Der Bildungsstratege (eBook)

1. Einleitung

Rein statistisch gesehen hätte ich dieses Buch nie schreiben sollen. Als meine kurdischen Eltern 1989 nach Deutschland einwanderten, hätten sie wahrscheinlich selbst nicht vorausgesagt, dass ihr Sohn eines Tages mal ein Buch schreibt. Wahrscheinlich wäre es ihnen auch schwergefallen, vorauszusagen, dass ihr Sohn im Jahr 2023 neben seinen Tätigkeiten als strategischer Project Manager bei Airbus und Dozent, auch noch an der Helmut-Schmidt-Universität promoviert. Und ganz ehrlich: Wer könnte ihnen das übelnehmen? Wie soll es ein kurdischer Junge aus dem Hamburger Süden auch so weit nach oben schaffen und das in einem Land, in dem der Bildungserfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängt? Und mit dem Bildungserfolg geht in der Regel auch Wohlstand einher. Meine Eltern sind aber keine Akademiker. Schaut man auf die Statistiken zum Bildungserfolg, hätte ich mich schon mit einem Realabschluss glücklich schätzen sollen. Denn dann hätte ich eine Ausbildung absolvieren können, um dann heutzutage als qualifizierter Facharbeiter eine etwas bessere Stellung als meine Eltern zu haben. Das wäre ein typischer Weg für den Sohn von eingewanderten Nichtakademikern. Aber eben nicht meiner. Doch dazu später mehr.

Denn die Zahlen sprechen für sich. Laut dem renommierten Bildungswissenschaftler El-Mafaalani lässt sich das deutsche Bildungssystem wie ein Trichter betrachten, der an jedem Übergang manche Menschen aussiebt1. Wer ausgesiebt wird, hängt sehr stark von der sozialen Herkunft ab, die wiederum stark vom Bildungsniveau und der beruflichen Qualifikation der Eltern abhängt. Die Verteilung zeigt folgender Vergleich, der auch in dem Buch von Aladin El-Mafaalani zu finden ist: Von 100 Akademikerkindern machen 79 eine akademische Ausbildung, d.h. sie studieren. Von 100 Kindern aus Haushalten mit Facharbeitern mit Abitur machen 48 Kinder eine akademische Ausbildung. Von 100 Nichtakademikerkindern machen aber bloß 27 eine akademische Ausbildung. Von 100 Kindern aus Haushalten ohne beruflichen Abschluss machen 12 eine akademische Ausbildung. Dieser Vergleich zeigt eindeutig, dass die Schere in jeder Bildungsetappe immer weiter auseinander geht. Das zeigt am deutlichsten die Statistik zur Promotion, dem höchsten und damit elitärsten akademischen Abschluss: Von den 100 Akademikerkindern erreichen zehn die Promotion. Von den 100 Nichtakademikerkindern erlangt statistisch gesehen nur eins die Promotion. Das sollte man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Man könnte es exemplarisch auch so sehen: von 100 Kindern aus meinem Arbeiter- Migrantenviertel Hamburg-Harburg promoviert statistisch gesehen maximal eins, während die Kinder aus den Elbvororten eine zehn Mal größere Wahrscheinlichkeit haben zu promovieren. Von Chancengleichheit kann da eigentlich keine Rede sein. Denn, auch das ist wissenschaftlich belegt, Kinder aus den Elbvororten und anderen wohlhabenden Gegenden sind nicht intelligenter als ihre Mitschüler aus Hamburg-Harburg und anderen vergleichbaren Gegenden in Deutschland. Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2022 hat sich dieser Effekt sogar noch verstärkt: Die soziale Herkunft prägt den Bildungsstand und die Leistungen zwischen der sozialen Ober- und Unterschicht gehen immer weiter auseinander2.

Und wenn man sich meinen Bildungsweg anschaut, hätte er sich fast genauso abgespielt, wie ihn die Statistik beschreibt. Ich ging als eine der wenigen Kinder mit Migrationsgeschichte auf eine Grundschule, an der fast ausschließlich Akademikerkinder und weiße Kinder aus der Mittelschicht lernten. Während die anderen Kinder nachmittags Klavier und Geige lernten, übersetzte ich Behördenbriefe für meine Eltern und das, obwohl mein Deutsch auch noch nicht so gut war. Ich kam aus einem prekären Umfeld und konnte mit meinen Mitschülern aus Bildungshaushalten in der Schule kaum mithalten. Ich bekam am Ende der 4. Klasse keine Gymnasialempfehlung und ging erstmal auf eine Realschule. Dort merkte ich schnell, dass ich verglichen mit den anderen Schülern und Schülerinnen dort, die meisten davon auch Kids mit Migrationsgeschichte, überdurchschnittlich gut war. Der Wendepunkt kam dann in der 8. Klasse. In diesem Jahr bekam ich das START Stipendium der Hertie-Stiftung und tankte eine ganze Menge Selbstbewusstsein. Meine Noten wurden immer besser und ich stach schnell als einer der leistungsstärksten Schüler heraus. Ich schaffte dann den Sprung auf ein Gymnasium. Ich wurde immer selbstständiger, auch weil meine Eltern mich besonders in der Oberstufe nicht unterstützen konnten. Trotzdem war mir spätestens nach diesem kleinen Aufstieg klar: Ich will es bis ganz nach oben schaffen. Gleichzeitig wurde mir immer bewusster, dass die ungleichen Startbedingungen mich mein ganzes Leben lang verfolgen werden. Viele meiner Mitschüler wurden von ihren Familien sehr stark in ihrem Bildungsweg unterstützt oder hatten in ihren Familien eben Vorbilder mit akademischen Laufbahnen, an denen sie sich orientieren konnten. Ich hatte das zwar nicht, aber ich fand immer wieder wertvolle Mentoren, die mir diese Orientierung gegeben haben.

Aber ich möchte in diesem Buch nicht darüber klagen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Denn selbstverständlich haben die ungleichen Startbedingungen viele verschiedene Gründe. Kinder aus wohlhabenden Familien sind besser vernetzt, haben mehr und bessere Ressourcen für ihre Bildung und werden von ihrem Umfeld auch öfter in ihrer akademischen Ausbildung bestärkt. Natürlich ist das Bild auch nicht so schwarz und weiß, wie ich es vorhin mit dem Vergleich zwischen Harburg und Blankenese suggeriert habe. Alle Stadtviertel sind zu einem gewissen Grad heterogen und die Kinder in wohlhabenden Gegenden haben es nicht unbedingt immer leichter. Es geht mir hier auch nicht so sehr um die Migrationsgeschichte, sondern um die soziale Herkunft3. Und da steht fest: alle Kinder aus Arbeiterhaushalten haben es schwer und nicht nur die mit Migrationsgeschichte.

Genau deswegen möchte ich mit diesem Buch zeigen, wie ich es geschafft habe trotz dieser vielen Hürden eine erfolgreiche Bildungs- und Berufskarriere einzuschlagen. Der Bildungsaufstieg liegt mir am Herzen und das wissen die Leute auch. Immer wieder erreichen mich Anfragen von TV-Sendern, You-Tubern, Podcastern, Unternehmen und Universitäten zu genau diesem Thema. Die Resonanz ist gewaltig und manchmal auch bedrückend, denn viele Menschen kontaktieren mich, weil sie nicht glauben, dass auch sie diesen Bildungsaufstieg schaffen können.

Das war einer der Hauptgründe, das vorliegende Buch zu verfassen. Wir, also Bildungsaufsteiger von gestern, heute und morgen können und müssen dabei voneinander lernen. Ich möchte hier meinen Weg anbieten, um ein paar der wichtigsten Bereiche abzudecken, die für den eigenen Bildungsaufstieg notwendig und förderlich sind. Im Laufe meines beruflichen und akademischen Werdegangs sind mir sehr viele Hürden begegnet, die ich aufarbeiten möchte, da wir alle davon lernen können. Spätestens nach meinem Interview bei Hamburg 1, in dem ich über meinen Lebensweg vom Einwandererkind hin zum LSE Graduate berichtet habe, war mir klar, dass ich mein gesammeltes Wissen als Buch zur Verfügung stellen möchte. Mich erreichten nach dem Interview viele Nachrichten voller Zuspruch, aber auch Fragen und Sorgen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich die Fragen immer um ganz bestimmte Kernthemen drehen. Welche Universität ist für meinen Studiengang am besten? Wie komme ich an das Stipendium? Wie bereite ich mich am besten auf mein Auswahlverfahren vor? Macht ein duales Studium Sinn? Wie plane ich ein Auslandssemester? Wie ist es, alleine zu wohnen? All diese und noch mehr Fragen werden nun in den verschiedenen Kapiteln systematisch geklärt. Für uns Bildungsaufsteiger gibt es bisher eigentlich keine passende Literatur mit praktischen Strategien und Empfehlungen. Und so entschied ich mich, neben meinen anderen Tätigkeiten, mein Wissen auch zu verschriftlichen. Doch nun erstmal zu mir.

Ich bin Recep Nurî Arbursu und habe in dualer Form Business Administration bei der Aurubis AG an der Hamburg School of Business Administration studiert. Später habe ich meinen Master in Management, Information Systems and Digital Innovation an den renommierten Universitäten der London School of Economics und mit Kursen an der University of Oxford abgeschlossen. In all diesen Etappen habe ich wertvolle Lektionen gelernt, die auch für andere Bildungsaufsteiger wichtig sind. Die nächsten elf Kapitel nehmen euch also mit auf eine Reise durch mein Leben als Bildungsaufsteiger. Dabei zeige ich euch verschiedene Strategien, Tipps und Lösungen, die mir und meinen Kollegen immer wieder geholfen haben. Als mehrfacher Stipendiat, Coach und Dozent habe ich mir in den letzten Jahren ein starkes Netzwerk an kompetenten Menschen erarbeitet, von denen viele diesen Bildungsaufstieg geschafft haben. Ich biete euch also unseren gesammelten Erfahrungsschatz an, damit wir gemeinsam die oben genannten Statistiken endlich verbessern können. Ich habe langjährige Erfahrung darin, in privilegierten Umfeldern immer in der Minderheit zu sein und trotzdem dazu zu gehören. Sowohl auf der Business School als auch bei den großen Konzernen bin ich oft einer...