Was Resilienz stärkt -

Was Resilienz stärkt (eBook)

Chancen und Risiken eines boomenden Konzepts
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043261-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
31,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Das Konzept der Resilienz hat in der Psychologie und Pädagogik, aber auch im öffentlichen Diskurs eine erstaunliche Karriere gemacht. Die einen verknüpfen damit hohe Erwartungen an eine Verbesserung der seelischen Gesundheit durch die systematische Förderung der psychischen Abwehrkräfte. Von anderen wird es als individualisierendes Konzept heftig kritisiert, das die Verwundbarkeit von Kindern übersieht und von der Verbesserung belastender Lebensverhältnisse eher ablenkt. Das Buch prägt der Anspruch, sowohl die Fortschritte und Chancen der Resilienzforschung und -förderung angesichts aktueller Krisen und Transformationsprozesse in unseren Gesellschaften konstruktiv zu erörtern als auch die Risiken und Grenzen des Ansatzes kritisch zu reflektieren.

Dr. Ulrike Graf ist Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Rolf Göppel ist dort Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt 'Allgemeine Pädagogik'.

Dr. Ulrike Graf ist Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Rolf Göppel ist dort Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt "Allgemeine Pädagogik".

Einleitung: Resilienz – Chancen und Risiken eines boomenden Konzepts


Rolf Göppel & Ulrike Graf

Der Titel für diesen Band ist bewusst doppelsinnig gewählt: Er knüpft einerseits an den Titel des Sammelbandes »Was Kinder stärkt« von Opp, Fingerle und Freytag (1999) an, der zurecht als »Auftakt zum Resilienzdiskurs in den Erziehungswissenschaften« eingestuft wurde (Frindt 2020, S. 84). Somit zielt er auf die Frage nach dem heutigen Wissen darüber, was Resilienz von Kindern und Jugendlichen unterstützt, was ihre seelischen Widerstandskräfte aufbaut und stärkt. Zweifellos ist es eine pädagogisch hochbedeutsame Frage, wie man seelische Widerstandskraft, also Selbstvertrauen, Zuversicht und Lebensmut, gerade bei jenen Kindern und Jugendlichen fördern kann, die mit erheblichen Entwicklungsrisiken aufgewachsen sind oder aktuell mit besonders belastenden Lebensumständen oder Lebensereignissen zurechtkommen müssen.

Der Titel kann aber auch noch anders verstanden werden, nämlich als Frage danach, welche gesellschaftlichen Tendenzen und welche Konstruktionen von Kindheit und Jugend durch die forcierte Betonung der Resilienz-Thematik, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten ist, gestärkt werden. Sind es eventuell Tendenzen der (Selbst-)‌Optimierung? Phantasmen der Stress-Immunisierung? Trends der Verleugnung von Vulnerabilität, Abhängigkeit und Angewiesenheit von Kindern und Jugendlichen?

Der sperrige, aus dem Amerikanischen eingedeutschte Begriff Resilienz, der ursprünglich aus der Materialforschung stammt, hat seit jenem »Auftakt« eine erstaunliche, damals kaum vorauszusehende Karriere gemacht. Von daher kann man in der Tat von einem »boomenden Konzept« sprechen. Die Verwendung des Begriffs in der deutschsprachigen Literatur verzeichnet laut Googles Ngram Viewer seit Anfang der 2000er Jahre ein exponentielles Wachstum und der Trend dürfte sich gerade in den letzten Jahren unter dem Einfluss der multiplen Krisen (Göppel, Gstach & Wininger 2023) noch einmal deutlich beschleunigt haben. Es scheint, dass jener Begriff der Resilienz, der in Deutschland als exotischer Fachterminus lange nur in entsprechenden Insiderkreisen Verwendung fand, nun endgültig in die populärwissenschaftlichen Journale, die Feuilletons, die Lebenshilfebücher und damit in die Alltagssprache diffundiert ist. Eine kaum mehr zu überblickende Zahl von populären Ratgebern zum Thema kommt zumeist mit ziemlich simplen Erklärungen und großen Verheißungen daher. Die Symbolik, die sich auf den entsprechenden Buchcovern findet, ist in diesem Sinne bezeichnend: Meist ist es das berühmte »Stehaufmännchen«, das als Symbol gewählt wird, häufig aber auch der Schirm, der alle Widrigkeiten des Schicksals und des Alltags abhält, oder das Pflänzchen, das unaufhaltsam aus dem unwirtlichen Asphalt hervorsprießt. Oder aber der Lenkdrachen, mit dem man geschickt die Kräfte des Sturmes für eigene Zwecke nutzen kann, bzw. der Fels oder der Leuchtturm, der den heftigsten Brandungswellen standhält.

Gerade in den Zeiten der Corona-Krise hat das Resilienz-Konzept noch einmal deutlich an Popularität zugelegt. Denn die Frage nach den seelischen Abwehrkräften, die den Menschen helfen, mit all den Verunsicherungen und Ängsten sowie mit den Einschränkungen und Belastungen des Alltagslebens zurechtzukommen, trotz alledem gelassen und zuversichtlich zu bleiben, ist natürlich gerade in Pandemiezeiten besonders bedeutsam. Und wer konnte nicht beobachten, dass unterschiedliche Menschen diese gemeinsame Krise sehr unterschiedlich erlebten? Auch im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Klima-Krise tauchen immer häufiger Bezugnahmen auf das Resilienzkonzept auf. Sowohl im Hinblick auf die Menschen, die Resilienz benötigen, um mit den entsprechenden Zukunftsszenarien und den Vorboten des Klimawandels (Hitzewellen, Extremwetterereignisse) zurechtzukommen, als auch im Hinblick auf die Natur selbst, wenn etwa von der Resilienz von Ökosystemen die Rede ist und danach gefragt wird, wie Wälder, Felder und Weinberge verändert werden müssen, damit sie den veränderten klimatischen Bedingungen trotzen können.

Und mit Krieg und Flucht in Europa und dem, was dies an Verlusten, an seelischen Belastungen und Traumata für die Betroffenen, insbesondere für Kinder und Jugendliche mit sich bringt, hat wiederum das Thema Resilienz, also die Frage danach, warum unterschiedliche Menschen mit ähnlichen Konstellationen durchaus unterschiedlich umgehen, warum es manchen gelingt, sich trotz alledem erstaunlich gut und gesund im Leben zu behaupten, derzeit noch einmal eine besondere Aktualität gewonnen.

Doch nicht nur als faszinierendes (entwicklungs-)‌psychologisches Phänomen findet das Thema der Resilienz immer größere Beachtung, sondern auch als (sonder-)‌pädagogische Aufgabe. Denn es stellt sich beim Thema Resilienz natürlich die Frage, was Eltern, was Erzieher/innen und was Lehrkräfte tun können, um jene Widerstandskraft bei den Kindern zu stärken, und ob es sinnvoll und möglich ist, dass Bildungsinstitutionen den Auftrag der Resilienzförderung gezielt und systematisch in ihr Programm aufnehmen. Inzwischen wurde das Resilienzkonzept tatsächlich auch in diverse pädagogische Förderprogramme umgesetzt. Diese machen z. T. sehr weitreichende Versprechungen. So ist z. B. auf dem Cover des Buches »Resilienz. Widerstandsfähigkeit stärken – Leistung steigern« von Annie Greef (2008), das »praktische Materialien für die Grundschule mit Kopiervorlagen« bietet, zu lesen:

»Mithilfe der sechs ausgearbeiteten Einheiten des Bandes stärken Sie das Vertrauen der Kinder und Heranwachsenden in die eigenen Fähigkeiten. Die Übungen [...] fördern und festigen gezielt das Selbstbewusstsein, die Durchsetzungskraft, Widerstandsfähigkeit und Toleranz der Kinder. Das positive Resultat ist eine kontinuierliche schulische Leistungssteigerung.«

Und auf dem Trainingsbuch »Die sieben Säulen der Resilienz« wirbt Emilia Morel (2021) mit dem Versprechen, den erwachsenen Leser/innen Anleitung zu geben, »Wie Sie mit den Powermethoden eiserne Resilienz trainieren, absolut stressresistent werden und eiserne Widerstandskraft aufbauen«.

Dabei ist freilich keineswegs klar, inwiefern die immer stärkere Popularisierung des Resilienzkonzepts und die Aufladung mit immer größeren Ambitionen und Verheißungen im Hinblick auf die pädagogische Machbarkeit von seelischer Widerstandskraft tatsächlich in direkt proportionalem Verhältnis zu substantiell neuen und spektakulären Erkenntnissen im Feld der Resilienzforschung stehen. Immer noch wird nämlich vor allem auf die »Mutter aller Resilienz-Studien«, die Kauai-Studie von Emmy Werner verwiesen, die bereits im Jahr 1955 gestartet ist und deren letzte Erhebungswelle inzwischen schon mehr als 30 Jahre zurückliegt (Werner 1992). Immer wieder werden in der aktuellen Literatur Kataloge von »personalen« und »sozialen Schutzfaktoren« präsentiert, die denen von Werner weitgehend gleichen (vgl. Werner 1997, S. 203).

Von Ann S. Masten wurde inzwischen eine Abfolge unterschiedlicher Phasen der Resilienzforschung beschrieben und damit die Verlagerung der Interessens- und Forschungsschwerpunkte seit jener »Initial-Studie« von Werner nachgezeichnet. Grundsätzlich ist im Zusammenhang mit Resilienz heute kaum mehr von »Invulnerabilität« die Rede, also von Kindern mit ganz besonderen, quasi »magischen« Persönlichkeitseigenschaften, welche sie gegen die Unbillen des Schicksals feien, sondern es wird zumeist anerkannt, dass alle Kinder eine Belastungsgrenze haben und dass gravierende Defizite unweigerlich ihre Spuren hinterlassen. Unter dem Stichwort »Ordinary Magic« (Masten 2014) wird weiterhin darauf hingewiesen, dass jene Kinder und Jugendliche, die als besonders resilient auffallen, in der Regel eben doch einfach etwas mehr Unterstützung hatten und diese wiederum etwas besser nutzen konnten als andere. In dem Sinne heißt es: »Widerstandskraft geht aus den adaptiven Systemen hervor, wie sie für die Kindesentwicklung gang und gäbe sind« (Masten 2016, S. 25). Zudem wird im Hinblick auf die Idee der Resilienzförderung neben der Stärkung individueller Ressourcen zunehmend die Notwendigkeit gesehen, auch auf politisch-struktureller Ebene präventiv zu steuern und dafür zu sorgen, dass bestimmte Belastungen erst gar nicht entstehen (Hart et al. 2016).

Neben dieser Entmystifizierung des Resilienzbegriffs ist in jüngerer Zeit auch dessen weitreichende Entgrenzung zu beobachten. Denn inzwischen wurde dieser Begriff aus seiner ursprünglichen Heimat in der Materialforschung und seiner »Zweitheimat« in der Psychologie herausgelöst und immer häufiger auf komplexe Systeme ganz unterschiedlicher Art bezogen. Als abstrakter Systembegriff lässt er sich dann gleichermaßen auf Lieferketten, Unternehmensstrukturen, Finanzinstitute, Armeen, Gesundheitssysteme, Computernetzwerke und auf kindliche Entwicklungsverläufe sowie auf menschliche Bewältigungsprozesse im weiteren Lebenslauf anwenden. Allerdings fordert Masten: »Idealerweise sollte Resilienz so definiert werden, dass man sie auf vielen Ebenen anwenden kann, von...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Abwehr • Seelisches Gleichgewicht • Verwundbarkeit
ISBN-10 3-17-043261-3 / 3170432613
ISBN-13 978-3-17-043261-1 / 9783170432611
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
30,99
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
30,99