Adultismus in der Krippe (eBook)
108 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-2808-1 (ISBN)
Mira Wolters ist Kindheitspädagogin und Autorin. Mit ihren Publikationen greift sie relevante Themen für pädagogische Fachkräfte auf und ermutigt, die Perspektive des Kindes einzunehmen.
1. Erkennen – Über die Macht der Fachkraft
Adultismus – Definition
Der Begriff Adultismus setzt sich aus zwei Wortteilen zusammen: Adult ist Englisch und bezeichnet die erwachsene Person. Die Endung -ismus ist die „Kennzeichnung eines gesellschaftlich verankerten Machtsystems“ (Richter, 2013, S. 5). Adultismus beschreibt die Diskriminierung jüngerer Menschen aufgrund ihres Alters. Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch in seiner Kindheit Adultismus erfahren hat. Es handelt sich also um eine Form der Diskriminierung, die wir fast alle erlebt haben und (oft unbewusst) weitergeben (ebd., S. 5-6). Erwachsene verfügen über Macht und nutzen diese aus, ohne auf die Bedürfnisse, Interessen oder Ansichten der Kinder zu achten. Sie gehen davon aus, „intelligenter, reifer, kompetenter“ (NCBI Schweiz & Kinderlobby Schweiz, 2004, S. 10) zu sein als Kinder.
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Adultismus ist die Diskriminierung jüngerer Menschen aufgrund ihres Alters.
Formen des Adultismus
Adultismus zeigt sich bereits früh, zum Beispiel wenn Erwachsene Kindern über den Kopf streicheln oder sie auf den Schoß heben, ohne sie zu fragen. Das sind Grenzüberschreitungen, die für Erwachsene selbstverständlich sind, zumal sie sie oft selbst in ihrer Kindheit erlebt haben und als gegeben hinnehmen. Adultismus zeigt sich auch in der Sprache. Sätze wie „Jetzt stell dich nicht so an“ oder „Du bist aber kindisch“ zeigen deutlich, wie selbstverständlich wir Kinder oder kindliches Verhalten abwerten (ebd.). Erwachsene geben vor, was Kinder anziehen sollen und was oder wann sie essen dürfen. Sie bestimmen auch, ob Kinder mittags schlafen sollen oder nicht. Auch das sind adultistische Verhaltensweisen (u.a. Finger, 2023, S. 11). Kinder können nicht alle Konsequenzen ihres Handels einschätzen. Sie vor Gefahren zu schützen, ist im Kleindkindalter natürlich besonders wichtig. Dies betrifft zum Beispiel gefährliche Situationen im Straßenverkehr auf dem Weg zur Eisdiele, das Probieren von möglicherweise giftigen Pflanzen im Park oder den Weitwurf von verletzenden Gegenständen im Gruppenraum. Deshalb ist es wichtig, abzuwägen: Tun wir etwas, weil es das Kind (oder andere Kinder) schützt oder weil wir es für wichtig halten, denn „es ist halt so“? Dienen die Regeln dem Schutz des Kindes oder sollen sie uns das Leben erleichtern, weil wir dann weniger mit den Kindern diskutieren müssen? (Richter, 2013, S. 7).
Eine sehr präsente und häufig unbewusste Form des Adultismus zeigt sich dann, wenn wir von Kindern etwas erwarten, uns selbst aber ganz anders verhalten. Dies passiert im Kita-Alltag zum Beispiel dann, wenn Kinder stillsitzen und ruhig sein sollen, aber Erwachsene im Raum herumlaufen und miteinander reden. Oder wenn von Kindern erwartet wird, dass sie ihren Rucksack an ihrem Fach vor dem Gruppenraum lassen, Erwachsene ihre Tasche aber selbstverständlich in den Gruppenraum mitnehmen und jederzeit darauf zugreifen können.
„Pädagog:innen müssen zu jeder Zeit reflektieren, wann sie ihre Macht wie nutzen. Genauso gilt es zu hinterfragen, wo sie Macht abgeben können.“ Fea Finger
Die Machtformen pädagogischer Fachkräfte
1. Handlungs- und Gestaltungsmacht
Dies betrifft die Gestaltung der Kita und des Gruppenraums, die Gruppeneinteilung, aber auch die Strukturierung des Kita-Alltags, Mobiliar, Material oder Projekte.
- In welcher Höhe sind Bilder angebracht?
- Sind Kleinmöbel auf Rollen, damit sie flexibel an die wechselnden Bedürfnisse der Gruppe angepasst werden können?
- Können sich die Kinder selbst aussuchen, in welcher Gruppe oder mit welcher Bezugsperson sie zusammen sein möchten?
- Sind die Angebote freiwillig, sodass die Kinder selbst entscheiden, ob sie teilnehmen oder sich lieber mit etwas anderem beschäftigen?
- Entscheiden die Kinder über Ausflüge oder die Gestaltung des Übergangs in den Kindergarten mit?
2. Verfügungsmacht
Erwachsene entscheiden, wann welches Material zur Verfügung gestellt wird, wofür Geld ausgegeben wird oder auch an welche Fächer Kinder dürfen – und an welche nicht.
- Entscheiden Kinder selbst, wann sie sich mit etwas beschäftigen und kommen sie dafür selbstständig an das notwendige Material oder Spielzeug heran?
- Haben Kinder grundsätzlich Zugang zu allem, was sie im Krippenalltag brauchen?
- Entscheiden die Kinder mit, wenn es beispielsweise um neues Spielzeug, die Umgestaltung des Gruppenraums oder auch um neue Kleinmöbel oder Kinderwagen geht?
3. Definitions- und Deutungsmacht
Hierzu zählt die Haltung der Erwachsenen und ihre Bewertung dessen, was richtig und falsch oder gut und böse ist.
- Wie oft wird Kindern gesagt, dass sie lieb oder ruhig sein sollen?
- Was erleben Kinder als richtig und falsch?
- Handeln die Erwachsenen nach den gleichen Werten und Prinzipien?
- Wird eher auf das geschaut, was die Kinder noch nicht können, oder wird gesehen, dass sie Neues lernen und sich entwickeln?
4. Mobilisierungsmacht
Erwachsene bringen Kinder dazu, das zu tun, was sie für richtig halten. So wird gutes Verhalten beispielsweise gelobt. Kinder werden für etwas begeistert oder zu einer bestimmten Verhaltensweise angeregt. Erwachsene machen dabei auch deutlich, welches Verhalten unerwünscht ist.
- Wann haben Kinder die Möglichkeit, Fehler zu machen, ohne getadelt zu werden?
- Wie oft passen sich Kinder im Krippenalltag an, aus Sorge vor Ermahnung, Bestrafung oder Ausschluss aus der Gruppe oder dem Gruppengeschehen?
- Wie zeigt sich angepasstes Verhalten?
- Welches Verhalten kannst du tolerieren und wann sagen dir deine Prägungen oder Erfahrungen aus deiner Kindheit: „Das kann ich auf keinen Fall durchgehen lassen“?
(Hansen et al., 2015, zitiert nach Finger, 2024, S. 9)
Beispiele aus dem Krippenalltag
Das Jacken-Dilemma
Leon (2;5) zieht gerade seine Jacke an. Er hat den linken Arm schon in den Ärmel gesteckt, als Fachkraft Elise ihm die Jacke eilig über die Schultern zieht und den rechten Arm in den freien Ärmel steckt. „Du brauchst immer ewig, Leon, bei den Eulen muss es schneller gehen.“
Elise hat es eilig und will nicht warten, bis Leon fertig ist. Also hilft sie ihm in die Jacke und erinnert ihn daran, dass er das später in der Kindergartengruppe auch schneller können muss. Juhu, der erste Arm ist in der Jacke – Leon freut sich unglaublich über seinen Erfolg, als ihm die Chance genommen wird, dies auch für die zweite Seite zu erfahren. Die bis eben erlebte Freude verwandelt sich in Frust. Er will sich die Jacke selbst anziehen, doch Elise gibt ihm keine Zeit. Sie übergeht sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und trifft die Entscheidung, ihm diese Erfahrung zu nehmen.
- Welches Gefühl bleibt in Leon zurück?
Das Papier muss für alle reichen
Camille (3;0) sitzt am Tisch und malt. „Kann ich noch ein Blatt haben?“, fragt sie Erzieherin Nina. „Meinst du nicht, du hast schon genug gemalt, Camille? Die anderen Kinder wollen doch auch noch malen.“ Auszubildende Lara, die mit am Tisch sitzt, schaut Nina an: „Es gibt doch noch genug Papier. Sie kann doch weitermalen, wenn sie das möchte.“ „So lernt sie aber nicht, dass man nicht alles haben kann, was man will. So läuft das eben nicht. Man muss lernen, Rücksicht zu nehmen“, erklärt Nina.
Für Nina ist es selbstverständlich, den Materialverbrauch zu begrenzen. Wenn Camille fünf Bilder malt und die anderen weniger, dann findet sie das ungerecht. Natürlich könnte sie mehr Papier auf den Tisch legen, aber die Kinder sollen ja nicht die ganze Zeit malen. Camille malt gerne. Ob ein Bild, zwei oder drei, sie zählt nicht mit. Sie versucht nur, ihre vielen Ideen auf das Papier zu bringen, denn das macht ihr Spaß und fühlt sich für sie richtig an. Als sie hört, dass sie kein Papier mehr nehmen darf, zieht sich etwas in ihr zusammen. Bis vor kurzem hätte sie deswegen noch getobt, aber sie hat gelernt, ihre Gefühle zu regulieren. Es ist nur ein kurzes Aufflimmern. Dann erlischt das merkwürdige Gefühl.
- Wie fühlt sich Lara, die mit am Tisch sitzt und Camille beobachtet?
Der Schuh drückt
Can (2;4) läuft an der Hand des Gruppenleiters Markus. Als Can anfängt, zu humpeln, blickt Markus zu ihm. „Can, ich kann dich jetzt nicht in den Wagen setzen, Anja ist zu müde zum Laufen. Schaffst du es noch bis in die Kita?“ Can schüttelt den Kopf. Markus zieht die Schultern hoch und sagt: „Tut mir leid, Junge, da kann ich jetzt leider nichts machen.“ Zurück in der Kita hilft Praktikantin Lisa Can aus den Schuhen. „Das ist aber ein großer Stein, Can“, stellt sie überrascht fest, als er beim Ausziehen aus dem Schuh...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7597-2808-1 / 3759728081 |
ISBN-13 | 978-3-7597-2808-1 / 9783759728081 |
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