Epochenhefte -

Epochenhefte (eBook)

Theorie und Praxis eines Bildungsmediums
eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
264 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8542-6 (ISBN)
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Das Epochenheft der Waldorfschulen wird erstmals als ein Bildungsmedium thematisiert, das jahrgangs- und fachübergreifend sowie in analogen und digitalen Formaten existiert. Die diversen methodischen Anwendungen schließen selbstverantwortliches Lernen, fachspezifisches Dokumentieren und kreatives Gestalten ein. Allen Alternativen wie personalisierten oder virtuell vernetzten Materialien zum Trotz erweisen sich Schulhefte aus Papier als ebenso formgebend, nachhaltig und lernwirksam. Die Einzelbeiträge aus Theorie und Praxis verorten das Epochenheft in Diskursen der Medienbildung, (Waldorf-)Schulpädagogik und Fachdidaktiken.

Christian Becker, Dr. rer. nat., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mathematik und Informatik der Universität Greifswald. Er war Vertretungsprofessor für Mathematik (TU Dresden) und Mathematikdidaktik (Uni Greifswald) und ist Content-Autor einer E-Learning-Plattform. Seine Forschungsgebiete sind Differentielle Kohomologie, String-Geometrie, Algebraische Quantenfeldtheorie, Medienbildung im Mathematikunterricht, Kreatives Akademisches Schreiben im Fachunterricht, Diagrammatik, Übergangsphasen zwischen Schule und Hochschule sowie Didaktik der Stochastik und Statistik. Angelika Wiehl, Dr., lehrt am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft.

Schulhefte als Forschungsgegenstand


Christian Becker

Zusammenfassung

Schulhefte sind bislang kaum Gegenstand bildungswissenschaftlicher oder fachdidaktischer Forschung. In dem Beitrag wird eine systematische Perspektive auf Schulhefte entwickelt, die an etablierte Gegenstände dieser Wissenschaftszweige anschließt. Das Review fokussiert exemplarisch auf Schulhefte als historische Quellen sowie auf mediale Funktionen von Schulheften als Bildungsmedium.

1Schulhefte als Quellen, als Medien und als Bildungsmedien. Einleitung


Schulhefte sind vielleicht das am meisten unterschätzte Bildungsmedium unserer Zeit. Ebenso alltäglich wie vorderhand unscheinbar, scheinen sie als Verbrauchsmaterial der Beschulung keiner Erforschung wert. Dem gegenüber steht ein breites Spektrum an Resultaten, die sich auf Schulhefte beziehen (lassen). Solche impliziten Bezüge werden hier aufgegriffen und perspektiviert. Forschungen, die Bildungsmedien explizit zum Gegenstand haben, widmen sich fast ausschließlich Schulbüchern oder digitalen Lernumgebungen. Schulhefte erscheinen meist als Trägermedium für Geschriebenes. Ein Heft ist aber mehr und anderes als der Container seiner Inhalte. Allen Möglichkeiten der Digitalisierung zum Trotz, basieren die gebräuchlichsten Dateiformate auf Strategien der Formatierung, die durch Papiertechniken etabliert wurden. Insofern bleiben Hefte aus Papier formgebend.

Der Titel des Beitrags scheint die Existenz einer Schulheftforschung vorauszusetzen, die es hier zu überblicken gälte. Indes sind Schulhefte – obgleich aus dem Schulalltag von Generationen nicht wegzudenken – in dieser Alltäglichkeit kaum jemals Gegenstand systematischer Forschung geworden. Eine Recherche in einschlägigen Datenbanken und Fachbibliotheken fördert keinen nennenswerten Umfang an Resultaten zu Tage. Archivbestände von Schulheften sind kaum vorhanden, die Sammlungen der meisten Schulmuseen nicht erschlossen (Montino 2010, S. XXX). Eine Ausnahme stellen die in der Deutschen Digitalen Bibliothek gesammelten Digitalisate dar.

Gründe mangelnder Überlieferung sind leicht auszumachen: Die Motivation, eigene Hefte zu verwahren, scheint an individuelle (positive) Erfahrungen und Erinnerungen der Schulzeit gebunden (Schiffler 2010, S. 193; Service 1990, S. 14 f.). Auch ihre Alltäglichkeit ist ein Grund mangelnder Überlieferung von Schulheften, denn verwahrt wurde wohl nichts, dem niemand irgendeine Bedeutung beimessen konnte (ebd., S. 14 f.). Daher sind Hefte nur vereinzelt Gegenstand historischer Untersuchungen geworden, denen sie als Quellen dienen. In kulturwissenschaftlich orientierten Studien sind Hefte dagegen als Medien thematisch. Mit verwandten Formaten wie Skizzenbüchern oder Notizzetteln teilen sie das Moment vorhersehbarer oder intendierter Kurzlebigkeit (Haarkötter 2021, S. 12). Schulhefte haben oft die Funktion, Übergängiges festzuhalten. Praxen der Heftführung dienen geradezu der Kultivierung dieses Übergängigen (Morley 2018, S. 317 ff.). Die Hefteinträge werden selten um der Mitteilung willen verfasst; Schulhefte sind insofern keine Kommunikationsmedien. Ihre mediale Funktion ist eine andere als die, sich (oder etwas) anderen mitzuteilen (Haarkötter 2021, S. 15).

Als Bildungsmedien im engeren Sinn stellen Schulhefte offenbar kein (forschungswürdiges) Problem der relevanten Fachwissenschaften dar. Stichworte wie Hausaufgaben, Übung, Aufsätze und Textaufgaben zeigen jedoch, dass Hefte für die Praxis, auf die sich diese Wissenschaften beziehen, eine große Rolle spielen. Der Beitrag entwickelt eine systematische Perspektive auf Schulhefte und schließt an etablierte Fragestellungen an. In Abschnitt 2 wird der Begriff des Schulhefts im Spannungsfeld zwischen Materialität und Medialität erörtert, in Abschnitt 3 Resultate über Hefte als historische Quellen referiert. Abschnitt 4 systematisiert Resultate über mediale Funktionen von Schulheften als Bildungsmedium. Der Ausblick kontextualisiert diese in Diskursen der Medienbildung und benennt Forschungsdesiderate.

2Zum Begriff des Schulhefts: Materialität versus Medialität


Angesichts seiner Verbreitung scheint, was ein Schulheft ist, zunächst keiner Klärung bedürftig. Fraglich ist aber, inwieweit es als Medium verstanden werden kann statt bloß als Material.

Zwei naheliegende Verständnisse des Terminus Schulheft erweisen sich als Definiens des Forschungsgegenstandes unzureichend: Das Grimm’sche Wörterbuch erläutert ein Schulheft als „schreibheft für die schule“ (Grimm & Grimm 1999; Spalte 1952) und dies näherhin als „heft in das geschrieben wird“ (ebd., Spalte 1704). Dagegen als Terminus technicus verstanden, benennt das Wort Heft (abgeleitet von Heftung) den Unterschied der Schulhefte von losen Blättern einerseits und zu Büchern mit gebundenen Blättern anderseits. Dass der funktionale wie der normative Status dieser Heftung völlig ungeklärt ist, zeigt die Identifikation der Hefte mit oder die Abgrenzung von weniger bindenden Dateiformaten wie Heftern, Portfolios oder digitalen Formaten.

Unzureichend sind beide Verständnisse, insofern sie Hefte auf ihre Inhalte oder ihre Form und Materialität reduzieren und deren komplexe Relationen ungeklärt lassen. Hefte sind – wie Bücher – Träger von Zeichen, die Inhalte (z. B. Texte) konstituieren. Nicht Bücher werden gelesen, sondern Texte, die in Büchern erscheinen (Schulz 2015, S. 11). Ebenso werden nicht (Epochen-)Hefte geschrieben, sondern in Heften wird geschrieben. Anders als Bücher tragen Schulhefte regelmäßig Spuren weiterer Autor*innen als der auf dem Deckblatt vermerkten (Badanelli & Mahamut 2011, S. 88): Die Eintragungen der Lehrkräfte in den Heften ihrer Schülerinnen und Schüler folgen eigenen subkulturellen Codes (Herman et al. 2008, S. 364 ff.).

Ein naheliegender Einwand rechnet Schulhefte zu Verbrauchsmaterialien der Beschulung (Meda 2010, S. XXVI; Schiffler 2010, S. 189) statt zu deren Medien: Hefte gehören seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht zum Alltag der Schulen (Morley 2018, S. 312; Schiffler 2010, S. 187), und ihr Gebrauch bestimmt die Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern noch nach dem vermeintlichen Ende der „Epoche des Papiers“ (Müller 2012, S. 352). Dasselbe ließe sich aber auch über Schreibgeräte, Utensilien und Möbel oder alltägliche Routinen wie die Zeiteinteilung in Form von Stundenplänen sagen.

Es scheint mithin gerade das unspezifisch Alltägliche zu sein, was Schulhefte tendenziell marginalisiert (Betz et al. 2014, S. 259). Diese Marginalität kann jedoch als Charakteristikum einer Klasse von Medien verstanden werden: Alltagsmedien zeichnen sich nicht durch „alltägliches Medienhandeln“ aus, sondern dadurch, dass dieses „Alltagshandeln dabei [nicht] explizit als Medienhandeln“ (Faulstich 2008, S. 22) sichtbar wird. Alltagsmedien sind mithin solche, deren Gebrauch vergessen macht, dass es sich bei ihnen überhaupt um Medien handelt.

Auf eine kurze (und leicht reduktionistische) Formel gebracht, „strukturieren“ Bildungsmedien „den Transfer von Wissen“ (Radvan 2018, S. 57). Reduktionistisch ist die Formel insofern, als sie vorauszusetzen scheint, dass Bildungsmedien als „Informationsträger“ eines Wissens fungieren, das „als lehr- und lernrelevant gilt“ und zum Zwecke dieses Transfers „didaktisch aufbereitet“ (Ott 2015, S. 19) vorliegt, sowie dass Inhalte und Relevanz dieses Wissens vorausgesetzt werden können und von ihrem Transfer zu trennen sind. Ebenso fraglich wie diese Voraussetzung ist die einer sauberen Trennung der ideellen ...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8542-X / 377998542X
ISBN-13 978-3-7799-8542-6 / 9783779985426
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