Bezüge auf kulturelle Zugehörigkeiten in Asylerkenntnissen der österreichischen Rechtsprechung -  Doris Böhler

Bezüge auf kulturelle Zugehörigkeiten in Asylerkenntnissen der österreichischen Rechtsprechung (eBook)

Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
302 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8085-8 (ISBN)
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In dieser sekundäranalytisch angelegten Studie wird untersucht, wie Richter*innen im Asylverfahren zwischen problematischer Kulturalisierung und notwendiger Kultursensibilität in der Entscheidungsfindung vorgehen. Das herausfordernde Spannungsfeld der getätigten Kulturbezüge wird mittels durchgeführter qualitativer Inhaltsanalyse der Asylgerichtserkenntnisse anhand zahlreicher Textbeispiele umfassend dargestellt und diskutiert. Im Anschluss werden notwendige Kritiklinien anhand sozialwissenschaftlicher Wissensbestände zur qualitativen Verbesserung der Asylverfahren formuliert.

Doris Böhler, Dr. phil. ist als Professorin im Fachbereich Soziales und Gesundheit an der FH Vorarlberg im Studiengang Soziale Arbeit tätig. Ihr Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind diversitätsbewusste Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, Soziale Diagnostik und Kasuistik.

1Einleitung


Am Anfang dieser Forschungsarbeit standen die Neugierde und das Interesse an der konkreten Durchführung der Asylverfahren mit den unterschiedlichen am Prozess beteiligten Akteur*innen. Sozialarbeiter*innen sind in der Grundversorgung von Asylwerbenden tätig und haben während des Asylverfahrens die Aufgabe, ihre Klient*innen zu informieren und zu begleiten. Bezüglich rechtlicher Fragestellungen zum Ablauf der Verfahren oder der Vorbereitung auf die Anhörungen im Rahmen des Verfahrens verweisen Sozialarbeiter*innen ihre Klient*innen an die zuständigen Rechtsberater*innen. Am Ende des Asylverfahrens vermitteln sie ihren Klient*innen oftmals die Inhalte der getroffenen Entscheidungen aufgrund der vorliegenden schriftlichen Ausführungen der Behörde oder der Gerichte. Die Verfahren sind komplex, international, politisiert und sozialwissenschaftlich noch wenig erforscht. Forschungsinteressen bestehen seitens unterschiedlicher Disziplinen, da das Feld stark transdisziplinär geprägt ist. Die Arbeit startet mit der Beschreibung meiner persönlichen Inspiration für das vorliegende sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben.

1.1Forschungsinteresse


Die intensive Medienberichterstattung im Herbst 2018 über diverse Formulierungen in Asylbescheiden und deren Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung hat mein spezifisches Forschungsinteresse geweckt. In der nationalen und internationalen Presse wurde anhand von einigen Anlassfällen (Brickner, 2018; Die Presse, 2018; Horaczek, 2018) skandalisiert, dass gruppenspezifische Vorurteile in Bezug auf die vorgebrachte Homosexualität der Asylantragsteller dazu führten, dass die geschilderten Verfolgungsgründe als nicht glaubwürdig eingeschätzt und in Folge die Asylgesuche negativ beschieden wurden. In den Presseberichten wurden die Begründungen der Entscheidungen als willkürlich und diskriminierend kritisiert. Die Titel der angeführten Berichte lauteten:

  • „Kein Asyl für schwulen Afghanen: ‚Sind Homosexuelle nicht eher gesellig?“‘ (Horaczek, 2018)

  • „Kein Asyl, weil Homosexueller ‚zu mädchenhaft‘ war“ (Die Presse, 2018)

  • „Wer ist schwul genug für Asyl in Österreich?“ (Brickner, 2018)

Konkrete Textbeispiele aus diesen in der Presse skandalisierten Anlassfällen zeigen die Logik der Argumentation und insbesondere deren Problematik. „Weder ihr Gang, ihr Gehabe oder ihre Bekleidung haben auch nur annähernd darauf hingedeutet, dass sie homosexuell sein könnten“ (Horaczek, 2018). Die Annahme, dass die Homosexualität einer Person an der Kleidung oder am Gang zu erkennen ist, beruht auf gruppenspezifischen Stereotypisierungen. Diese verdrängen die individuelle Betrachtung der Lebenssituation und die spezifische Verfolgungseinschätzung. Das zweite Textbeispiel geht auf das zugeschriebene Alter der Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung in einem entsprechenden kulturellen Kontext ein. Es wurde in Bezug auf die Schilderung von homosexuellen Gefühlen im Alter von 12 Jahren formuliert: „In einer wenig sexuellen Gesellschaft wie der afghanischen, in der es in der Öffentlichkeit keine sexuellen Reize durch Mode und Werbung gibt, ist es nicht sehr wahrscheinlich, bereits so früh ‚sexualisiert‘ zu werden.“ (ebd.) Hier kommt eine Argumentationslogik zur Anwendung, die einen kulturellen Kontext (hier Afghanistan als „wenig sexualisierte“ (ebd.) Gesellschaft) hypostasiert, diesen implizit mit einer ebenso hypostasierten österreichischen Norm (implizit: einer vergleichsweise sexualisierten Gesellschaft) vergleicht und zu generalisierenden Aussagen bezüglich betroffener Individuen führt. Die Beispiele, auf die sich die Presseberichte beziehen, betreffen Asylverfahren, in denen die Vertreter*innen der Behörde – des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA), der ersten Instanz für Asylverfahren in Österreich – entscheiden mussten, ob sie den Schilderungen der Asylsuchenden Glauben schenkten. Eine Verfolgung aufgrund der Homosexualität erkannten sie nicht an. Die in den Entscheidungen enthaltenden Formulierungen wurden als diskriminierend kritisiert1, was das BFA dazu veranlasste, zu dieser Kritik Stellung zu beziehen. Es verwies auf bereits gezogene Konsequenzen, etwa dass einem betroffenen Mitarbeiter die Approbationsbefugnis entzogen wurde und dass es weitere Schulungsmaßnahmen insbesondere im Bereich von LGBTIQ+2 geben würde. Nach einer umfassenden Evaluation von 500 Bescheiden kam die Behörde zu dem Schluss, dass „keine grundsätzlichen strukturellen Defizite“ (BFA, 2018) vorlägen. Sie betonte, dass die Journalist*innen jeweils ein paar wenige Sätze aus den Dokumenten herausgenommen hätten, die nicht die gesamte Realität abbildeten. Mein Forschungsinteresse als Sozialwissenschaftlerin war geweckt.

Die Rechtfertigungslogik des BFA ist nachvollziehbar. Es handelt sich bei den kritisierten Passagen jeweils um wenige Sätze aus den teilweise sehr langen und ausführlich ausformulierten Bescheiden. Der Vorwurf der mangelhaften Durchführung der Asylverfahren bleibt jedoch bestehen, wenn diese Sätze die Argumentation des Gerichts im Kern treffen und offenbar maßgeblich für die Entscheidungen sind. Somit zeigen diese Sätze eine Problematik bei der Einschätzung von asylrelevanten Tatsachen auf. Die Anzahl der erstinstanzlichen Asylentscheidungen, die von der zweiten Instanz, dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG), korrigiert werden, liegt im Jahr 2019 bei in etwa 40 % (BVwG, 2020, S. 345). Als direkte Konsequenz dieser kritischen Berichterstattung über die Formulierungen in den schriftlichen Dokumenten des Asylverfahrens entstand das Erkenntnisinteresse zu erforschen, ob es auch in der Rechtsprechung des BVwG als zweiter Instanz zu entsprechenden gruppenspezifischen Zuschreibungen in Bezug auf die kulturelle Zugehörigkeit der Antragsstellenden kommt.

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin für Soziale Arbeit beschäftige ich mich seit Jahren mit den Themenfeldern rund um kulturelle Kompetenz, Diskriminierung, Flucht und Migration. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind die Debatten geprägt durch Erkenntnisse der Cultural-Studies (u. a. Bhabha, 2000; 2004) und der kritischen Migrationspädagogik (u. a. Castro Varela & Mecheril, 2016), deren Kritik vor allem statische Kulturkonzepte und die aus ihnen resultierenden Diskriminierungen betrifft.

Der Fokus auf Herstellungsprozesse von sozialen Zugehörigkeiten ist aktuell und relevant für unterschiedliche Disziplinen. Wichtig hervorzuheben sind u. a. die Konzepte des ‚Doing Gender‘ (West & Zimmerman, 1987), ‚Doing Difference‘ (West & Fenstermaker, 1995) und ‚Doing Culture‘ (Hörning & Reuter, 2015) bis hin zu spezifischen Prozessen im Bereich der Asylverfahren, die von Affolter (2017) als ‚Doing Credibility‘, also Herstellung von Glaubwürdigkeit bezeichnet wurden. Die komplexen Debatten rund um den Kulturbegriff und die Relevanz sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse bezüglich kultureller Zugehörigkeiten werden in Kapitel 3 ausführlicher dargestellt.

1.2Ausgangslage


Vor der Beschreibung des Forschungsstandes soll die Ausgangslage kompakt dargestellt werden. Dies dient dazu, eine Überleitung vom geweckten Forschungsinteresse hin zum konkretisierten Erkenntnisinteresse zu ermöglichen. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Durchführung der Asylverfahren. Damit soll ein wichtiger Beitrag zur menschenrechtsorientierten Handhabung des Rechts auf Asyl in Österreich geleistet werden.

Das Asylrecht ist stark durch unionsrechtliche Harmonisierungsprozesse geprägt und doch gibt es innerhalb der EU-Staaten sehr unterschiedliche Anerkennungsraten bezüglich der einzelnen Herkunftsländer und auch unterschiedliche gesetzliche Regelungen. Als besondere Herausforderungen im Asylrecht werden von Merli und Pöschl die ‚unpopulären‘ Antragssteller*innen aus dem...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8085-1 / 3779980851
ISBN-13 978-3-7799-8085-8 / 9783779980858
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