Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets (eBook)

Die Offenheit von Lernen und Entwicklung

(Autor)

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2024
112 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-9129-0 (ISBN)

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Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets - Renate Kock
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Der vorliegende Band rekonstruiert Célestin Freinets (1896-1966) Theorie des tâtonnement expérimental in seinen Früh- und Spätschriften.

Renate Kock Angestellt als Studienrätin im Hochschuldienst an der Universität zu Köln (Erziehungswissenschaften). Lehramtsstudium für die Sekundarstufe I und II für die Fächer Französisch, Biologie, kath. Religion. I. und II. Staatsexamen. Diplomergänzungsstudium:Pädagogik der Schule und Promotion in Erziehungswissenschaften.

2. Tâtonnement expérimental als Grundbegriff der Theorie Freinets


Das große Gesetz, das wir immer im Zentrum allen menschlichen Verhaltens (recours humains20) finden werden, ist das Gesetz des experimentellen Tastens, dessen Beschaffenheit und Funktionsweise wir untersuchen wollen. (Freinet. In: EPSI, 39. Übers. R. K.)

Die Theorie Freinets, die durch den Begriff tâtonnement expérimental begründet ist (2.1), wird unter Rückbezug auf Freinet selbst durch Pawlows Theorie der Reflexe und in Auseinandersetzung mit dieser interpretiert (2.2). Dabei werden (2.2.1) die für diesen Zusammenhang zentralen Aspekte der Pawlowschen Theorie kurz umrissen und anschließend (2.2.2) wesentliche Aspekte der Freinetschen Reflexologie dargelegt, insbesondere der für die Theorie Freinets entscheidende Aspekt der Durchlässigkeit für Erfahrung. Danach wird, ebenfalls unter Bezugnahme auf Freinet selbst, die Theorie Freinets von der Theorie Piagets abgegrenzt (2.3), und zwar unter den Leitaspekten der Kontinuität oder Diskontinuität in der Entwicklung (2.3.1), der Zielgerichtetheit der Entwicklung (2.3.2) und der Didaktischen Anwendung der Psychologie (2.3.3). Von hierher werden dann (2.4) die zentralen Grundannahmen der Theorie Freinets skizziert.

2.1 Der Begriff tâtonnement expérimental

In seinem zweibändigen Werk Essai de psychologie sensible appliquée à l´ éducation (EPS), das 1950 als letztes der von Freinet während der Kriegszeit verfaßten Bücher von der Coopérative de l´ enseignement laïc (CEL) publiziert wird, faßt Freinet seine Theorie des tâtonnement expérimental zusammen.

2.1.1 Tâtonnement expérimental - expérience tâtonnée

1966 wird der erste Band von EPS (EPSI) bei Delachaux et Niestlé wiederaufgelegt (inzwischen in 4. Aufl. 1978). Es handelt sich - wie Freinet im Vorwort dieser Auflage vermerkt - um eine überarbeitete Fassung. Unter anderem ist hier der ursprüngliche Begriff expérience tâtonnée (ertastete Erfahrung) ersetzt durch den Begriff tâtonnement expérimental (experimentelles Tasten), unter dem die Theorie Freinets heute allgemein bekannt ist.

Den zweiten Teil des Werks (EPSII) läßt Elise Freinet 1971 in der Originalfassung von 1950 wiederauflegen (Delachaux et Niestlé). In diesem Band findet man weiterhin den alten Begriff expérience tâtonnée; ebenso in der von Freinet im April 1948 veröffentlichten, fünfunddreißig Seiten umfassenden Abhandlung zum experimentellen Tasten: L´ expérience tâtonnée (BENP 36) sowie im Educateur bis Anfang der fünfziger Jahre.

Die Änderung der Begriffe hat unterschiedliche Interpretationen gefunden. Piaton differenziert nicht zwischen diesen Begriffen. Ihm zufolge legt Freinet den Schwerpunkt auf das Tasten und fügt später den Zusatz experimentell hinzu.21 Für Schlemminger22 und Lèmery23 ist expérience tâtonnée die erste Stufe des Gesamtprozesses des tâtonnement expérimental. Barré sieht in der Begriffsänderung eine Akzentverschiebung24: der ältere Begriff legt für Barré den Akzent auf das Ergebnis: die Erfahrung; der jüngere Begriff betont für ihn den Prozeß: das Tasten und ist zugleich in einem engeren Sinne wissenschaftsorientiert, d. h. benennt das methodische Vorgehen: experimentelles Tasten.

Elise Freinet interpretiert das Gesamtwerk Freinets als einen Weg "vom pädagogischen Empirismus zur experimentellen Pädagogik" (EOZ, 20). Freinet selbst kommentiert die Begriffs- änderung nicht, betont jedoch den experimentellen Charakter seiner Pädagogik (vgl. EPSI, 12) sowie seiner Bewegung, in der Praktiker auf experimentelle Weise ihre Arbeit und Arbeitsbedingungen reflektieren und verbessern (vgl. La charte pédagogique de l´ école moderne. In: L´ E 8/Jan/1954, 293 ff).

Hier werden die Begriffe experimentelles Tasten oder Tasten verwendet. Daß auch der ältere Begriff ertastete Erfahrung den Blick vor allem auf die konstruktive Dimension des Tastens richtet, belegt auch der Untertitel des 1966 wiederaufgelegten ersten Bandes von Essai de psychologie sensible: acquisition des techniques de vie constructive/Erwerb konstruktiver Lebenstechniken (Übers. R. K).

2.1.2 Tâtonnement expérimental - expérimentation scientifique

Im zweiten, nicht überarbeiteten Teil von Essai de psychologie sensible von 1950 (vgl. EPSII, 137) differenziert Freinet zwischen den Begriffen expérience tâtonnée empirique (empirisch ertastete Erfahrung) und expérience tâtonnée méthodique et scientifique (methodisch und wissenschaftlich ertastete Erfahrung).

In seinem Spätwerk von 1965/66 (vgl. LTE, 66) stellt Freinet in demselben Sinne neben den Begriff tâtonnement expérimental als alleinige Grundlage jeder wissenschaftlichen Forschung (recherche scientifique) und jeder Erfindung den Begriff expérimentation scientifique, wissenschaftliches Experimentieren: die wissenschaftliche Absicherung und Einordnung des Erforschten, die dann methodisch gesicherten Zugang zu den neuen Erkenntnissen gewährleisten und die Voraussetzung bilden für experimentelle Lehre (apprentissage expérimental).

Um auf dem Weg experimentellen Tastens selbst wissenschaftlich forschen zu können, benötigen die SchülerInnen eine Einführung, die sich nicht auf dem Weg genuinen experi- mentellen Tastens erreichen läßt, wohl aber durch eine experimentelle Lehre, wobei es nach Freinet Aufgabe der LehrerInnen ist, die Bedingungen dieser Lehre festzulegen. Um die Vermittlung toten Lehrbuchwissens zu vermeiden und dem eigenen Lernrhythmus der Kinder entsprechen zu können, muß nach Freinet die experimentelle Lehre selbst als experimentelles Tasten gestaltet sein, und zwar mit Blick auf forschendes experimentelles Tasten und die Maßgaben wissenschaftlichen Experimentierens.

2.2 Tâtonnement expérimental und Pawlows Theorie der Reflexe

Beide Bände von EPS (Band 1 in der von Freinet überarbeiteten Fassung, Band 2 in der Urfasssung) werden in die Oeuvres pédagogiques von 1994 aufgenommen. Das En guise de préface von 1966 wird nicht übernommen. In diesem Vorwort kündigt Freinet ein weiteres - über die einzelnen verstreuten Aufsätze im Educateur hinausgehendes (R. K.) - Werk zum tâtonnement expérimental an, das aufzeigen soll, wie Theorie und Praxis des experimentellen Tastens der ersten Stufe (Hervorhebung R. K.) der Prinzipien der Pawlowschen konditionierten Reflexe entsprechen.

Bleibt uns noch die Aufgabe zu zeigen, wie unsere Theorie und Praxis sich in die erste Stufe der Prinzipien der Pawlowschen konditionierten Reflexe eingliedern. Das wird Aufgabe unseres nächsten Buches sein ...(EPSI, 6. Übers. R. K.)

Ein erster Entwurf von vierzig Seiten wird von Freinet im August 1965 fertiggestellt und im Februar 1966 in einem Rundschreiben den Mitgliedern des Institut Freinet als Diskussionsgrundlage mit dem Ziel einer späteren Veröffentlichung vorgestellt: Le tâtonnement expérimental (LTE). Collection documents de l´ Institut Freinet. N° 1. Freinets Tod im Oktober 1966 ermöglicht die Vollendung dieses Werkes nicht mehr. Es wird als Supplé- ment périodique des L´ Educateur de travail et de recherches vom April 1976 wieder- veröffentlicht.

Freinet zieht Parallelen zwischen seiner Theorie des experimentellen Tastens und dem Ansatz Pawlows. Mit dem Verweis auf die erste Stufe der Pawlowschen Prinzipien schließt Freinet dabei einen Bezug seiner Theorie zu dem, was Pawlow Konditionierung zweiter (oder höherer) Ordnung nennt, ausdrücklich aus. Bei der Konditionierung zweiter Ordnung wird ein konditionierter Stimulus erster Ordnung zur Verstärkung der Reaktion in Paarung mit einem Stimulus zweiter Ordnung verwendet. Diese Konditionierung höherer Ordnung ermöglicht, "Verstärkungsmacht" und Reaktion von einem Stimulus auf beliebige andere Stimuli zu übertragen, und zwar - nach der ersten Stufe - ohne weitere primäre Verstärkung.25 Hiermit kann z. B. erklärt werden, wie Geld oder verbales Lob ihren Verstärkungswert erwerben.

Freinets Ziel ist - wie er auch an anderer Stelle in Auseinandersetzung mit dem Ansatz Skinners26 wiederholt deutlich macht (vgl. z. B. LTE, 58 ) - nicht das Verstärkungslernen, nicht die Kontrolle und Steuerung menschlichen Verhaltens durch Änderung relevanter Bedingungen (vgl. auch Tâtonnement et dressage. EPSI, 53 - 55), sondern der Versuch, eine neue, logische und überzeugende Erklärung der komplexen Probleme menschlichen Verhaltens und Lernens zu liefern (vgl. EPSI,...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Célestin Freinet • Frankreich • Reformpädagogik • tâtonnement expérimental • Unterricht und Schule
ISBN-10 3-7597-9129-8 / 3759791298
ISBN-13 978-3-7597-9129-0 / 9783759791290
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