»Wer nun weiß, Gutes zu tun...« -  Heinz Becker,  Roland Frickenhaus

»Wer nun weiß, Gutes zu tun...« (eBook)

Erinnerungen, Erfahrungen und Entwicklungen aus 40 Jahren Tätigkeit in der Behindertenhilfe und die Verantwortung des Einzelnen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
186 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8492-4 (ISBN)
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Alles hat seine Geschichte, auch die Strukturen, in denen Hilfen für behinderte Menschen organisiert sind. Systeme bringen Aussonderung oder Teilhabe hervor, aber es sind die dort tätigen Menschen, die sie tagtäglich umsetzen. Wie haben die Mitarbeitenden ihren Alltag wahrgenommen? Wie lebte und arbeitete es sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Roland Frickenhaus berichtet über Erlebnisse aus 40 Jahren Tätigkeit in der Behindertenhilfe. Die Geschichten werden von Heinz Becker durch fachliche und historische Einordnungen ergänzt. Entstanden ist ein aktuelles Geschichtsbuch und ein Buch voller persönlicher Geschichten.

Heinz Becker, Jg. 1953, Diplom-Sozialpädagoge, von 1989 bis 2019 Bereichsleiter ASB-Tagesförderstätte in Bremen, zuvor Mitarbeit bei der Auflösung Klinik Kloster Blankenburg, seit 1992 Lehrbeauftragter Hochschule Bremen, diverse Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen.

1.2Das Leben in der Anstalt


Das Leben in den Anstalten war für die Insassen bis zum 19. Jahrhundert von Vernachlässigung, Gewalt und Willkür geprägt. Entweder wurden sie in Verschlägen weitgehend sich selbst überlassen oder es wurden an Folter erinnernde „Behandlungsmethoden“ ausgeübt: So wurden die Schädel geöffnet oder mit glühenden Eisen traktiert, Abführ- und Brechmittel eingeflößt, Körperteile angesengt, verbrannt, verätzt, der Mensch zur Ader gelassen oder Steine des Wahnsinns aus dem Kopf herausgeschnitten. Man steckte „Patienten in Zuber mit lebenden Aalen, brachte sie in Drehmaschinen zur Bewusstlosigkeit, traktierte sie mit schmerzenden Wasserkuren, kurz, man versuchte, sie um jeden Preis zur Vernunft zu quälen“ (Dörner, Plog 1989, 469).

In einem Bericht von 1803 werden die Zustände beschrieben: „Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbne Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. … Man giebt sie der Neugierde des Pöbels Preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den müßigen Zuschauer zu belustigen“ (Reil 1803, 14 f.).

Aber auch nach der Differenzierung der Anstalten und der Etablierung der Psychiatrie als zuständige Disziplin für die „Irren und Idioten“ änderten sich die Zustände nicht entscheidend. Aber ab jetzt galten die gewalttätigen Übergriffe als Behandlungsmethoden. Als gute Heilmittel galten das Verabreichen von „Wein und Mohnsaft“, Hunger und Durst seien „zwey mächtige Gefühle, die bald zahm machen“, „auch durch die Entziehung der Wärme, die das Gefühl des Frostes erregt, und durch die Entziehung des Schlafs“ werde ein Heilungserfolg erreicht (Reil 1803, 189), ebenso durch „das glühende Eisen oder brennendes Siegellack, welches in die Hände getröpfelt wird. Meistens ist es zureichend, mit diesen Mitteln zu drohen oder einen leichten Vorschmack derselben zu geben“ (ebd.). „Das Peitschen mit Brennnesseln auf den Rücken, die Arme und Schenkel“ (Reil 1803, 190) wird ebenso empfohlen und angewendet wie „Wanzen, Ameisen, Processionsraupen und andere Insecten“ oder das Aufbringen von Pocken und Krätze, die „in dem sogenannten dumpfen Wahnsinn nützlich seyn kann“ (Reil 1803, 190 f.). Das Untertauchen im Wasser sei „Hauptmittel, die Wahnsinnigen ins Meer zu stürzen und sie so lange darin unterzutauchen, als sie es aushalten können“ (Reil 1803, 193). Natürlich gehören zu den „Heilungsmethoden“ auch „Züchtigungen durch Ruthenstreiche“ (Reil 1803, 192). Die „Heilmethoden“ änderten sich, aber mehr oder weniger erbärmliche Lebensbedingungen kennzeichneten die Einrichtungen bis zu den „Euthanasie“-Morden in der Zeit des Nationalsozialismus. Danach wurden die alten Strukturen restauriert und bestanden zum Teil bis in die 1980er Jahre.

Dies begann sich erst zu ändern, als nicht etwa Psychiater oder Sonderpädagogen, sondern Journalisten von den skandalösen Zuständen in den Anstalten berichteten. Der Germanist Frank Fischer (1969) war einer der ersten, der sich in Anstalten als Hilfspfleger einstellen ließ, seine Eindrücke veröffentlichte und ein großes Medienecho erreichte. Etwa zeitgleich ließ sich Günter Wallraff in eine Anstalt einweisen und berichtete darüber (Wallraff 1969). Aus den USA kamen Berichte von David Rosenhan, der 1973 gesunde „Scheinpatienten“ in Anstalten einweisen lies, die ihre Erlebnisse eindrücklich dokumentierten (Rosenhan 2006/1981). Noch Jahre später schrieb „Die Zeit“ vom „mühsam mit Desinfektionsmitteln gebändigtem Gestank“. „Wer nicht ziellos im Kreis herumwandert, in hastigem Zickzack den Raum durchkreuzt, sich die Bretterwände entlangtastet, lehnt taumelnd an den Fensterbrettern oder hockt zusammengesackt an den leeren Tischen.“ Menschen, die den ganzen Tag mit dem Fuß an eine Bank gefesselt sind, offene Sanitärräume, in denen Menschen auf der Toilette festgeschnallt sind, Schlafsäle mit „Eisenbetten, sonst nichts. Keine Nachttische, keine Borde, keine noch so armseligen persönlichen Nischen“ (Just 1979, 62 f.).

Auch „Der Stern“ berichtete aus einem Heim für „schwerstbehinderte Kinder“ in Lüneburg über an Stühlen und Betten festgebundene Kinder: 20 Kinder sitzen festgebunden auf dem Flur und warten auf das Mittagessen, sie schlafen in einem Käfig aus Stahlrohrstangen auf Holzplanken eingerollt in einen reißfesten Bettbezug, von denen die zuständige Heimaufsicht sagt: „Die Käfige sind medizinisch die beste Lösung und auch die menschenwürdigste Art der Unterbringung. Man muß doch sehen, daß die Kinder mit der Zeit aufsässig werden“ (König 1980). Der Journalist Ernst Klee berichtete aus dem Spastikerzentrum München: „Um eine rationelle Betriebsführung zu gewährleisten, wurden Behinderte an feste Klo-Zeiten gewöhnt. Um 10, 12 und 15 Uhr durften sie auf die Toilette, außerhalb der offiziellen Toilettenzeiten stand es den Bewohnern natürlich frei, in die Hose zu machen“ (Klee 1979, 4).

Menschen „leben – oder vegetieren – in Sälen mit bis zu 70 Betten, ohne jeglichen Schutz der Intimsphäre, in einer Art Sicht-, Lärm- und Geruchsgemeinschaft“ (Finzen 2015, 3). Als „wandelnde Apotheken“ verschreiben Ärzte Unmengen Psychopharmaka (Herold-Weiss 1974, 124).

Ernst Klee beschreibt noch 1992 Zustände aus einer Anstalt der ehemaligen DDR: „kahle Säle, bizarr deformierte Behinderte, Männer wie Frauen teils ganz nackt, teils in Windeln, schreiend, klagend, wimmernd. Es hatte sich kaum etwas verändert“ (Klee 1993, 13). Aus einer anderen Einrichtung: „Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Ich sehe die offenen Toiletten, schadhafte Abflußrohre, aus denen der Unrat dringt und den Putz aufquellen läßt. In einem Waschraum werden drei Menschen gebadet, fünf andere auf Stühlen gegenüber abgefertigt. … Die geschlossene Frauenstation ist noch immer dunkel und trostlos, die meisten Frauen liegen im Bett … Aber in der Verwaltung hat sich etwas getan: Die Bilder von Honecker und Stoph sind abgehängt und durch Portraits von Albert Schweitzer und Mutter Theresa ersetzt worden“ (Klee 1993, 99 f.).

In dieser „Atmosphäre abgestumpfter Gleichförmigkeit“ (Bude 2008, 10) verliert das Leben seine Prozesshaftigkeit, es wird geprägt durch die Monotonie des Anstaltsalltags. Es entsteht „ein knäuelhaftes Durcheinander von Geschichten, Beziehungen, Verhältnissen, Geschichten von Verhältnissen …, die sich gegenseitig blockieren und hemmen. Sie sind ein Labyrinth von Sackgassen und Schach-Matt-Situationen, die sich durchkreuzen und sich verdichten“ (Toresini 1990, 3).

Das Verhalten von Menschen, die lange in solchen Anstalten leben, ist durch Apathie und Antriebslosigkeit charakterisiert, „durch Unterwürfigkeit und allgemeinen Interessenverlust … Fehlendes Interesse an der Zukunft und eine offensichtliche Unfähigkeit, praktische Pläne zu machen, ein Vernachlässigen der persönlichen Gewohnheiten der Körper- und Kleiderpflege, ein Abgleiten individueller Ausprägungen im allgemeinen, Verlust an Individualität und Resignation“ (Barton 1974, 12). Dabei sind die Erkenntnisse aus der Hospitalismusforschung schon lange bekannt: Erwachsene Menschen mit Heimvergangenheit zeigen häufig Rückstände im körperlichen Bereich und Motorik, Verzögerungen der seelischen und Gesamtintelligenzentwicklung, Schäden in verschiedenen Intelligenzbereichen wie Sprache, abstraktes Denken, Zeitbegriff (Schmalohr 1968, 65).

Aber hospitalisierte Menschen sind „keine passiven Opfer ihrer Lebensbedingungen, sondern ‚Überlebenskünstler‘, insofern sie sich unter widrigen Umständen zu behaupten wissen. Dieser ‚Selbstschutz‘, der als ‚verhaltensauffällig‘ wahrgenommen werden kann, ist es, der allzu oft Skepsis oder gar mangelndes Interesse gegenüber Initiativen der Veränderung ihrer Lebensbedingungen befördert“ (Theunissen 2012, 97).

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Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8492-X / 377998492X
ISBN-13 978-3-7799-8492-4 / 9783779984924
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