Alles muss anders bleiben (eBook)

Eine politische Autobiografie | Der Grünen-Politiker über ein halbes Jahrhundert deutsche Politik
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2024 | 1. Auflage
392 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44915-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles muss anders bleiben -  Jürgen Trittin
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Von den Siebzigern bis heute: ein politisches Leben in der Bundesrepublik »Stur, unnahbar, dogmatisch? In seinen Erinnerungen zeichnet der Grüne Jürgen Trittin ein anderes Bild.« - Süddeutsche Zeitung Als Nachkriegskind ist der Grünen-Politiker Jürgen Trittin Zeuge und Protagonist der politischen Geschichte Deutschlands seit den frühen Siebzigerjahren. Als Student und Hausbesetzer erlebte er die sozialliberalen Jahre, während der Kohl-Regierung baute er die Grünen mit auf, war Landesminister und ebnete den Weg zur grünen Regierungsbeteiligung im Bund 1998 und erneut 2021. Entlang politischer Wegmarken zieht er nun Bilanz. Seine autobiografischen Betrachtungen sind mehr als persönliche und engagierte Zeugnisse - sie sind ein Stück Zeitgeschichte. Vier autobiografische Essays zur deutschen Politik »Ich hasse Ungerechtigkeiten.« Dieser Satz von Clint Eastwood aus Für eine Handvoll Dollar steht am Anfang dieses Buches. Denn wenn wir die Welt erhalten wollen, müssen wir sie verändern.- Jürgen Trittin Jürgen Trittin widmet den zentralen Themen seines politischen Lebens. Dabei wirft er jeweils einen Blick auf Ungerechtigkeiten: auf die Ungerechtigkeit des Ausschlusses von Menschen aus der Demokratie. Auf die Ungerechtigkeit der Reichtumsverteilung. Auf die Ungerechtigkeit und das Leid von Kriegen. Auf die Ungerechtigkeit der Klimakrise, die jene am stärksten trifft, die sie am wenigsten verursacht haben. Er erzählt von der Anfangszeit der Grünen, seinen Ministerjahren in Niedersachsen und der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, von den langen Jahren in der Opposition und schließlich der lagerübergreifenden Koalition mit SPD und FDP seit 2021. Im Zentrum seines Buches steht das Konzept einer wertegeleiteten Realpolitik, die durch Veränderung Sicherheit schafft. Nach einem halben Jahrhundert in der Politik gelingt Jürgen Trittin ein eindrucksvolles Porträt Deutschlands im Zeitalter beschleunigten globalen Wandels.

Jürgen Trittin, geb. 1954, war 25 Jahre lang Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen, bevor er im Januar 2024 sein Mandat niederlegte. Von 2009 bis 2013 war er Fraktionsvorsitzender, von 2014 bis 2024 Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, zuletzt außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Mitglied der Grünen ist er seit 1980 und hatte in der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene von 1998 bis 2005 das Amt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit inne. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für Energiepolitik und globale Gerechtigkeit.

Jürgen Trittin, geb. 1954, war 25 Jahre lang Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen, bevor er im Januar 2024 sein Mandat niederlegte. Von 2009 bis 2013 war er Fraktionsvorsitzender, von 2014 bis 2024 Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, zuletzt außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Mitglied der Grünen ist er seit 1980 und hatte in der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene von 1998 bis 2005 das Amt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit inne. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für Energiepolitik und globale Gerechtigkeit. Stefan Reinecke (Jg. 1959) ist ein deutscher Journalist und Publizist. Seit 2002 arbeitet er für die taz.

»Ich hasse Ungerechtigkeiten«


»Wieso Clint Eastwood?«, wurde ich gelegentlich von Besucherinnen oder Besuchern in meinem Büro im Bundestag gefragt. In der Tat hing da ein Schwarz-Weiß-Porträt des Schauspielers. Es war der limitierte Druck eines Fotos, das der große Regisseur Sergio Leone gemacht hat – ein Geschenk meiner Frau Angelika.

Eastwood war nicht nur »Dirty Harry«. Er ist Republikaner und war zwei Jahre Bürgermeister von Carmel in Kalifornien. Auf dem Republikaner-Parteitag 2012 legte er einen peinlichen Auftritt hin, als er mit einem leeren Stuhl ein Streitgespräch mit Barack Obama simulierte. Er wollte dessen Wiederwahl verhindern. Alles keine guten Gründe, im Büro eines Grünen zu hängen. Auch sein Engagement gegen den Ausbau der State Road 241 in Kalifornien ist kein starkes Argument.

Der Grund ist Joe. »Joe, der Fremde« ist der Held in Leones Film »Für eine Handvoll Dollar« aus dem Jahr 1964. Er war der Auftakt von Leones »Dollar«-Trilogie, mit dem dieser das Genre des Italowestern begründete. Dafür transferierte er den Samuraifilm »Yojimbo – Der Leibwächter« von Akira Kurosawa in den Westen – inszeniert zur Musik von Ennio Morricone.

Joe ist ein Killer, der von seinem Auftraggeber betrogen wurde. Um an sein Geld zu kommen, spielt er seinen Auftraggeber und dessen Kontrahenten gegeneinander aus. In diesem Spiel wird er zum Helden – ein Held aus Eigennutz.

Diesen Film haben wir später in den 1970er-Jahren noch unzählige Male gesehen, oft in Nachtvorstellungen, in denen geraucht werden durfte und Bier getrunken. In unserer Lieblingsszene sprachen wir laut den Text mit: In ihr lässt Eastwood einen Mexikaner frei, den eine der Banden eingeknastet hatte. Die Frau dieses Mexikaners fragt ihn: »Warum tun Sie das?« Joe nimmt den Zigarillo aus dem Mund, blickt in die Ferne und sagt: »Ich hasse Ungerechtigkeiten.«

Die Szene hat ihren speziell deutschen Charme. Der Western wurde in Almería und Rom gedreht. Die Mexikaner wurden von Deutschen gespielt – heute kaum denkbar. Den befreiten Mann gab Sieghardt Rupp, später als Zollfahnder Kressin im »Tatort« aktiv. Die Frau des Mexikaners spielte Marianne Koch, damals mit Robert Lembke bei »Was bin ich?« eine Ikone öffentlich-rechtlicher Fernsehunterhaltung.

Doch Joe entkommt seiner Bestimmung nicht. Um an sein Geld zu gelangen, befreit er das Dorf von den beiden Gangsterbanden, die es terrorisieren. Einige Dorfbewohner, voran der Bestatter, hatten das früh erkannt und ihm geholfen.

Es war nicht das egoistische Motiv, das die Ungerechtigkeit beseitigte, sondern das Handeln. Das Handeln beendete die Struktur von Herrschaft. Dass es nicht die Motive, sondern die Handlungen sind, die Strukturen von Gesellschaft verändern, verbindet die Italowestern von Sergio Leone mit der 68er-Bewegung. Da gibt es den desillusionierten ehemaligen IRA-Kämpfer Seán »John« Mallory, gespielt von James Coburn, im 1971 gedrehten Film »Todesmelodie«. Der Sprengstoffspezialist will eine Bank ausrauben und befreit mit dem Anschlag die dort inhaftierten Revolutionäre – ohne an sein Geld zu kommen. Der desillusionierte Freiheitskämpfer, in Irland gescheitert, wird zum Helden der mexikanischen Revolution.

In diesen Filmen gibt es nicht Schwarz und Weiß. Es gibt mindestens, wie in »Zwei glorreiche Halunken«, den Blonden, den Hässlichen und den Bösen. Und jeder bekommt von Ennio Morricone seine eigene Melodie. Der 1966 gedrehte Film endet nicht wie »12 Uhr Mittags« mit einem Duell Gut gegen Böse in der Dorfmitte. Er endet in einem Triell auf einem Friedhof. Der Blonde und der Hässliche überleben. Was den deutschen Verleih möglicherweise verführt hat, den schönen italienischen Titeldreiklang »Il buono, il brutto, il cattivo« nicht zu übernehmen.

Wir sehen hier Helden wider Willen – und ungerechte Machtstrukturen. Wir sehen, dass das Handeln der Menschen und was sie gesellschaftlich bewirken, sehr verschiedene Dinge sein können. Menschen handeln nicht autonom, sie agieren in gesellschaftlichen Verhältnissen. Die ironisch zersplitterte Revolutionsromantik und die Doppelbödigkeit dieser Filme erscheinen mir klüger und wahrheitsgetreuer zu sein als der Wunsch, einfach auf der Seite der Guten stehen zu wollen.

Der Soziologe Max Weber hat den Unterschied zwischen »Wollen« und »Tun« auf die Begriffe »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« zugespitzt. In »Politik als Beruf« (München 1919) schreibt er: Dem Gesinnungsethiker reiche es, »dass die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z.B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt«. Der Verantwortungsethiker dagegen setzt nicht einfach auf die »Guten«, hofft nicht auf Helden. Er rechnet mit der Fehlbarkeit des Menschen, und deshalb wälzt er auch die Verantwortung für die Folgen seines Handelns nicht ab.

Leone hat bewusst auf ein publikumswirksames Genre – den Western – zurückgegriffen und es neu begründet. Es wollte mit seinen Botschaften viele Menschen erreichen. Das war stilbildend auch für viele Regisseure des »Neuen Deutschen Films« der 1970er-Jahre. Hans W. Geissendörfer inszenierte 1971 Schillers »Don Carlos« in Israel als Western. Volker Vogeler erfand mit »Jaider – der einsame Jäger« den Heimatfilm neu. Beide Male spielte Gottfried John die Hauptrolle.

In diesen Filmen wurden Menschen gezeigt, die unter den Verhältnissen leiden, dagegen rebellieren – und an ihnen auch scheitern. Das Handeln von Personen kann partielle Veränderung erzeugen – aber die Veränderung von Strukturen ist die eigentliche Herausforderung. Sie hängt nicht allein vom Willen, vom Motiv ab, sondern von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Idee »Wenn wir alle Leute überzeugen, dann funktioniert das neue System« ist naiv.

Um Strukturen zu verändern, bedarf es gesellschaftlicher Macht. Strukturen aber müssen verändert werden, soll Veränderung Bestand haben. Wir müssen uns also einer umfassenden Transformation stellen.

Die verschärfte Klimakrise lässt Kanada und Rhodos brennen, überflutet Slowenien wie Libyen. Weltweit erleben wir eine Renaissance rechter und faschistischer Bewegungen. Sie predigen Rassismus. Sie führen einen Kulturkampf gegen Frauen. Sie verharmlosen, ja leugnen die Klimakrise. Auf dem afrikanischen Kontinent war der Krieg nie verschwunden, nach Europa hat Russland den Eroberungskrieg zurückgebracht – nach Jahrzehnten der Sicherheit und des Friedens. In der multipolar gewordenen Weltordnung wachsen systemische Rivalitäten und verschärft sich der Wettbewerb.

Konflikte um Einflusssphären, Energiesicherheit und Verteilungsgerechtigkeit stellen das Gesellschaftsmodell des europäischen demokratischen Kapitalismus vor existenzielle Fragen. Europas Wohlstandsversprechen, mit dem meine Generation aufwuchs, und die nach 1990 sicher geglaubte Friedensdividende erscheinen gefährdet. Zwischen Demokratie und Autokratie gibt es keine Chinesische Mauer, nicht in Ungarn, nicht in Indien, und sogar in den USA fehlt sie.

Diese existenziellen Konflikte haben die erste Ampelkoalition auf Bundesebene in Deutschland mit voller Wucht getroffen. Die »Fortschrittskoalition« von SPD, Grünen und FDP musste parallel zu grundlegenden Veränderungen akute Reparaturarbeiten erledigen. Was medial als Widerspruch zwischen Idealen und Realpolitik erscheint, ist im Kern ein Konflikt zwischen überfälligem Strukturwandel und kurzfristiger Schadenbegrenzung. Das verunsichert die Menschen und stellt Handelnde vor »ethische Paradoxien« (Max Weber). Um diese Widersprüche und Dilemmata zu leben und zu lösen – dafür braucht es eine wertegeleitete Realpolitik.

»Alles muss anders bleiben« ist der Gegenentwurf zu dem Gedanken »Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war«, um Joachim Meyerhoff zu zitieren. Wir müssen verändern, damit wir eine menschliche Gesellschaft bleiben.

Veränderung stößt auf Widerstand. Ob es gelingt, strukturkonservative Haltungen aufzubrechen, ist eine Frage gesellschaftlicher Hegemonie, auch und gerade kultureller Hegemonie. Nach 25 Jahren im Bundestag und 40 Jahren Politik als Beruf werfe ich einen Blick auf den Ursprung meines politischen Engagements. Anders als in manchen anderen Autobiografien ist dieses Buch deshalb nicht strikt chronologisch, sondern nach Themen gegliedert.

Deshalb beginnt »Alles muss anders bleiben« mit Kultur. Kultur prägt ein gesellschaftliches Klima, Kultur ist politisch. Sei es Film, Theater oder Oper.

Wobei ich die Oper lieber als Film erlebte. Etwa in Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod« (»C’era una volta il West«) von 1968. Eine Oper als Western. Eingeführt wird die Heldin Jill McBain (Claudia Cardinale) mit einer grandiosen Kamerafahrt zu »ihrer« Melodie von Ennio Morricone. Die Grundbotschaft des Films lautet: Der amerikanische Kapitalismus beruht auf Gangstertum und der Legalisierung von Landraub. Amerika entstand aus Gewalt. Zivilgesellschaft aber brachten nicht die Rächer (Charles Bronson), weder gute Gangster (Jason Robards) noch fiese Gangster (Henry Fonda). Denn die sterben oder müssen weiterziehen, rastlos, einsam. Aus Leones Sicht geschah der Aufbau der amerikanischen Zivilgesellschaft durch selbstbewusste Frauen.

Kultur ist Politik – das gilt allemal für die Kultur, die ich in meiner Jugend entdecken durfte.

Ich bin Bremer – geboren im Bremer Norden, in...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 9/11 • Ampelkoalition • Anti-AKW-Bewegung • Atomausstieg • Außenpolitischer Sprecher • Autobiografie Politiker • Balkankriege • Biografie MdB • biografie politiker • BRD • Bundesregierung • Bundesrepublik Deutschland • Bundesumweltminister • Bündnis 90 Die Grünen • Club of Rome • Demokratie • Deutscher Herbst • Deutschland Geschichte • Die Grünen • dosenpfand • Einführung des Euro • Energiepolitik • Energiewende • Faschisierung • Finanzkrise • Fraktionsvorsitzender • Fukushima • Gerhard Schröder • globale Gerechtigkeit • Globaloisierung • Grüne Politik • Hartz IV • Helmut Kohl • Helmut Schmidt • Internationale Politik • Jürgen Trittin • Klimakrise • Nachkriegskinder • Notstandsgesetze • Ökologie • Politik • politik bücher • Politik der EU • politische Bücher • Porträt der Bundesrepublik • Realpolitik • sechziger-Jahre • Siebziger-Jahre • Soziale Gerechtigkeit • Soziale Ungleichheit • Trittin • Tschernobyl • Ukraine-Krieg • Umwelt • Umweltminister • Vietnamkrieg • Willy Brandt • Zeitgeschichte • Zivildienst
ISBN-10 3-426-44915-3 / 3426449153
ISBN-13 978-3-426-44915-8 / 9783426449158
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