattacke ist insofern eine angemessene Reaktion. Die Anschlussfragen quellen aus dieser Krise wie aus einem Vulkan hervor: Was sind die Ursachen? Wie manifestiert sich die Krise? Was kann man tun? Wie soll es weitergehen? Das sind die Fragen, die nun auf der Tagesordnung stehen.

„Ich bin nicht krank,“ sagt Greta F. zu mir, „ich geh nur nicht arbeiten.“ Sie arbeitet in einem Hospiz und ihre Kräfte sind aufgebraucht. Sie erlebt den Arbeitsstress als gewalttätig. Sie will nicht mehr ‚leisten‘. Torkelt die Disziplinargesellschaft, die uns im Griff hatte, ihrem Ende entgegen? Schrumpft die Lebenskraft der Menschen, ebenso wie die Lebenskraft des Planeten zu schrumpfen scheint? Hat die Verwüstung des Planeten verwüstende Folgen in den Individuen? Oder ist dieser Satz: „Ich bin nicht krank, ich gehe nur nicht mehr arbeiten“ – der zuckende Anfang einer Befreiung, die sich gerade zu rühren beginnt? Ist es vielleicht ganz anders: Ist der Zusammenbruch der Dienstleistungsgesellschaft gar nicht Ausdruck eines Versagens, sondern Folge eines beabsichtigten Ruins? Geht die Gesellschaft, die entschlossen und diszipliniert aus den Trümmern des untergegangenen Faschismus aufgebaut wurde, ihrem Ende entgegen, weil sie nicht mehr gebraucht wird? Unzufriedenheit und Ohnmachtserfahrungen kombinieren sich und führen zu den beunruhigenden Erfolgen rechtspopulistischer Parteien. Schlagen sich diese Erfahrungen vielleicht auch nieder in der dramatisch hohen Zahl von Nichtwählern? „Die überwältigende Asymmetrie zwischen der Macht der ökonomischen Eliten und dem Rest der Bevölkerung“4 könnte Wut auslösen, aber es sieht so aus, als wenn sich die Menschen einfach abwenden von einer demokratischen Inszenierung, in der sie selbst nicht vorkommen.

Vielleicht ziehen sich die Menschen zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück, weil die Ohnmachtserfahrungen so überwältigend sind, dass die Energie fehlt und die Lust vergangen ist? Und viele landen dann in frustrierenden Zweierbeziehungen, in nervigen Kleinfamilien oder in der narzistischen Singleexistenz. „Exekutivapparate, Parteien, Parlamentsfraktionen, Medien und ökonomische Interessengruppen haben sich zu einer Organisationsform von Macht verschmolzen, die demokratischen Ideen zutiefst feindlich gegenüberstehen“5 Ist die Hoffnung auf eine aktiv-partizipatorische Demokratie so beschädigt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für das, was da passiert, nicht mehr interessieren? Dass sie sich stattdessen in das Privat-Lokale zurückziehen, keineswegs resignativ, sondern in der klaren Erkenntnis, dass es dort Aussicht dafür gibt, „dass man gemeinsam jene Kräfte kontrolliert, die das Leben und die Lebensbedingungen Anderer und der eigenen Person unmittelbar und maßgeblich beeinflussen“?6

Sandsäcke

Die Versuchung, bei einem Klagegesang zu bleiben, ist angesichts der von vielen empfundenen deprimierenden Lage groß. Es ist das Anliegen dieses...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2024
Verlagsort Rastede
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Dienstleistungsgesellschaft • Krise • Personalmangel
ISBN-10 3-89684-718-X / 389684718X
ISBN-13 978-3-89684-718-8 / 9783896847188
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