Verlust (eBook)
463 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78064-0 (ISBN)
Gletscher schmelzen, Arbeitswelten verschwinden, Ordnungen zerfallen. Verluste bedrängen die westlichen Gegenwartsgesellschaften in großer Zahl und Vielfalt. Sie treiben die Menschen auf die Straße, in die Praxen der Therapeuten und in die Arme von Populisten. Sie setzen den Ton unserer Zeit. Während sich die Formen ihrer Bearbeitung tiefgreifend verändern, scheinen Verlusterfahrungen und Verlustängste immer weiter zu eskalieren. Wie ist das zu erklären? Und was bedeutet es für die Zukunft?
Andreas Reckwitz leistet Pionierarbeit und präsentiert die erste umfassende Analyse der sozialen und kulturellen Strukturen, die unser Verhältnis zum Verlust prägen. Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren - und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? Ein wegweisendes Buch.
Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles. Sein Buch <em>Die Gesellschaft der Singularitäten</em> wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Sachbuchpreises der Leipziger Buchmesse. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Einleitung: Verlust als Grundproblem der Moderne
Tuvalu versinkt im Meer. Der Inselstaat inmitten des Pazifischen Ozeans büßt jedes Jahr einen Teil seiner Landfläche ein. Ihr allmähliches Verschwinden und die Folgen, die es für die dort bisher lebenden Menschen hat, ist nur ein besonders plastisches Beispiel für die Schädigungen, die der Klimawandel global bewirkt. Der Hurrikan Katrina hat 2005 im US-Bundesstaat Louisiana eine Spur der Verwüstung nach sich gezogen, Kalifornien wird fast jährlich von verheerenden Waldbränden heimgesucht, regelmäßig plagen tödliche Hitzewellen Indien und Pakistan. Auch in Europa sind die Folgen der klimatischen Verschiebungen längst zu spüren: In Spanien und Italien gehen immer größere Flächen für die Landwirtschaft verloren, Irland war 2017 vom Hurrikan Ophelia betroffen, in Deutschland häufen sich die Flutkatastrophen mit beträchtlichen Schäden. Und im Hintergrund dieser spektakulären Katastrophen findet ein großes Artensterben statt.
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84 Prozent der Deutschen blicken 2022 pessimistisch in die Zukunft. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Universität Bonn, die außerdem zeigt, dass der Anteil derjenigen, die erwarten, dass es künftigen Generationen materiell schlechter gehen wird, in den letzten Jahren beständig gewachsen ist. Auch wenn Meinungsumfragen mit Vorsicht zu genießen sind: Es ist bemerkenswert, wie stark sich negative gesellschaftliche Zukunftserwartungen seit den 2010er Jahren in vielen westlichen Ländern verfestigt haben. In den Vereinigten Staaten sind es 2023 nach einer Untersuchung des Pew Research Center 57 Prozent der Bevölkerung, die pessimistisch der Zukunft ihrer Gesellschaft entgegensehen. Auch bezogen auf die Problemlösungskompetenz liberaler Demokratien haben sich die Erwartungen flächendeckend eingetrübt: Einer Studie des an der Universität Cambridge angesiedelten Centre for the Future of Democracy zufolge ist bei der Mehrheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften ein politischer Vertrauensverlust zu verzeichnen.[1]
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10Während weltweit eine sehr kleine Gruppe von Reichen und Superreichen ökonomisch stark profitiert und im Globalen Süden jenes Gros der Bevölkerung, dessen Leben zuvor von Armut geprägt war, an Einkommen moderat hinzugewonnen hat, gilt für einen großen Teil der Menschen Europas und Nordamerikas, dass ihr Wohlstand stagniert. Im Vergleich ist die traditionelle Mittelklasse des Westens also zurückgefallen: Branko Milanovic hat die komplexe Entwicklung sozialer Ungleichheit, wie sie sich weltweit seit den 1990er Jahren beobachten lässt, in dieser Weise auf den Punkt gebracht.[2] Häufig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der »Modernisierungsverlierer« verwendet worden. Die neue soziale Ungleichheit, die mit dem Ende der klassischen Industriegesellschaft Auftrieb erfahren hat, hinterlässt dabei auch sozialräumliche, demografische und selbst gesundheitliche Spuren: Zwischen Ostdeutschland, Nordfrankreich und dem Mittleren Westen der USA kann man vielerorts die Folgen der Deindustrialisierung auf das soziale Leben konkret beobachten. Die Kombination aus niedriger Geburtenrate und Abwanderung führt in Europa mancherorts zu einer allmählichen, ja dramatischen Entleerung ländlicher Regionen. Und als Ergebnis der neuen sozialen Ungleichheit ist in Großbritannien und den USA in einigen Segmenten der Bevölkerung die Lebenserwartung gesunken.[3]
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Die Benin-Bronzen, Kunstwerke des 16. bis 19. Jahrhunderts, die aus dem ehemaligen Königreich Benin in Westafrika stammen, wurden über viele Jahrzehnte in europäischen und nordamerikanischen Museen ausgestellt, ohne dass sich ein besonderes Augenmerk auf sie gerichtet hätte. Dies ändert sich Anfang des 21. Jahrhunderts markant: Die Tatsache, dass es sich bei den mehreren tausend Stücken um Raubkunst handelt, die von den damaligen Kolonisatoren außer Landes geschafft wurde, ist 11zum Gegenstand heftiger kulturpolitischer Auseinandersetzungen geworden. Nigeria hat die Rückgabe der Bronzen verlangt, einige staatliche und kulturelle Institutionen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind dieser Forderung nach Restitution nachgekommen. Auch wenn es sich hierbei um eine spezielle Auseinandersetzung der Kulturpolitik handelt: Sie scheint repräsentativ zu sein für die breite gesellschaftliche Tendenz, dass Schädigungen, Traumata und Opfer der Vergangenheit zu einem Politikum in der Gegenwart werden. Entsprechend ist das Gedenken an historische Gewaltverbrechen zu einem Kernbestandteil nationaler Erinnerungskulturen geworden, sorgt die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester der katholischen Kirche weltweit für heftige Diskussionen und verlangt die indigene Bevölkerung in Ländern wie Kanada und Australien Anerkennung für das in früheren Generationen erfahrene Leid. Insgesamt ist die Kultur der Spätmoderne – mit Dipesh Chakrabarty gesprochen – zu einer Kultur der öffentlich debattierten »historischen Wunden« geworden.[4]
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Meine Trauer wird dich finden, Verletzlichkeit macht stark, Wenn der Partner geht – in den Buchhandlungen und auf dem Markt der Sachbücher der Gegenwart stechen der Umfang und die Relevanz psychologischer Ratgeber ins Auge.[5] Auf besonderes Interesse stoßen dabei jene Bücher, die den Umgang mit der Trauer zum Thema haben und die sich mit Trennungen, Verletzlichkeit und Verlustschmerz befassen: Wie bewältige ich das Scheitern einer Beziehung oder beruflicher Hoffnungen? Was gibt Trost angesichts einer Krebsdiagnose oder des Todes eines nahen Angehörigen? Wie gehe ich mit dem Alterungsprozess um? Dies sind auch wichtige Gegenstände der Psychotherapie. Generell kann man feststellen: Das Individuum hat in der spätmodernen Kultur offenbar eine besondere Sensibilität für Negativereignisse in seiner Biografie entwickelt, 12die nach einer entsprechenden Bewältigung verlangen. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Tod. In der klassischen Moderne ein Tabuthema, finden wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts offensivere Formen des Umgangs mit dem Sterben. Dies zeigt sich an der Hospizbewegung ebenso wie an einer individualisierten Bestattungskultur oder an Formaten gemeinsamer Trauer im digitalen Raum.
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»Make America Great Again« – Donald Trumps Wahlslogan bringt die Stoßrichtung der wirkmächtigsten Neuentwicklung im politischen Feld der Gegenwart auf den Punkt: des rechten Populismus. Im Populismus dreht sich alles um Verluste. Seine Wählerbasis sind insbesondere Menschen, die Status- oder Machtverluste erfahren haben oder diese befürchten und einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang wahrnehmen. Das populistische Versprechen lautet, vermeintlich ideale, jedenfalls bessere Verhältnisse, wie sie früher geherrscht hätten, zwischenzeitlich aber verloren wurden, wiederherzustellen. Die immer neuen Verlustängste kommen dem Populismus dabei gerade recht, ja, sie werden von ihm systematisch genährt. Populismus ist politisches Verlustunternehmertum. Er stellt aber nur das prominenteste Beispiel eines breiten politisch-kulturellen Feldes von verlustorientierten Bewegungen der letzten Jahre dar, zu denen etwa auch die »Gelbwesten« aus dem ländlich-kleinstädtischen Frankreich oder die »Incels« gehören.[6] Die Relevanz von Verlusten im Feld des Politischen betrifft als Reaktion darauf jedoch auch das linksliberale Lager: Denn je stärker die Rechtspopulisten werden, umso mehr fürchten die Linksliberalen demokratische Regressionen. Die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwartsgesellschaft drehen sich somit häufig weniger um den Anteil der einzelnen Gruppen am gesellschaftlichen Fortschritt, sondern darum, wer verliert und wessen Verlustängste stärker die politische Agenda prägen.
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13Vinylplatten haben ein überraschendes Revival erlebt. Einst hoffnungslos antiquiert und erst durch CDs, dann Streamingdienste verdrängt, punkten sie nun mit der Authentizität ihres Hörerlebnisses. »Wie früher« – ein Früher, das man selbst möglicherweise nie erlebt hat – hält man die aufwändig gestalteten Plattencover in den Händen und lauscht dem Knistern, wenn die Nadel über die Rille der Schallplatte gleitet. Zeitgleich sind...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
Schlagworte | Bayerischer Buchpreis 2017 • Bestseller • Fortschritt • Globalisierung • Grundlagenwerk • Illusionen • Leibniz-Preis 2019 • Modernisierung • Populismus • Singularitäten • Sozialtheorie • Soziologie • Verlustmanagement • Verlustpotenzierung • Zukunft • Zukunftsangst |
ISBN-10 | 3-518-78064-6 / 3518780646 |
ISBN-13 | 978-3-518-78064-0 / 9783518780640 |
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