Verstehen und Verantwortung in Organisationen und Bildungsprozessen -

Verstehen und Verantwortung in Organisationen und Bildungsprozessen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
358 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8102-2 (ISBN)
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Die Beiträge des Bandes untersuchen mit unterschiedlichen Zugängen und in verschiedenen Praxisbereichen zwei zentrale Haltungen und Perspektiven. Dabei zielt Verstehen auf sozial- und geisteswissenschaftliche Analysen, mit denen wichtige gesellschaftliche Tendenzen erfasst, in ihrer Dynamik erschlossen und in ihren Kontexten reflektiert werden. Verantwortung greift Kritik- und Veränderungspotentiale auf und thematisiert Handlungsstrategien. Der Fokus der Publikation konzentriert sich dabei auf Organisationen - vor allem des Non-Profit-Bereiches - und Bildungsprozesse.

Prof. Dr. Uwe Hirschfeld, heute freiberuflich tätig, zu Amtszeiten als Studiendekan und Prorektor der Evangelische Hochschule Dresden (ehs) für das Lehrgebiet Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Bildung. Wissenschaftlich und politisch engagiert in der Etablierung der Schulsozialarbeit in Sachsen. Mitgründung der Landesarbeitsgemeinschaft Hochschuldidaktik. Zahlreiche Lehraufträge und Vorträge zu sozialarbeitswissenschaftlichen, demokratie- und kulturtheoretischen Themen. Etablierung des Erinnerungspolitischen Fachtags an der ehs und Mitgründung der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem NS. Ulf Liedke ist Professor für Theologische Ethik und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH) und Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Michael Winkler, Dr. phil. habil., war bis 2018 Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik sowie langjährig Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er lehrt heute an der Evangelischen Hochschule Dresden und im Masterstudiengang der ARGE Bildungsmanagement in Wien. Und arbeitet als sozialpädagogischer Schriftsteller.

„Citar es citarse“ – Zitieren heißt sich begegnen.Biografische und wissenschaftliche Fragmente aus dem Denktagebuch


Marlies W. Fröse

„Wir aber glauben,
dass das Interessanteste stets im Schatten verbleibt,
im Unsichtbaren.“ (Tokarczuk 2022, S. 50)

„Tag für Tag geschehen in der Welt Dinge, die sich nicht erklären lassen mit den Gesetzmäßigkeiten, die wir von den Dingen kennen. Tag für Tag werden sie erwähnt und wieder vergessen, und dasselbe Rätsel, das sie brachte, nimmt sie wieder mit, verwandelt ihr Geheimnis in Vergessen. So lautet das Gesetz, demnach alle nicht erklärbaren Dinge dem Vergessen anheimfallen müssen. Die sichtbare Welt nimmt im Sonnenlicht ihren Lauf. Das Fremde aber beobachtet uns aus dem Schatten.“ (Pessoa 2003, S. 401)

1„Citar es citarse“ – Zitieren heißt sich begegnen


„Citar es citarse“ – Zitieren heißt sich begegnen1. Dies ist die Grundlage des nachfolgenden Essays, der nicht der Systematik eines klassischen wissenschaftlichen Textes folgt. Vielmehr werden biografische und wissenschaftliche Fragmente, bestehend aus für mich bedeutsamen und wegbegleitenden Zitaten aus meinem Denktagebuch zusammengestellt.2 Stehen zu bleiben, zu staunen, nachzudenken, zu bedenken, zu erdenken, sprachlos zu werden, erschrocken zu sein, keine Worte zu finden oder zu neuen Gesprächen zu gelangen, weiter zu denken, das ist mein Wunsch. Das Denken in Seitensprüngen wäre möglicherweise eine, wenn nicht sogar die Denkform, in der sich die Geistes- und Sozialwissenschaften selbst begegnen und sozusagen von der Seite her betrachten und verstehen können. Bildung erfahren zu dürfen und im Sinne von Verstehen und Verantwortung sorgsam und achtsam für die Menschenrechte einzutreten – das ist ein wertvolles Geschenk. Sie werden keinen Aufsatz mit Einleitung, Hauptteil und Schluss lesen, obwohl der rote Faden des Denkens in den Fragmenten sich erschließen soll. Es ist wie eine Reise auf einem Fluss, wir schauen uns um – das hatte schon Alexander von Humboldt so wunderbar in seinem Kosmos bildlich beschrieben.

„Citar es citarse“, zitieren heißt sich begegnen (Julio Cortázar). Eine kleine Zahl von Büchern hat mir in jungen Jahren eine Welt des Verstehens von Unklarheiten und Widersprüchen, und somit von Möglichkeiten des Aufbruchs eröffnet. Das war nicht immer selbstverständlich, denn ich komme aus einer Familie, in der es nur wenige Bücher gab. Die ökonomischen Verhältnisse erlaubten dies nicht. An dieser Stelle muss ich oft an den nicht einfachen Lebensweg von Didier Eribon mit seiner Rückkehr nach Reims denken, nicht vergleichbar und doch nah. In diesen jungen Jahren war ich dankbar, dass es Büchereien in meiner Kleinstadt gab. Hier konnten Reisen in andere Länder und Welten beginnen, ob über die Louisiana-Trilogie der amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin Gwen Bristow (heute logischerweise nicht mehr politisch korrekt – viel hat sich zwischenzeitlich gut geändert), die Kinder von Torremolinos von James A. Michener oder über Tom Sawyer und Huckleberry Finn vom amerikanischen Journalisten und Schriftsteller Mark Twain, der weitere beeindruckende journalistische Reisebücher geschrieben hat. Schmunzeln muss ich an dieser Stelle, da es sich nur zum Teil um Weltliteratur handelt. Die Bibliotheken öffneten mir – einem jungen Mädchen, aufgewachsen in einer Kleinstadt am Rande des nördlichen Ruhrgebietes – andere Welten.

Und es gab noch ein zweites Moment: Dieser erklärt sich im Nachhinein aus meiner Berufsbiografie als Sozialarbeiterin, Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Sozialpädagogik. In den 1970er Jahren arbeitete ich als Heimerzieherin in einem Kinderheim. Damals, ich war eine junge Frau, musste ich etliche „Grausamkeiten der Moderne“ wahrnehmen: Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, der nicht geahndet wurde; Elektroschocks an autistischen Kindern, um Reaktionsfähigkeiten zu prüfen; Heimleitungen, die vieles „übersahen“; ein willkürlicher Medikamentenmissbrauch zur Ruhigstellung und anderes mehr. Als junge Frau habe ich mir oft gesagt: Menschen in Organisationen dürfen das doch nicht! Diese und andere Erfahrungen haben mich in die Wissenschaft geführt. Ich wollte und will verstehen, warum und wieso Menschen in Organisationen so handeln wie sie handeln.

Und es gab noch ein familiäres Moment, das meine Suche nach Verstehen beförderte. Unsere Familie hat eine deutsch-deutsche Vergangenheit. Im August 1961 wurde auch meine Familie durch den Bau der Mauer geteilt. Ein Teil der Familie (Eltern, meine Schwester und ich) lebte danach im „Westen“, ein anderer Teil (Großeltern, Verwandte wie auch mein älterer Bruder) im „Osten“. Als Kind habe ich mich oft gefragt: Wie kann es sein, dass unsere Familie getrennt und geteilt ist? Mein Bruder wuchs in einem „kommunistischen“ bzw. „real existierenden sozialistischen“ Land auf. Und wir erlebten die „kapitalistische Hochjunktur“. Die Ideologie des Kalten Krieges prägte unsere Kindheit; nur wir aus dem Westen durften in den Osten. Manches Mal stellten wir uns die Frage: Wenn es einen weiteren Krieg gäbe, würden wir uns als Geschwister umbringen? Das kann doch eigentlich nicht sein.

Hannah Arendts Büchern begegnete ich in diesen jungen Jahren. Arendt wollte die Welt und deren grausamen Geschehnisse verstehen und durchdringen, eine Ahnung des Verstehens, die ich auch haben wollte, auch wenn dies nicht einfach ist. Es gab und gibt so unendlich viele Grausamkeiten …

2Verzerrungen, Ängste, Helden und dann geht das Leben weiter – Gedanken von Nadescha Mandelstam (1899-1980)3, Hans E. Hölscher, Breyton Breytenbach und Jonathan Lear


„Alle historischen Ereignisse erreichen uns mit den spezifischen Verzerrungen, mit denen sie sich im Bewusstsein der Zeitgenossen eingeprägt haben. Tatsachen werden entsprechend den herrschenden Vorstellungen (Konventionen) zurechtgeschliffen, nach denen eine Gesellschaft lebt, sie werden Gesamtkonzeptionen angepasst, die die Menschen immer überrumpeln […]. Analytische Köpfe, die die Macht von Gesamtkonzeptionen brechen, sind notwendig wie die Luft zum Atmen, wie der Wind auf dem Meer, wie das reinigende Gewitter.“ (Nadeschda Mandelstam 2011, S. 41).

„Angst war ein Organisationsprinzip. […] In unserer Gesellschaft gab es in all den Jahren eine sehr genaue Abstufung von menschlichem Material – zwei Pole und dazwischen eine ganz Skala von Übergängen. An den Polen waren zwei gegensätzliche soziale Typen angesiedelt: auf der einen Seite Herolde des Neuen, Voluntaristen, die alle Werte ablehnten, Theoretiker der Macht und Anhänger der Diktatur, auf der anderen Seite diejenigen, die der Macht ihre auf Wertvorstellungen gegründetes Bewusstsein, ‚im Recht zu sein‘, entgegenhielten. Diese beiden konträren Gruppen konnten einander nicht verstehen und wollten es auch nicht. Auf den Pol der Macht wirkte der Pol des Geistes lächerlich, töricht und absurd.“ Nadeschda Mandelstam (2011, S. 9/25).

In der Wochenzeitung DIE ZEIT konnte man am 20. Januar 1949 Folgendes über Helden und Heldenverehrung lesen:4

„Helden der Luft, Helden der See, Helden der Arktis, […] oder wonach sie sonst Helden heißen mögen – Helden über Helden also in einer heillosen Welt. Sie fliegen schneller als der Schall, sie springen unvorstellbar hoch aus ihren Flugzeugen ab, sie tauschen in unermessliche Tiefen hinunter, sie können monate- und jahrelang im ewigen Eis leben, und sie sind darauf vorbereitet – so versichern sie uns bescheiden –, Vernichtung, Brand und Schrecken furchtlos, gedankenlos und fühllos überall dahin zu tragen, wohin ein Befehl sie schicken mag. […] Unsere Art des öffentlichen Heldentums ist mehr eine hektische Krankheit als sichere Stärke. Wenn sie auch von ihren...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8102-5 / 3779981025
ISBN-13 978-3-7799-8102-2 / 9783779981022
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