Zusammensein (eBook)
2016 wird Hadija Haruna-Oelker Mutter eines behinderten Kindes. Immer wieder trifft sie auf Barrieren und trennende Systeme, die seit Jahrzehnten bekannt sind: Bürokratie, pseudoinklusive Schulen oder unhinterfragte Diskriminierungen und Abwertungen im Alltag. Warum fehlt es an umfassender Teilhabe und Teilgabe für behinderte Menschen? Und wie treten wir dem Erstarken sozialdarwinistischer Vorstellungen in unserer Gesellschaft entgegen?
Aus einer Schwarzen, intersektionalen Perspektive spürt die Journalistin und Politikwissenschaftlerin nichterzählten Geschichten, verdrängten Verbrechen in der Vergangenheit und starken Stimmen der Gegenwart nach. Auf ihren heranwachsenden Sohn blickt sie in der Überzeugung, dass in Kindheiten die Kraft liegt, Trennungen zu überwinden und Ungesagtes auszusprechen. In ihrer so persönlichen wie politischen Geschichte zeigt sie, wie Inklusion konkret umgesetzt werden kann. Sie plädiert für ein umfassendes gesellschaftspolitisches Nachdenken, einen Perspektivwechsel und ein Verständnis für Menschenrechte. Und nicht zuletzt für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit, in der alle selbstbestimmt leben können.
Mit Kapitelzusammenfassungen in Einfacher Sprache. Übersetzt von Laura Heidrich und Kori Klima.
Die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich ist sie für den Hessischen Rundfunk tätig. Sie moderiert die Römerberggespräche in Frankfurt, das Debattenformat »StreitBar« in der Bildungsstätte Anne Frank und die feministische Presserunde der Heinrich-Böll-Stiftung. In der Frankfurter Rundschau schreibt sie eine monatliche Kolumne. Außerdem ist sie zusammen mit Max Czollek Host des Erinnerungspodcasts »Trauer & Turnschuh«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Soziales, Rassismus- und Diversitätsforschung. Hadija Haruna-Oelker hat gemeinsam mit Kübra Gümü?ay und Uda Strätling »The Hill We Climb« von Amanda Gorman übersetzt. Anfang 2022 erschien ihr persönliches Sachbuch »Die Schönheit der Differenz - Miteinander anders denken«, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Sie ist Preisträgerin verschiedener Medienpreise wie dem ARD-Hörfunkpreis Kurt Magnus 2015 oder dem Medienspiegel-Sonderpreis für transparenten Journalismus 2021. Darüber hinaus ist sie Teil des Journalist*innenverbandes Neue Deutsche Medienmacher*innen (NDM) und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD).
Deutsche Zustände
Du kannst auf nichts hinarbeiten,
wenn du nicht weißt,
dass es existiert.
– James LeBrecht
Es war 2016, als wir zu einer Veranstaltung für behinderte und chronisch kranke Kinder eingeladen waren. Die Dream Night im Zoo in Frankfurt am Main, eine Art geschützter Raum, der mit Rahmenprogramm bespielt wurde. Dieser Besuch war für mich eine so schöne wie schmerzhafte Erfahrung. Denn als mein Mann und ich unser damals noch nicht ein Jahr altes Kind im Buggy durch die Anlage schieben, sehe ich sie alle zum ersten Mal an einem öffentlichen Ort versammelt. All die jungen Menschen, die aus unserem Alltag verdrängt und von klein auf ausgesondert werden, mit denen viele nichtbehinderte Menschen nur selten in Kontakt kommen. Es sind Kinder aller Unterschiede. Eine Vielfalt, die in den meisten Medien, in Büchern und öffentlichen Räumen fehlt und bis heute nur in bestimmten Blasen wahrnehmbar wird. Kinder, die ein unterschiedliches Merkmal verbindet und deren Geschichten so verschieden sind. Die zu einer Gruppe gezählt werden und doch keine sind, weil kein Kind, kein Mensch sich nur durch ein Merkmal auszeichnet, das ihm von außen als Erstes dominant zugeschrieben wird.
Seit diesem Abend beschäftigt mich die Frage nach dem »Warum«. Warum die Trennung? Warum fehlt ein Miteinander von nichtbehinderten und behinderten Menschen in unserem Alltag? Kein Kontakt, keine Öffnung, kein Zusammensein. Warum gibt es diese Leere, eine Lücke zwischen uns? Und warum wird einer so großen, heterogenen Gruppe in Deutschland ein gleichberechtigtes Leben verwehrt?
Für mich ist klar, dass ich es so nicht für mein Kind und kein anderes möchte. Nicht für uns als Familien, die wir in Deutschland Teil einer Gemeinschaft sind, die wenig wahrgenommen, der aber viel Pauschalisierendes zugeschrieben wird. Zum jetzigen Zeitpunkt dieses Buch über Behinderung zu schreiben, ist für mich ein privater wie politischer Akt. So wie es für mich politisch ist, Schwarz zu sein. Ein theoretisches Wissen darüber musste ich mir in beiden Fällen erarbeiten und auf unterschiedliche, reale Weise erleben und miterleben. Texte lesen, in Gesprächen mit Menschen sein, die es betrifft, in mich hineinhören, beobachten, nachdenken und immer bereit bleiben, weiter zu lernen über Lebenserfahrungen, die nicht in eine Schublade gepackt werden können. Und gleichzeitig ist dieses Buch mehr für mich. Es ist ein dringendes und drängendes und bei aller Rationalität, gesellschaftlicher Analyse und wissenschaftlicher Erkenntnis mit einer starken Emotion verbunden. Weil es mir um etwas geht: um das Kostbarste, das ich habe. Mein Kind. Für das ich der Rückenwind sein will, den es sich im Laufe seines Lebens wünscht. Und hoffe, dass es in einer Weite über sich zu denken lernt, in der Fremdbestimmung keinen Platz hat.
Für das eigene Kind gegen Ungerechtigkeit anzuschreiben, legt eine andere Energie ins Fühlen, Denken und Formulieren. Daraus mache ich keinen Hehl, daraus schöpfe ich Kraft. Die gemeinsame Zeit mit meinem Kind hat mich mehr als alles andere dazu aufgefordert, stark und laut zu bleiben, so wie ich es bereits als Kind für mich selbst sein musste. Und so ziehe ich weiter auf meinem Weg der Emanzipation und zeige auf dieser Reise mein Wachsen und Werden in einer politisch-bewussten und machtkritischen Elternschaft. Ich setze damit fort, was ich in meinem ersten Buch Die Schönheit der Differenz begonnen habe. Das eine Einladung war, die ich erneut ausspreche. Dieses Mal, um sich mit der Frage des Zusammenseins in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, in der Menschen ausgeschlossen werden. Dabei plädiere ich für eine kritische Auseinandersetzung, wie sie die Literaturwissenschaftlerin bell hooks in Teaching Critical Thinking empfahl. Also nicht nur vordergründige Wahrheiten verstehen zu wollen, sondern fragend unter die Oberfläche zu gelangen. Und dabei das eigene Leben und die Welt um sich herum zu betrachten und Situationen zu hinterfragen, die für selbstverständlich gehalten werden.
Kritisches Denken ermöglicht, die Perspektive zu wechseln und sich der eigenen Vorurteile und Involviertheit innerhalb von Ungleichheitsverhältnissen bewusst zu werden. In diesem Zusammenhang hielt hooks junge Menschen für die geborenen kritischen Denker*innen, weil sie ihren Platz in unserer Welt erst noch finden müssen. Kinder erschließen sich die Welt durch Antworten auf ihre Fragen. Sie wollen das Wer und Wie, das Was und Wo, das Wann und Warum des Lebens verstehen. Und ich glaube, dass erwachsene Menschen, während sie Kinder begleiten oder beobachten, mit und von ihnen lernen können. Denn durch sie lässt sich verstehen, wie unsere Sozialisation und Prägung im erwachsenen Alter auf uns wirkt. Kinder laden uns ein, darüber zu reflektieren, was uns selbst in unserer Kindheit vorenthalten oder an fälschlichen Vorstellungen in uns geprägt wurde. Schließlich waren wir alle einmal jung und standen mit dem Zeitpunkt unserer Geburt auf der gleichen Startlinie, um dann aber unterschiedlich weiterzukommen.
An Kindheiten lässt sich ablesen, wie wir werden und was andere aus uns machen. Sie zeigen uns, wo wir als Gesellschaft stehen. Darum nehme ich sie zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Zumal auch Kinder für die Zukunft eine Idee davon brauchen, was ein Zusammensein unterschiedlicher Menschen bedeutet, damit es selbstverständlich für sie wird. Dabei verstehe ich meine Worte als eine Momentaufnahme aktueller Zustände in Deutschland. Wo die Lebensbedingungen noch nie für alle Menschen gerecht waren, aber es vielen in Zukunft schlechter gehen wird. Kriege, Flucht- und Migrationsbewegungen, die Klimakrise mit Stürmen, Hitze und Wassermangel, Artensterben und andere planetare Herausforderungen. Rund 72 Prozent der Weltbevölkerung leben unter autokratischen Regierungen. Und seit der Coronapandemie, dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der humanitären Kriegskatastrophe in Gaza nach dem terroristischen Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den immer größeren Erfolgen rechter Kräfte und ihrer Parteien haben sich nicht nur die politischen Debatten hierzulande spürbar verschärft. Überall lassen sich gesellschaftliche Brüche beobachten, die ein Gefühl der Spaltung verstärken und den Eindruck vermitteln, dass es ein »Wir« nicht gibt.
Darum ist es kein Wunder, dass der Wunsch nach Diversität weniger spürbar ist, dass er sich sogar ins Gegenteil verkehrt. Wir Zeiten erleben, in denen es für viele nur eine Perspektive, Wahrheit und Richtlinie gibt. In denen ein Kulturkampf Menschenrechte abschätzig als woke Debatte adressiert und sich wenige differenziert mit dem Prinzip einer politischen Achtsamkeit auseinandersetzen.
Das Sündenbockprinzip ist und bleibt erfolgreich, weil die Abwertung anderer es Menschen schon immer leicht gemacht hat, sich vom Wesentlichen abzulenken. Zumal immer alle mitdenken zu wollen, ein hehrer Vorsatz ist, der vielen auch zu viel ist. Da ist keine Zeit, Kraft oder Verständnis, sich auch noch um die Anliegen marginalisierter Menschen zu kümmern. Insgesamt ist die Mitte unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr stabil. Sie galt zunächst als fragil, dann als gefordert und zuletzt als »distanzierte Mitte«, die geschrumpft und insgesamt nach rechts gerückt ist, wie die gleichnamige Langzeitstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung erklärt.
Klar ist jetzt, dass sich Menschen schon lange in wachsender Zahl antidemokratischen Bewegungen zuwenden. Und nicht wenige sich dabei nostalgisch auf den Wert einer diffusen Vergangenheit beziehen, in der nicht alle vorkommen. Das erklärt ein Wiedererstarken sozialdarwinistischer Ansichten, die Sozialhilfeempfänger*innen, wohnungslose oder behinderte Menschen als »minderwertig« und überflüssig bezeichnen. Was Erinnerungen an eine nationalsozialistische Vergangenheit weckt, die in so vielen Punkten, wie dem Massenmord an behinderten und kranken Menschen, nicht gut aufgearbeitet ist. Weshalb es nicht nur für jüdische, queere, Schwarze Menschen und Sinti*zze und Rom*nja, sondern auch für sie keinen »Schlussstrich« in der Geschichte gibt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es Jahrzehnte gedauert, bis eine umfassende Aufarbeitung der Verbrechen an den etwa 300000 behinderten und kranken Menschen und den rund 400000 zwangssterilisierten Personen in Deutschland begonnen hat. Heute ist es eine traurige Tatsache in Deutschland, dass trotz Grundgesetz und der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 gilt, Ausgrenzung, Anfeindungen und Entmündigungen eine allgegenwärtige Erfahrung für sie ist. Eine, die sich in alltäglichen Situationen zeigt: in der Sprache, in Vorstellungen, Denkmustern und Haltungen. Aber auch in Debatten über Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik, in der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, der Sterbehilfe und in tabuisierten Praxen, in der sogenannten Behindertenhilfe, die ein Netz aus Institutionen, Behörden, Ämtern und formellen Vorgaben stützt, an denen Fachleute aus Medizin, Pädagogik, Psychologie und sozialer Arbeit beteiligt sind. Aber eben auch in der Gewalt an behinderten Menschen und dem Mangel an Maßnahmen zu ihrem Schutz.
»Wir werden nicht als Behinderte geboren, wir werden zu Behinderten gemacht«, schrieb Rebecca Maskos schon vor über einem Jahrzehnt in Anlehnung an die bekannte Formulierung von Simone de Beauvoir über die Konstruktion des Frauseins. Maskos kämpft mit anderen behindertenrechtsbewegten Menschen dafür, Behinderung nicht nur auf medizinische Fragen und Defizitdenken zu reduzieren. Weil Körper eben nicht nur Körper sind, sondern diese gesellschaftlich konstruiert und bewertet werden. Und behinderte Körper werden dabei meistens abgewertet...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Ableismus • Alltagsdiskriminierung • Aufarbeitung der Vergangenheit • Barrierefreiheit • Behinderte Kinder • Behinderung • Diskriminierung • eBooks • Einfache Sprache • Inklusion • Intersektionalität • judyta smykowski • Leben mit behindertem Kind • luisa l'audace • Mareice Kaiser • Marginalisierung • Neuerscheinung • Raul Krauthausen • Sachbuch • schönheit der differenz • Soziale Teilhabe • Teilgabe • Teilhabe • Teun Toebes • zusammen sein |
ISBN-10 | 3-641-28099-0 / 3641280990 |
ISBN-13 | 978-3-641-28099-4 / 9783641280994 |
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Größe: 1,6 MB
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