Depressionen bei Schülerinnen und Schülern (eBook)
161 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8500-0 (ISBN)
Katharina Kolberg, Dr. jur.; Volljuristin, Oberstudienrätin; psychotherapeutische Heilpraktikerin, Systemischer Coach, Supervisorin, Studienseminarleiterin am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, Mentorin für Lehramtsanwärter:innen, Fortbildnerin zum Thema »Depressionen im System Schule«.
Katharina Kolberg, Dr. jur.; Volljuristin, Oberstudienrätin; psychotherapeutische Heilpraktikerin, Systemischer Coach, Supervisorin, Studienseminarleiterin am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, Mentorin für Lehramtsanwärter:innen, Fortbildnerin zum Thema »Depressionen im System Schule«.
2 Das Dreischritt-Konzept
2.1 Wahrnehmung schärfen
Im ersten Schritt des Dreischritt-Konzeptes geht es um die Wahrnehmung. In Abschnitt 2.1.8 lernen Sie Ihre Eindrücke von psychisch auffälligen Schülern zu differenzieren und im Hinblick auf Symptome einer möglichen Depression auszuweiten.
2.1.1 Eindrücke der Lehrer
Die meisten Lehrer zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen aus. Sie agieren in einem Klassenraum, in dem sie sich um 23 oder sogar noch mehr Schüler kümmern. Neben ihrer eigentlichen Unterrichtstätigkeit und der fachlichen Beurteilung der Schüler nehmen sie auch deren Persönlichkeit und Entwicklung im Verlauf von Monaten und Jahren wahr.
Oftmals manifestieren sich bestimmte Anzeichen, die die Lehrkräfte nachdenklich stimmen und sie dazu bewegen, sich zu fragen: Ist das noch im Rahmen des Normalen oder leidet der Schüler möglicherweise an einer psychischen Erkrankung wie beispielsweise einer Depression? Meistens ist es nicht bloß eine konkrete Auffälligkeit, sondern die Lehrer haben ein vages Gefühl, dass es dem Schüler »psychisch nicht gut geht«. Auf die Frage an die Kollegen, was genau sie wahrnehmen, folgt oft ein Ringen um die richtigen Worte und Beschreibungen, wie zum Beispiel:
»Der Schüler guckt (irgendwie) traurig.«
»Der Schüler wirkt (irgendwie) apathisch.«
»Der Schüler ist in den Leistungen stark eingebrochen.«
»Der Schüler schläft im Unterricht ein.«
»Der Schüler hat ungewöhnliche Muster des Absentismus.«
»Der Schüler integriert sich nicht in die Klassengemeinschaft.«
»Der Schüler ist aggressiv.«
»Der Schüler rennt im Unterricht plötzlich raus.«
2.1.2 Schilderung der Wahrnehmung von Betroffenen
Nicht nur Lehrer haben Schwierigkeiten, genau zu benennen, warum sie einen Schüler als auffällig wahrnehmen. Auch Betroffenen fällt es bei psychischen Erkrankungen viel schwerer als bei körperlichen Problemen, ihre Symptome zu benennen. Eine typische Schilderung einer Betroffenen ist:
»(…) Mir geht’s schlecht. Seit einigen Wochen hab ich ›schlechte Laune‹, wie es mein Umfeld nennt. Ich habe keine Lust auf irgendwas, gestern wollte ich z. B. mit Freunden tanzen gehen, was ich sonst so gerne tue, um halb zwölf hab ich dann abgesagt und bin ins Bett gegangen.
Ich habe vor schlechten Gedanken ständig Kopfschmerzen und würde deswegen am liebsten die ganze Zeit nur schlafen. Aber ich kann nicht schlafen. Ich schlafe über den Tag immer wieder ein bis zwei Stunden, wache dann auf, habe Kopfschmerzen, schlucke zwei Aspirin und hänge dann rum. (…)«10
Wenn Schüler ihren Leidensdruck selbst klar einordnen und benennen können, ist die Überforderung nicht minder. Auch Folgendes hören Lehrer in Einzelgesprächen:
»Ich glaube, ich habe eine Depression.«
»Ich habe schon darüber nachgedacht, mich umzubringen.«
In solchen Augenblicken sind die Lehrer gezwungen, unmittelbar zu reagieren. Darauf sind sie zu keinem Zeitpunkt ihrer Ausbildung vorbereitet worden.
2.1.3 Verarbeitung der eigenen Wahrnehmungen
Um unsere Eindrücke aus dem Schulalltag besser verarbeiten zu können, braucht es eine Auseinandersetzung mit den fachsprachlichen Begrifflichkeiten. Sie dienen zur Beschreibung der aufgeführten Symptome, anhand derer ein Arzt eine Depression diagnostizieren kann. Um ein besseres Verständnis für die relevanten Symptome zu entwickeln und sie leichter in den eigenen Sprachgebrauch integrieren zu können, werden sie im Folgenden erläutert. Im Anschluss daran stelle ich sechs kurze Fallbeispiele von Schülern vor. Durch deren Betrachtung lässt sich die professionelle Wahrnehmung schärfen, indem die Symptome mit den für Ärzte und psychologische Psychotherapeuten relevanten Diagnosekriterien von ICD-10 (vgl. Dilling u. Freyberger 2016) oder ICD-11, den Diagnosehandbüchern, abgeglichen werden.11
2.1.4 Entlastung durch Einordnung
Das Dreischritt-Konzept strebt danach, Ihre Handlungsfähigkeit im Umgang mit depressiven Schülern zu stärken. Es setzt bei der Reflexion Ihres eigenen Unterrichtsalltags an. Hierbei ist es entscheidend, eine präzise Analyse dessen durchzuführen, was Sie an einzelnen Verhaltensweisen, körperlichen Befindlichkeiten und Interaktionen wahrnehmen, wenn Sie das Gefühl haben, dass etwas bei einem Schüler »nicht in Ordnung« ist.
Die Verbesserung Ihrer Sprachkompetenz ermöglicht es Ihnen, genau zu formulieren, was Sie im Verhalten Ihrer Schüler im Klassenzimmer beobachten. Indem Sie Ihre Eindrücke benennen, können Sie nicht nur Ihre Wahrnehmung professionalisieren, sondern auch selbst besser verstehen, was vor sich geht. Das Ausdrücken Ihrer Beobachtungen ermöglicht es, diese von einer rein emotionalen Ebene auf die Handlungsebene zu übertragen. Auf diese Weise können Schüler und weitere Personen, die sie unterstützen, wie z. B. Eltern, Ärzte und Therapeuten, besser darauf reagieren. Kurz gesagt: Die Benennung ist entscheidend, damit Sie sich als Lehrer von den Eindrücken im Klassenzimmer zu distanzieren vermögen und die Verantwortung für den Umgang damit gezielt an andere Personen übertragen können.
2.1.5 Grundlagen der Diagnose
Die Diagnose (altgriechisch: Erkenntnis, Urteil), wie sie Ärzte vollziehen, bezeichnet die Bewertung eines Sachverhalts und das Zuordnen von Phänomenen zu einem Klassifikationssystem. Wahrnehmungen werden von ihnen fachlich-medizinisch eingeordnet. Wichtig: Lehrer sind keine Ärzte und sie sollen auch ihre Schüler nicht diagnostizieren. Das Wissen darum, wann und wie Ärzte Diagnosen erstellen, hilft ihnen aber zu verstehen, wann sie einem Schüler fachärztliche Abklärung anraten sollten. Ebenso ist es für sie relevant, nachvollziehen zu können, was es bedeuten kann, wenn einem Schüler eine bestimmte Diagnose, insbesondere eine Depression attestiert wurde.
2.1.6 Vorangehende Ausschlüsse
Vor der Diagnose einer psychischen Störung ist es für Ärzte wichtig, physische Ursachen auszuschließen, die Symptome wie eine Depression oder weitere Störungen verursachen könnten. Bei Schülern nimmt bedauerlicherweise die Zahl derer zu, die an einer Störung leiden, die durch den Missbrauch von Alkohol und Drogen verursacht wird, das sogenannte Abhängigkeitssyndrom durch psychotrope Substanzen. Es gibt jedoch auch andere Erkrankungen und Faktoren, die zu einer Verwechslung mit depressiven Symptomen führen können. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein Facharzt zunächst physische Ursachen für die Depression ausschließt (siehe Abschnitt 1.4.2).
Therapeuten bezeichnen Alkohol manchmal als »Depressivum«, da er im Gegensatz zu Antidepressiva Depressionen begünstigen kann. Daher wird ein Therapeut in der Regel zuerst versuchen, den Substanzmissbrauch zu behandeln. Dies ermöglicht es ihm einerseits zu beurteilen, wie es dem Patienten ohne diese »Depressiva« geht. Andererseits ist das Gehirn, das unter dem Einfluss von Substanzen steht, oft weniger empfänglich für die Anforderungen einer Psychotherapie. Sowohl Drogen als auch Alkohol können die Fähigkeit des Gehirns, neue Verknüpfungen im Rahmen einer Therapie zu bilden, beeinträchtigen.
Aus meiner Beratungserfahrung weiß ich, dass Schüler, die Suchtmittel, einschließlich Cannabis, konsumieren, wenn sie Depressionen entwickeln, leider oft nicht weniger, sondern manchmal sogar mehr von diesen Substanzen verwenden. Dies stellt eine zusätzliche Herausforderung dar.
2.1.7 ICD-10 und ICD-11
Sicherlich ist Ihnen auf ärztlichen Verschreibungen im Diagnosefeld ein Code, bestehend aus Buchstaben und Zahlen, aufgefallen. Hinter dieser Buchstaben- und Ziffernfolge verbirgt sich die Diagnose des ausstellenden Arztes. Diese Codierung entstammt der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Abk. ICD) (vgl. Dilling u. Freyberger 2016). Im Jahr 2024 gilt in Deutschland sowohl die ICD-10 als auch die neuere Version, die ICD-11, die bereits am 1. Januar 2022 in Kraft trat.12 Die ICD-11 unterliegt noch Revisionsprozessen, sodass ihre verbindliche Anwendung stufenweise erfolgt. Die Diagnostizierung einer Depression über die ICD-10 bzw. die ICD-11 basiert auf der ärztlichen Feststellung einer bestimmten Anzahl von diesbezüglichen Symptomen. Diese sind in beiden Fassungen der ICD in großen Teilen gleich. Für die ICD-10 ist nur eine spezifische Anzahl von...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2024 |
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Reihe/Serie | Systemische Pädagogik |
Verlagsort | Heidelberg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
Schlagworte | Depressionen in der Schule • Hilfe für depressive Schüler • Lehrer und Depressionen • Pädagogisches Handeln bei Depressionen • Prävention psychischer Erkrankungen in der Schule • Psychische Gesundheit in der Bildung • Resilienzförderung in der Ausbildung • Schüler und Depressionen • Umgang mit depressiven Schülern • Wakopa-Konzept |
ISBN-10 | 3-8497-8500-9 / 3849785009 |
ISBN-13 | 978-3-8497-8500-0 / 9783849785000 |
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