Armutsbetroffenheit in Kinder- und Familienzentren sozialarbeiterisch begegnen (eBook)
186 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8443-6 (ISBN)
Lucie Kluge, Dr. phil., ist Professorin an der Dualen Hochschule Stuttgart für Soziale Arbeit, insbesondere für die Frühe Bildung und Studiengansleitung für den Studiengang Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik. Prof. Dr. Natalie Hartmann ist Professorin für Soziale Arbeit an der DHBW Stuttgart.
Historische Perspektiven auf die Hilfe für Armutsbetroffene
Natalie Hartmann
Einleitung
Wenn wir uns in heutigen Debatten und öffentlichen Diskursen mit dem Thema „Armut“ auseinandersetzen, dann geschieht dies stets vor dem Hintergrund eines (zumeist eher diffusen) Verständnisses von sozialer Hilfe, Hilfsbedürftigkeit und der Frage danach, wer wann welche Form von Hilfe verdient hat. Diese Fragen, die in der Auseinandersetzung mit Armut unweigerlich gestellt werden müssen, beziehen sich dabei auf ein Konzept der Hilfe, auf das in den Debatten und Diskursen selten inhaltlich eingegangen wird. Diesem Konzept des Helfens und mit ihm verbunden dem Konzept von Armut möchte ich mich im folgenden Artikel widmen, ausgehend von der Annahme, dass die gesellschaftlichen Formen des Helfens – und dem hierdurch bedingten Umgang mit Armut – jeweils abhängig sind von den Strukturen des Zusammenlebens in Gesellschaften. Der Umgang mit Armut und der Hilfe für jene in Not hat sich dabei ebenso wie die Gesellschaften selbst über die Jahrhunderte gewandelt. Die Geschichte der Armenfürsorge und der Sozialen Arbeit ist vor allem die Geschichte des Helfens. In welcher Art und Weise, welchen Personen, zu welchem Zeitpunkt und durch wen geholfen wurde, war damit stets abhängig von der jeweiligen Art und Weise wie eine Gesellschaft aufgebaut, strukturiert und legitimiert war. Lambers (2018) identifiziert drei Grundbedingungen des Helfens.
(1) Überschuss: Helfen benötigt zumindest einen minimalen Überschuss, welcher den Handlungsspielraum für das „Helfen“ überhaupt erst ermöglicht. Dieser Überschuss kann dabei unterschiedlicher Art sein, beispielsweise in monetärer Form, zeitlich oder in Form von Naturalien.
(2) Sinngebundenheit: Überschüsse werden dann zum Helfen eingesetzt, wenn dies jenen, welchen den Überschuss haben, sinnvoll erscheint. Sinnhaftigkeit kann sich dabei auf unterschiedliche Begründungen beziehen. So können religiöse, moralische, spirituelle oder politische Ideen und Vorstellungen Grundlage einer sinnhaften Entscheidung bezüglich des Helfens sein.
(3) Systemerhalt: Unabhängig davon, welcher Sinnbezug in den verschiedenen Gesellschaften Hauptmotiv sozialer Hilfe war, letztlich dienten diese Sinnlegitimation stets auch (oder vor allem) dem Erhalt der jeweiligen Gemeinschaft insgesamt (vgl. Lambers 2018, S. 32).
Um die heutige Soziale Arbeit – als organisierte Hilfe – zu verstehen, ist daher der Blick in die Geschichte interessant. So soll im folgenden Artikel – in aller Kürze – gezeigt werden, wie sich das Konzept der Hilfe und die Deutung von Armut über die Jahrhunderte hinweg wandelte und schließlich zur heutigen Form sozialer Hilfe wurde.
Historische Perspektiven auf Armut
Wenn wir uns heute mit der Geschichte der Sozialen Arbeit auseinandersetzen, so werden wir dabei nicht erst in der Neuzeit – also dem 19. Jahrhundert – beginnen, sondern wir werden weiter zurückblicken und den gesellschaftlichen Wandel und mit diesem den Wandel des Helfens und des Umgangs mit Armut betrachten. Um hierbei die hinter den verwendeten Bergriffen stehenden Konzepte und Deutungen nachzuvollziehen, lohnt es sich, zunächst einen Blick in die Begriffsgeschichten zu werfen. Historische Betrachtungen erwecken oftmals den Eindruck es handele sich um chronologische Entwicklungen verschiedener Ereignisse. Dabei lassen sich Phänomene wie Armut oder Arbeit nicht in diesem Sinne chronologisch beleuchten, sondern es sind viel mehr unterschiedliche Ereignisse, Perspektiven und auch historische Vorkommnisse (wie Dürren oder die Pest), die zur Ausprägung mehr oder weniger dominanter Strukturen und Deutungen eben jener Phänomene führten. Der Umgang mit Armut ebenso wie die Perspektive auf Arbeit in diesem Sinne lässt sich also nicht über die Jahrhunderte hinweg in chronologisch aufbauender Weise erzählen. Vielmehr sind heutige Deutungen geprägt von der gleichzeitigen Entwicklung verschiedener, zum Teil gar widersprüchlicher, Perspektiven.
Das deutsche Adjektiv arm geht auf das althochdeutsche aram zurück und meinte vor allem vereinsamt (vgl. Weddige 2015, S. 97). Diese Bedeutung wandelte sich bereits im Mittelhochdeutschen und neben die Bezeichnung aram im Sinne von vereinsamt trat arm und bezeichnete nicht vereinsamt, sondern zunächst bemitleidenswert; elend; oder unglücklich und später besitzlos; bedürftig (vgl. ebd.) Interessant hierbei ist, dass die Begrifflichkeit jeweils eine nicht Zugehörigkeit markiert, zunächst durch die schlichte Bezeichnung des „nicht zur Gesellschaft oder Familie gehörenden“ und später durch Zuschreibungen wie elend oder besitzlos sowie bemitleidenswert, wodurch ebenfalls Differenz markiert wird. Hinter dem Ausdruck arm verbirgt sich so – bis heute – eine Begrifflichkeit, über die gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse beschrieben (vgl. Butterwegge 2021b, S. 8) und durch weitere Zuschreibungen bewertet werden. Die synonyme Nutzung des Adjektivs arm für eben jene unterschiedlichen Wertungen lässt dabei Raum für die jeweils mitgemeinten Konzepte der Armut.
Armut von der Antike bis ins Mittelalter
Heute wird davon ausgegangen, dass in der Antike Armut als Lebenslage betrachtet wurde, die sich vor allem durch die (in der Regel selbstverschuldete) Unfähigkeit ein gutes Leben zu erwirtschaften einstellte (vgl. Rathmayr 2014, 16 ff.). Bereits körperliche Arbeit wurde eher als anstößig und sozial verächtlich betrachtet – ein gutes Leben zeichnete sich vorrangig durch die Abwesenheit körperlicher Arbeit aus. Die Zuschreibung von arm und reich differenzierte in der Antike die Personen, die von ihrem Vermögen leben konnten und jene, die sich ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdienen mussten und denen es nicht gelang, Vermögen zu erwirtschaften. Einhergehend mit dieser Unterscheidung, wurde auch die Frage staatlicher Verfasstheit diskutiert und beispielsweise bei Aristoteles entlang der Differenzierung von Armen und Reichen die Eignung verschiedener Verfassungen für die jeweiligen Gesellschaften beschrieben (vgl. hierzu Knoll 2011, ff.). „Arme“ wurden hingegen begrifflich nochmals unterschieden in erstens jene Personen, die „nicht reich und daher zu körperlicher Arbeit gezwungen“ waren (griechisch: pûnej, pénes / römisch: pauper). Zweitens in diejenigen Personen, die nicht arbeiten konnten und daher „arm“ waren (griechisch: pt’coj, ptóchos / römisch: egens, inops, indigens, oder tenuis – was in der Bedeutung von bedürftig, ärmlich, mittellos und schwach variierte) und in drittens jene, die, um zu überleben, auf Betteln angewiesen waren (griechisch: pt’coj, ptóchos / römisch: mendicus). Die insgesamt in der Antike vorherrschende Haltung Armut als selbstverschuldeten Zustand zu betrachten, bestimmte dabei auch den Umgang mit Personen in diesen drei Abstufungen der Armut. Für arbeitende Arme gab es teilweise durch Zusammenschlüsse mit anderen Arbeitenden Unterstützung in ersten Zünften, insgesamt aber wurde die Familie als verantwortlich betrachtet. Dort, wo diese insgesamt von Armut betroffen war, gab es nicht nur keine organisierte Hilfe, sondern wurden arme Menschen im Gegenteil als selbstverschuldete, zum Teil als potenziell kriminell betrachtet (vgl. Rathmayr 2014, S. 21). Diese Geringschätzung wurde auch dort nicht aufgehoben, wo einzelne reiche Personen sich durch Wohltätigkeit und Spenden profilierten. Als „Klienten“ wurde armen Menschen zum Teil mit der Gabe von Essen und anderen Naturalien geholfen, wobei diese Wohltätigkeit zwischen patronus und cliens für den Patron immer auch mit...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8443-1 / 3779984431 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8443-6 / 9783779984436 |
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