Unsere Mutter (eBook)

Die Jüdin, die nicht hassen wollte
eBook Download: EPUB
2024
224 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07535-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsere Mutter - Allan Knoll, Daniel Knoll
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Ein Plädoyer gegen Hass und Antisemitismus - 'Unsere Mutter' ist ein warmherziges Porträt über die ermordete Jüdin Mireille Knoll
Sie hat ihnen die Tür geöffnet, und sie haben sie getötet, weil sie Jüdin war. Sie hieß Mireille Knoll und wurde im Alter von 85 Jahren in ihrem Appartement in Paris durch elf Messerstiche ermordet. Als bekannt wird, dass es sich um einen antisemitischen Akt handelt, finden im ganzen Land Kundgebungen statt.
Allan und Daniel Knoll zeichnen das einfühlsame Porträt ihrer Mutter, einer lebensbejahenden Kosmopolitin, die den Holocaust überlebt hat und deren Tür stets offen für verschiedene Menschen, Religionen und Weltanschauungen stand. Sie erzählen ihre außergewöhnliche Familiengeschichte von Paris und Wien über Deutschland und Portugal bis nach Brasilien. Vor allem aber setzen sie ein Zeichen gegen den Hass.

Allan und Daniel Knoll sind die beiden Söhne von Mireille Knoll. Mit ihrem Buch reagieren sie einerseits auf die Ereignisse in Frankreich, die dem Tod ihrer Mutter gefolgt sind, vor allem aber setzen sie ihrer Mutter ein Denkmal.

Einführung


Unsere Mutter hatte immer eine romantische Ader. Außerdem war sie eine Kosmopolitin, wovon die Männer, die sie liebte, ihre Träume, ihre Bekanntschaften und ihr Lebensweg zeugen. Dennoch hätte der Name Mireille Knoll niemals einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden, niemals ihr Bild in den Zeitungen, auf den Fernsehbildschirmen, auf Plakaten oder der Fassade von Gebäuden aufscheinen sollen. Unsere Mutter hatte niemals große Aufmerksamkeit auf sich gezogen und keinerlei besondere Rolle in der Öffentlichkeit gespielt. Das war ihr zuwider, und wir hätten es vorgezogen, wenn dies so geblieben wäre, wenn der Name Mireille Knoll niemals Symbolcharakter angenommen, niemals für einen Kampf gestanden hätte. Es wäre schön gewesen, wenn er einfach nur der Name unserer Mutter geblieben wäre, den nur wir, ihre beiden Söhne, der Rest der Familie sowie ihre Freundinnen und Freunde kannten.

Am Freitag, den 23. März 2018 wurde unsere Mutter im Alter von 85 Jahren durch elf Messerstiche — einen mitten in die Kehle — ermordet. Dann wurde Feuer in ihrer Wohnung gelegt, um sie zu verbrennen — ganz wie in den Konzentrationslagern, denen sie 76 Jahre zuvor knapp entkommen war. Das hatte sie zwar geschafft, nicht jedoch ihr Onkel Nathan, der in Auschwitz vergast und verbrannt worden war. Ihr Mann, unser Vater, hatte das Konzentrationslager zwar überlebt, er war jedoch auf immer davon gezeichnet. Auch die Menschen, die in ihrem Pariser Wohnhaus gewohnt hatten, und ihre Freunde hatten nicht überlebt. Anfangs wollten wir keinerlei Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen herstellen. Wir lebten nicht mehr in diesen barbarischen Zeiten. Wir hatten die Zeit der Nazis längst hinter uns gelassen. Es war undenkbar, dass man in Frankreich, diesem für die Aufklärung berühmten Land, im Jahr 2018 noch ermordet und verbrannt wurde, weil man Jüdin war. Wer würde das hinnehmen? Wir weigerten uns, es zu glauben. Während der nächsten drei Tage, die von albtraumhaften Schreckensbildern, Schlaflosigkeit und quälenden Fragen gekennzeichnet waren, ließen wir das Leben unserer Mutter vor unseren Augen Revue passieren, weil wir verstehen wollten. Jedoch fanden wir nichts, was uns irgendeine Erklärung für ihre Ermordung hätte geben können. Aufgrund ihrer Freundlichkeit hatte sie nie irgendeinen Feind gehabt und sich niemals mit irgendjemandem gestritten. Sie lebte ein sehr bescheidenes Leben und wohnte seit fast sechzig Jahren in der gleichen Gemeindewohnung, umgeben von Nachbarn, mit denen sie ein herzliches Verhältnis hatte, und ohne irgendwelche Besitztümer, die eines Diebstahls wert gewesen wären.

Am 26. März 2018 mussten wir geschockt zur Kenntnis nehmen, dass man bei der Ermordung unserer Mutter den Schrei Allahu akbar! gehört hatte und dass die Behörden von einem antisemitischen Verbrechen ausgingen. Nicht Nazis, sondern eine andere Art von Barbaren lebt hier und jetzt in Frankreich. Unsere Mutter war an dem gestorben, was sie gelebt hatte. Sie stand für das, was man das »Zusammenleben vieler Kulturen« nennt, sie war zwar Jüdin, aber es war ihr egal, welchen Glauben oder welche Kultur ihre Freunde und Besucher hatten. Und dennoch hatten ihre beiden Mörder*1 sie wohl aufgrund ihrer »Religionszugehörigkeit« getötet. Sie gehörte der jüdischen, die beiden Männer der muslimischen Kultur an. Unsere Mutter mochte diese Leute, sie war vertrauensselig, hatte keinerlei Vorurteile und empfing sie mit offenen Armen. Doch selbst wenn sie misstrauisch gewesen wäre — wem wäre es in den Sinn gekommen, dass ein Mann, den sie kennengelernt hatte, als er sieben Jahre alt war und den sie als ihren Freund betrachtete, den Körper einer alten, schwachen Dame zwanzig Jahre später zusammen mit einem Komplizen durchlöchern und verbrennen würde? Wo sie ihm freiwillig, und wie schon so viele Male zuvor, die Tür geöffnet hatte? Wer hätte sich eine solche Monstrosität vorstellen können? Um nicht verrückt zu werden, denken wir täglich nicht nur an das Leben unserer Mutter, sondern an das Beispiel, das sie uns gab. Das ist äußert wichtig, damit wir uns nicht von Zorn und Hass, den Vorurteilen und der Radikalität anstecken lassen, die wir an anderen so abstoßend finden. Es ist viel Kraft nötig, um ein solches Trauma zu überleben. Selbst jetzt, vier Monate nach diesem Ereignis, können wir die immer noch versiegelte Wohnung unserer Mutter nicht betreten. Uns war der Zutritt zu allem verwehrt, was uns an sie erinnerte — zu dem Raum, wo sie wohnte, zu dem Ort, an dem wir groß geworden waren, denn sie bewohnte immer noch die Gemeindewohnung unserer Kindheit. Nicht einmal ihr Gesicht konnten wir ein letztes Mal sehen, konnten nicht gemeinsam vor ihrem Körper stehen; daher bestand für uns die einzige Möglichkeit, am Leben festzuhalten, darin, ihr Leben Revue passieren zu lassen, wir, die wir in der Gegenwart und für die Zukunft lebten. Wurzeln werden sehr wichtig, wenn man nicht mehr die Möglichkeit hat, sie zurückzuverfolgen, und wenn man so tief in seinen Ursprüngen verletzt wird. Nach diesen zu suchen, Aufzeichnungen zu machen und uns ihrer zu erinnern half uns, nicht ins Wanken zu geraten und nicht möglichst vielen Leuten entgegenzuschreien, dass Jude ein Universalismus ist, kein Ausschließungsgrund, wie das Leben unserer Mutter und unsere Leben zeigen. »Zusammenleben« könnte der Titel unseres Familienalbums sein.

Polen, die Ukraine, Brasilien, vielleicht Shanghai, Portugal und Kanada waren Stationen auf dem Lebensweg unserer Mutter. Sie verliebte sich Hals über Kopf in unseren Vater, einen gebürtigen Österreicher, der in Belgien gelebt, in Polen gelitten und seinen Lebensabend in Deutschland verbracht hat. Zusammen bereisten sie alle Länder Europas, ebenso wie wir, ihre Kinder, in allen möglichen Gegenden der Erde zu Hause sind. Mein Bruder Allan arbeitet für eine Hilfsorganisation in Mali, ich*2 bin mit einer sehr katholischen Philippinerin verheiratet, meine Töchter leben in Israel. Unsere Eltern haben uns einen Grundsatz beigebracht, der naiv erscheinen mag, den wir jedoch weiterhin hochhalten: Das Herz kennt keine Grenzen und keine Religion.

Unsere Mutter lebte für die Liebe wie kaum jemand sonst. Zuerst war da unser Vater Kurt Knoll, aber auch nach ihrer Trennung stand die Liebe im Mittelpunkt ihres Lebens. Lieben und geliebt werden. Ganz beschäftigt mit der Suche nach ihrer besseren Hälfte, achtete unsere Mutter nie darauf, woher der andere kam, ober er jung oder alt, arm oder reich, Jude oder nicht Jude war. Für sie zählte das Herz, die Gefühle, nicht die Herkunft des anderen. Die Entscheidungen, die sie auf ihrem Lebensweg traf, zeigen das besser als lange Erklärungen. Mutter führte kein religiöses Leben. Sie zeigte uns, was Lebensfreude ist. Sie feierte die Feste, wie sie fielen, egal, ob sie religiös waren oder nicht. Sie liebte das Lamm, das zum jüdischen Paschafest gegessen wurde, aß den traditionellen Kuchen zum christlichen Dreikönigsfest und das Gebäck anlässlich des muslimischen Fest des Fastenbrechens. Sie hätte auch buddhistische Feste gefeiert, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hätte. Doch vor allem liebte sie es, zu sprechen, Menschen zu begegnen, zu lachen, zu tanzen, und bis zuletzt sang sie gerne. Natürlich waren wir auch Juden, aber diese Eigenschaft wurde erst seit dem Tod unserer Mutter zu einem Thema, zu dem wir uns Fragen stellen und wo wir genealogische Nachforschungen durchführen. Wenn einem mitgeteilt wird, dass die eigene Mutter Opfer eines antisemitischen Verbrechens wurde, dann kann man nicht umhin, sich zu fragen, was denn nun eigentlich das Jüdische am eigenen Leben ist, was es heißt, Jude zu sein, und was es für die vorangehenden Generationen bedeutete. Es war uns wichtig zu zeigen, dass Jude alles sein kann, außer ein Grund zu sterben, dass unsere Kultur eine lebensbejahende ist. Lebensfreude ist ein Muss — insofern war unsere Mutter uns ein Vorbild. Dieses Buch handelt in erster Linie von einem Leben, nicht vom Antisemitismus. Man muss verstehen, dass es sich, wenn man die Schlagzeile »Alte jüdische Dame ermordet« liest, dabei nicht nur um eine »alte jüdische Dame« handelt. Es geht um ein ganzes Leben voller Hindernisse, voller Wunder und mit viel Herz — und umringt von vielen Herzen —, wie man sie so zahlreich rund um die Bilder von Mireille Knoll nach deren Tod sah. Mireille Knoll steht für ein Leben — als Symbol einer universellen Freiheit. Sie war ein kleines Mädchen, eine...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2024
Nachwort Michaela Wiegel
Übersetzer Isolde Schmitt
Sprache deutsch
Original-Titel C’était Maman
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2018 • 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Antisemitismus • Deutschland • Frankreich • Holocaust • Islam • Judentum • Michaela Wiegel • Mireille Knoll • Nationalsozialismus • Österreich • Paris • Prozess • Terrorismus • Wien • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-552-07535-6 / 3552075356
ISBN-13 978-3-552-07535-1 / 9783552075351
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