Einsamkeit heute (eBook)

Individuelles Schicksal oder gesellschaftliches Versagen?
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
317 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45825-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einsamkeit heute -
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Das anhaltende, subjektiv wahrgenommene Gefühl der Einsamkeit wurde in den vergangenen Jahren zu einem sozialen Problem mit weitreichenden gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen: Einsamkeit scheint heute fast ein unverrückbarer Bestandteil des Menschseins zu sein. Auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich der Anteil an Menschen, die sich einsam fühlen, in Europa über alle Lebensalter hinweg erhöht hat. Die Gründe dafür sind komplex; es greift zu kurz, Einsamkeit nur auf die Covid-19-Pandemie zurückzuführen. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten aus psychologischer, psychiatrischer, soziologischer, philosophischer und theologischer Perspektive individuelle Zusammenhänge und gesellschaftliche Verantwortlichkeiten des Phänomens - von der Kindheit und Jugend über das Erwachsenenalter und Alter bis hin zum Sterben. Der Band unterbreitet zudem Vorschläge für Interventionen bei Einsamkeit, um Lebensqualität und Resilienz sowie soziale Bindung und Netzwerke von betroffenen Menschen zu stärken. Für Sozialarbeitende, Fachkräfte in Pflege- und Gesundheitsberufen, Psychologen und Therapeuten, Gesellschaftswissenschaftler und politische Entscheidungsträger, aber auch für Betroffene und deren Angehörige

Steve Stiehler ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST - Ostschweizer Fachhochschule. Janosch Schobin, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenznetz »Einsamkeit« des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Manuel Stadtmann ist Professor für psychische Gesundheit an der OST - Ostschweizer Fachhochschule.

Steve Stiehler ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Janosch Schobin, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenznetz »Einsamkeit« des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Manuel Stadtmann ist Professor für psychische Gesundheit an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Einsamkeitserfahrungen I


Vanessa - »Dass man irgendwie allein auf weiter Flur ist.«


Vanessa wuchs in einer Großstadt in Deutschland auf. In ihrem Aufwachsen blickt sie auf konflikthafte und sie belastende Familienbeziehungen, insbesondere zu ihrer Mutter und ihrer Schwester, zurück. Vanessa litt darunter, dass sie von ihrer Mutter abgewertet und ihre Schwester idealisiert wurde. Die Beziehung zur Mutter, die sie als narzisstische Person beschreibt, belaste sie gegenwärtig noch so sehr, dass sie den Kontakt zur Mutter einige Monate vor dem Interview abgebrochen hat. Auch ihre Freundschaftsbiografie ist von Brüchen geprägt: In ihrer Kindheit hatte sie eine sehr enge Freundschaft zu einem gleichaltrigen Mädchen. Aufgrund des Umzuges des Mädchens konnte der intensive, tägliche Kontakt nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Beziehung verschlechterte sich. Eines Tages kam es zu einer Mobbingsituation am Telefon zwischen ihr, ihrer bis dahin besten

Freundin und einer neuen Freundin des Mädchens. Sie erinnert sich unter Tränen daran zurück. Vergleichbare Situationen, in denen Freund:innen sie niedermachten, wiederholten sich besonders in ihrer Jugend: Sie reflektiert, dass sie »ganz große Angst hatte anzuecken. Und große Sorge hatte, ja nicht zu gefallen, nicht zu genügen.« Sie erduldete Hänseleien, da sie befürchtete, Freund:innen zu verlieren, wenn sie sich gegen die Übergriffe wehren würde. Schon damals resultierte daraus ein starkes Gefühl von Einsamkeit.

Als sie älter wurde, veränderten sich ihr soziales und intimes Leben, was sich insbesondere in ihren Freundschaften zeigt. Vanessa verlagerte ihre Kontaktsuche zum Teil ins Internet. Über eine App gelang es ihr, Kontakte zu neuen Menschen zu knüpfen, die teilweise bis heute anhalten. Dabei bedauert sie jedoch, keiner größeren Freundschaftsgruppe anzugehören, in der sie so etwas wie ein »Gruppengefühl« erleben könne. Ihr soziales Netz besteht überwiegend aus einzelnen Zweier-Freundschaften, die sich untereinander nicht kennen und auch nicht am gleichen Ort leben. Aktuell befindet sich ihr Freundeskreis aufgrund ihres Alters in einer Umbruchphase. Viele Freund:innen gründen eine Familie und ziehen aus der Stadt weg. Das belastet Vanessa und lässt ihre Einsamkeitsgefühle wiederaufleben: »Und dementsprechend bin ich jetzt schon wieder sehr allein hier, weil alle jetzt mit ihren Familien beschäftigt sind.« Im Hinblick auf Vanessas Beziehungsgestaltung wird deutlich, dass ihre intimen wie freundschaftlichen Beziehungen immer wieder von Unsicherheit, Ängsten und der Vorwegnahme von Zurückweisungen geprägt sind. Sie schildert Situationen, in denen sie sich bewusst zurücknimmt, weil sie annimmt, zu viel für andere zu sein oder »wieder nicht zu gefallen«. Wenn sie nach dem Arbeiten das Bedürfnis nach Kontakt verspüre, traue sie sich oft nicht, ihre Freund:innen zu kontaktieren, weil sie annimmt, dass diese sowieso mit den eigenen Kindern zu sehr eingespannt seien und keine Zeit für sie hätten. Die Angst vor Ablehnung hindert sie daran, den Kontakt zu initiieren. In der Konsequenz bleibt sie allein zu Hause. Dieses Muster wiederholt sich in ihren intimen Beziehungen: Vanessa deutet an, dass sie nach einem Jahr Beziehung zu ihrem Freund noch immer unsicher sei, ob er »gut ist«. Sie rückversichert sich oft bei ihm und fragt ihn, ob »es okay« ist. Sie fragt ihn oft Dinge, die für ihn selbstverständlich sind. Es fällt ihr schwer zu vertrauen und sie hat Angst davor, dass ihr Vertrauen missbraucht werden könnte. »In einem Podcast wurde gesagt, Einsamkeit fühlt sich an, wie wenn man Hunger hätte. Aber man hat nicht das passende Lebensmittel, das einen satt macht. Das fand ich eine sehr schöne Beschreibung. So fühlt sich das für mich auch an. Und ich glaube, das liegt einfach daran, wenn man sich selbst nicht öffnen kann. Also wenn man sich selbst in sich so gefangen ist, dass man das nicht nach außen tragen kann und somit sich als Person nicht mitteilt. Für mich ist das dann so dieses einsame Gefühl: dass man irgendwie allein auf weiter Flur ist. Aber selbst bestimmt und selbst gewählt. Weil man, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht traut, nach außen zu gehen.«

Vanessa unterscheidet in ihrem Einsamkeitserleben zwischen einem Alleinsein und einem Einsamsein. Sie ist auch gern mal allein und kann die Zeit allein mit Hobbys genießen. Insbesondere nach viel Kontakt mit anderen empfindet sie manchmal, dass es ihr zu viel wird. Dann zieht sie sich etwas zurück: »Und dann kommt das so in das andere Extrem. Wo ich erst mal die Zeit allein genieße. Und dann wird es aber wieder so, dass ich in so einem Abwärtsstrudel bin. Wo ich mich dann einfach nicht mehr so gut auf andere Menschen zubewegen kann.« Im Alltag fühlt sich Vanessa meistens nach der Arbeit einsam. Es ist die Zeit, in der sie eigentlich Lust hat, etwas zu unternehmen, aber am Ende doch allein auf dem Sofa sitzt und früh am Abend schlafen geht, um den Tag schneller zu beenden. In solchen Momenten traut sie sich nicht, Kontakt zu ihren Freund:innen aufzunehmen. Ihr Freund, der nicht in der gleichen Stadt wohnt, lädt sie oft ein, sich seinen Verabredungen »einfach« anzuschließen, was ihr jedoch schwerfällt.

Um an den Nachmittagen der Einsamkeit die Stille aufzubrechen und eine Geräuschkulisse zu erzeugen, schaltet Vanessa als eine Bewältigungsstrategie den Fernseher ein. Und sie hat sich ein Haustier zugelegt. Das hilft ihr dabei, mit dem Gefühl der Einsamkeit besser zurechtzukommen. Ein anderes Mittel sind die seltenen Momente der Verbundenheit. Aber die sind rar. Vanessa berichtet von einem Tagesausflug mit einer Freundin, mit der sie sich »sehr verbunden gefühlt« und der ihr sehr gutgetan hat. Sie empfand den Tag als »unkompliziert«, da sich ihre jeweiligen Bedürfnisse ähnelten. An solchen Tagen geht es ihr besser.

Anna – »Ich bin es einfach nicht so wert, dass mich jemand gut findet.«


Anna lebt seit mehreren Jahrzehnten in einer Stadt in Deutschland und führt dort schon lange ein sehr bewegtes soziales Leben – und dennoch begleitet sie seit einiger Zeit das Gefühl von Einsamkeit jeden Tag. Aufgewachsen ist Anna in einer dörflichen Gegend. Zu ihren Eltern hat sie seit ihrer Kindheit ein schwieriges, unterkühltes Verhältnis. Ihre Mutter ist weder liebevoll noch besonders fürsorglich gewesen. Auch heute noch reagieren ihre Eltern auf von Anna geäußerte Sorgen und ihre (berufliche) Erschöpfung wenig empathisch und mit dem immer wiederkehrenden Appell, es doch aushalten zu müssen.

Anna hat soziale und intime Beziehungen. Sie führt schon immer ein sozial eingebundenes Leben, was auch auf ihre aufgeschlossene, offene Art im Kontakt mit ihr bekannten und ihr unbekannten Menschen zurückzuführen ist. In der Covid-19-Pandemie hat sie wieder eine Wohngemeinschaft gegründet, um sich weniger einsam zu fühlen. Sie schätzt ihren Freundes- und Bekanntenkreis, bestehend aus mehreren Dutzend Personen, wozu sie auch ihre Arbeitskolleg:innen zählt, zu denen sie jedoch keine sonderlich tiefe Beziehung führt. Sie hat einige wenige enge Freund:innen, denen sie sich emotional öffnen kann und die ihr in besonders einsamen Momenten ein Gefühl von Halt spenden. Ihre letzte intime und länger als ein Jahr andauernde Partnerschaft liegt mehrere Jahre zurück. Seitdem hat sie lediglich kürzere intime Begegnungen mit Männern gehabt, die sie rückblickend jedoch als toxisch einstuft, da sie von Anpassung und Unterordnung ihrerseits geprägt waren.

Anna verortet den Beginn ihrer Einsamkeitsgefühle zeitlich in jenem Lebensabschnitt, in dem ihre Freund:innen begannen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Aus Annas Beschreibungen ihres Einsamkeitserlebens wird deutlich, dass sie diese Phase als einen einschneidenden Umbruch in ihrem Leben ...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Co-Autor Marisa Arn, Jörg Dittmann, Jan Goebel, Gonzalo Haefner, Oliver Hämmig, Simone Huber, Tobias Krieger, Susanne Loke, Sabine Millius, Johannes Pantel, Michael Pfaff, Eliane Pfister Lipp, Janosch Schobin, Andrej Skoko, Manuel Stadtmann, Steve Stiehler, Gabriele Stotz-Ingenlath, Markus Witte
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Alter • Coronapandemie • Einsamkeit • Einsamkeit in Lebensaltern • Einsamkeitserfahrungen • Emotionen • Erwachsene • Gefühl • Grundverständnisse von Einsamkeit • Interventionsansätze bei Einsamkeit • Isolation • Jugend • Kindheit • Medizin • Medizinsoziologie • Philosophie • Psychiatrie • Psychologie • Resilienz • Soziale Arbeit • Soziale Bindung • Soziale Gesundheit • Soziologie • Sterben • Theologie
ISBN-10 3-593-45825-X / 359345825X
ISBN-13 978-3-593-45825-0 / 9783593458250
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