Politiken der Kindheit -

Politiken der Kindheit (eBook)

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2024 | 1. Auflage
244 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8481-8 (ISBN)
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Die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung wird seit ihrem Entstehen von politischen Argumenten begleitet. Die Auseinandersetzung mit Kindern und Kindheit ist somit nicht von einer politischen Dimension zu trennen und gibt Anlass, Fragen nach der politischen Dimension nicht nur von Kindheit, sondern auch der Kindheitsforschung zu stellen. Der Sammelband beleuchtet systematisch die vielfältigen Beziehungen zwischen Kindheit und Politik und macht auch neuere Diskussionen im Feld der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung sichtbar. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Fragen nach den differenten Modi und Zielen der Inanspruchnahme von Kindern und Kindheit in und durch Politik, nach den (nicht-)intendierten Konsequenzen politischer Prozesse auf Kinder und Kindheit, nach zentralen Paradoxien im Bezug von politischen Akteur:innen auf Kinder und Kindheit, aber auch grundsätzlich der Ent-/Politisierung von Kindern und durch Kinder.

Prof. Dr. Lars Alberth hat seit 2019 die Professur für Theorien und Methoden der Kindheitsforschung am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Leuphana Universität Lüneburg inne. Nicoletta Eunicke (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheitsforschung. Sie forscht und lehrt z.B. zu methodischen und methodologischen Herausforderungen in der qualitativen Forschung mit Kindern, zum Verhältnis von Familie und Grundschule sowie zu sozialer Ungleichheit und Kindheit. Markus Kluge ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich »Pädagogik der frühen Kindheit« am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster.

Politiken der Kindheit und das Politische der Kindheitsforschung


Lars Alberth, Nicoletta Eunicke, Christoph T. Burmeister und Markus Kluge

1Kindheit ist politisch


„Kindheit ist sowohl Ordnungselement des Politischen als auch Objekt und Effekt mannigfaltiger Politiken, die sich auf sie beziehen, die sie indirekt gestalten oder die von ihr ausgehen. So schreibt sich die für die westliche Moderne typische Problematisierung differenter Kindheiten als Elemente staatlicher Steuerungsbemühungen auch gegenwärtig fort, zum Beispiel in Fragen des familialen Alltags in der Pandemie, in der Kindheit maßgeblich zunächst als Organisationsproblem für Erwachsene (Home-Schooling, Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit usw.) problematisch wurde, oder in restriktiven Zugängen geflüchteter Kinder zu Institutionen von Bildung und Wohlfahrt“ (Call for Papers zur Jahrestagung der Sektion Soziologie der Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im November 2021).

Mit diesem Absatz begann der Call für die Veranstaltung, die diesem Sammelband zugrunde liegt. Eine solche Aussage mag ein kindheitssoziologisch informiertes Publikum nicht sonderlich überraschen, gründen doch zentrale Konzepte der Kindheitssoziologie, namentlich Akteurschaft und generationale Ordnung, in politischen Diskursen und Praktiken. Für den Fall der generationalen Ordnung genügt der Verweis auf die Parallelität des Konzepts mit der Geschlechterordnung, aus der schon Leena Alanen (1989) die theoriepolitische Forderung nach einer angemessenen Repräsentation von Kindern in der soziologischen Theoriebildung ableitete: Während sie feministischen Perspektiven zusprach, maßgebliche Veränderungen in der Soziologie zu bewirken, konstatierte sie dies dem Thema Kindheit jedoch nicht. Dies ist eine Analyse, die bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat (s. Punch 2020; Spyrou 2021); denn auch wenn die Kindheitsforschung mittlerweile einen Platz im Kanon der Sozialwissenschaften eingenommen hat, so wird ihr doch das Prestige (Hanson 2019) und die Schlagkraft, zum Querschnittsthema geworden zu sein abgesprochen, wie dies anderen Perspektiven gelungen ist (Punch 2020). Auch in Diskussionen zum Akteursstatus von Kindern und zu den Qualitäten kindlicher Agency wird explizit ein Zusammenhang von politischen und sozialen Krisen mit der Konstitution von Kindheit hergestellt. Zuletzt geschah dies z. B. durch Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Status nichtmenschlicher Wesen (von Tieren, Aktanten, künstlicher Intelligenz usw., s. Watson/Millei/Peterson 2015) sowie durch Anregungen um die Konsequenzen aus dem zeitdiagnostischen Postulat des Anthropozäns (Taylor/Pacini-Ketchabaw 2005). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Kindheit war und ist somit immer auch (Disziplinen-)politisch zu denken.

Nun kann man sich gegenwärtig nicht ganz gegen den Eindruck verwehren, dass Kindheit in den letzten Jahren tatsächlich auch öffentlich sichtbarer als bisher zum Gegenstand politischer Aushandlungen gemacht wird. Cindy Katz (2008) spricht davon, dass Kindheit ein ‚Spektakel‘ ist, es also ein breites kollektives Interesse an der Ausgestaltung von Kindheit gibt und sich eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Welten mit Investitionen in die Kindheit beschäftigen. Diese Fokussierung auf das Kind in gesellschaftlichen Debatten ist in sozialinvestive politische Strategien eingebettet (als „child-centered social investment strategies“, s. Esping-Andersen 2002), die besonders die Zukunft von Kindern betreffen (Betz 2022, de Moll/Schwarzenthal in diesem Band). Investitionen in die Kindheit erscheinen in politischen Debatten somit als „bulwark against ontological insecurity and other anxieties about the future“ (Katz 2008, S. 10). Diese Aufmerksamkeiten für Kindheit bedeuten jedoch nicht zwangsläufig, dass Kinder dabei selbst häufiger zu Wort kommen oder aus ihrer Perspektive berichtet würde (Campanello/Sprecher 2023). Jenseits ihres Status als Subjekte in der Politik sind sie gezielte, indirekt betroffene oder instrumentalisierte Objekte von Politik, um eine Unterscheidung von Jens Qvortrup (2012) aufzugreifen.

Was sind derartige manifeste empirische Anlässe, die auf das Politische von generationalen Arrangements und Kindheit aufmerksam machen? Ganz konkret und vielleicht am Extremsten lässt sich dies an den gegenwärtigen Kriegen, am politischen Terror und am Erstarken politischer Grenzregime zeigen, in denen Kinder die biopolitische Position als „nacktes Leben“ (Agamben 2002) gegenüber politischer Herrschaft zukommt. Gemeint ist damit die relativ folgenlose Tötbarkeit von Kindern im Rahmen politischer Gewaltausübung, der eine etablierte politische Inanspruchnahme von Kindern als moralisches Gut – im Sinne der „Macht der Unschuld“ (Bühler-Niederberger 2005b) – gegenübersteht. Beide Figuren stellen zwei Modi der Handhabung politischer Gewalt dar, die sich paradoxerweise nicht wechselseitig auszuschließen scheinen.

Politisch kontrovers erwies sich Kindheit auch in der Corona-Pandemie, in deren Verlauf sich Kindheit als Objekt politischer Entscheidungen immer mehr in den Vordergrund drängte: Waren Kinder zunächst verdächtig, das Infektionsgeschehen zu verschärfen (Grunau in diesem Band), so verschob sich der Diskurs mit der Zeit immer stärker in Richtung einer bildungspolitischen Misere: Beklagt wurden die gesellschaftlichen Kosten des Home-Schoolings (Stiftung Marktwirtschaft 2020) und auch die psycho-sozialen Folgen für die Jüngsten (Ravens-Sieberer et al. 2022), da diese im Vergleich mit Erwachsenen stärker vom Zugang zu öffentlichen Räumen und Infrastrukturen ausgeschlossen waren. Zudem wurde jüngst herausgearbeitet, wie es durch die Pandemie zu einem Erstarken rechtspopulistischer Narrative kam und dabei bestimmter Bilder des Kindes und des guten, besorgten Aufwachsens genutzt wurden, um gegen-staatliche Positionen zu stützen (Sehmer/Simon/Schildknecht 2023).

Vielleicht weniger ‚dramatisch‘, aber nicht weniger relevant, ist der stärkere Einbezug von Kindern und Kindheit in institutionalisierten Arenen der Politik. Folgt man der politikwissenschaftlichen Unterscheidung von polity, policy und politics (Rohe 1994), so werden Kinder und Kindheit gesellschaftlich mit Bezug auf alle drei Kategorien sichtbar. Damit wird die gesellschaftliche Deutung der wechselseitigen Ausschließlichkeit von Politik und Kindheit – man sei entweder Kind oder politisches Subjekt – problematisch.

  • Polity: Diskussionen darüber, ob und inwieweit Kinder Teil des politischen Gemeinwesens sind oder sein sollen, entspannten sich in jüngster Zeit immer wieder an der politischen Akteurschaft von Kindern, so etwa im Rahmen sozialer Bewegungen, die auf die Folgen des menschengemachten Klimawandels aufmerksam machen (für die Fridays for Future-Bewegung: Spyrou 2020). Hier haben sich Kinder in den letzten Jahren eine erhebliche Aufmerksamkeit in der globalen Politik erkämpft (Joseffson et al. 2023) und die Frage ihrer Repräsentation ist ein wichtiges Thema in politischen Debatten. An der Feststellung ihrer weitgehenden Marginalisierung hat dies jedoch nicht grundlegend etwas geändert (z. B. Osler/Kato 2022).

  • Policy: Als zentraler Regelungsbereich von Kindheit kann weiterhin die Bildungspolitik genannt werden. Anzuführen sind hier insbesondere wiederkehrende sozialinvestive Steuerungsversuche, das Bildungsniveau der Schüler:innen auf der Basis international vergleichbarer Schulleistungserhebungen zu verbessern (mit mäßigem Erfolg: OECD 2023) und darüber Kindheit zu einem Regelungsbereich globaler Institutionen zu machen (Meyer/Benavot 2011). Die Bandbreite dieser Regelungsbereiche umfasst jedoch nicht nur die Bildungspolitik, sondern zum einen auch die Sozialpolitik, wie es sich zuletzt an der politischen Diskussion um Kinderarmut und die Kindergrundsicherung zeigte...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8481-4 / 3779984814
ISBN-13 978-3-7799-8481-8 / 9783779984818
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