Differenz und Differenzierungen - geschlechtertheoretisch-erziehungswissenschaftliche Erkundungen -  Bettina Kleiner,  Barbara Rendtorff

Differenz und Differenzierungen - geschlechtertheoretisch-erziehungswissenschaftliche Erkundungen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
210 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8464-1 (ISBN)
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'Differenz' ist ein in der erziehungswissenschaftlichen Literatur vielfach verwendeter Begriff, der theoretisch unbestimmt ist. Dieser Begriffsdiffusion begegnet der Band mit einer historisch-systematisch und geschlechtertheoretisch informierten Perspektive. Zentrale feministische Debatten, Kontroversen und Einsprüche, etwa der Queer und Postcolonial Studies, werden ebenso aufgegriffen wie erziehungswissenschaftliche und pädagogische Implikationen des jeweiligen Verständnisses von Differenz.

Bettina Kleiner, Prof. Dr., ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt am Main.

2.Differenz und ‚Umgang mit Differenz‘


Bettina Kleiner, Barbara Rendtorff

„Denken in Differenzen, Aushalten eines Widerstreits, ohne eine übergreifende Versöhnung anzustreben, ist nur möglich, wenn es sich dem Gestus der letzten Bestimmung in der Alternative von Entweder-Oder entziehen kann.“

(Meyer-Drawe 1990, S. 82)

Differenz – Begriffe und Bestimmungen


Der Begriff Differenz wurde in der europäischen philosophischen Tradition überwiegend als Gegensatz zu Gleichheit oder Identität eingesetzt, als ein Begriff, der relationale Unterscheidungen kennzeichnet. In den letzten Jahrzehnten hat er jedoch im Kontext neuerer philosophischer und politischer Diskurse verstärkte Aufmerksamkeit erlangt und hat zu einer spezifischen Neuorientierung des Denkens in kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen beigetragen. Hier wird Differenz nicht nur relational, sondern als ein Begriff verwendet, der selbst Unterscheidungen erzeugt sowie als Markierung radikal gedachter Verschiedenheit (Ricken/Balzer 2007).

Etymologisch kommt das Wort von lateinisch „differre“, das heißt: ‚sich unterscheiden‘, aber auch: ‚zerteilen‘. In der auf Aristoteles zurückgehenden klassischen Philosophie werden also die Phänomene im Hinblick auf einzelne Bestandteile (die „differentia specifica“) zerteilt und in Hinblick auf das ihnen Gemeinsame (das „genus proximum“) verglichen – so wäre etwa die Verschiedenheit der menschlichen Genitalien die differentia specifica und das genus proximum wäre die Gattung „Mensch“. Diese Theorietradition denkt gewissermaßen von der übergeordneten Kategorie aus und definiert deshalb Differenz als ‚Verschiedenheit von Dingen, die etwas gemeinsam haben‘ – während unterschiedliche Dinge ohne gemeinsame Verbindung unter dem Begriff ‚diversitas‘ gefasst wurden (vgl. Muck 2007). Mit Differenz wurde hier also ein Unterschied beschrieben, der aus einem Vergleich resultiert.

Spätere philosophische Ansätze wurden vor allem von Martin Heidegger (1889–1976) und Theodor W. Adorno (1903–1969) vorbereitet (vgl. Kimmerle 2000) und haben zu einer Verwendung und Auslegung des Begriffs geführt, die theoretisch breit und auch kontrovers diskutiert werden. So ist „Differenz“ heute zentral für Diskurse um Gerechtigkeit, gesellschaftliche Ungleichheiten, (Nicht-)Zugehörigkeiten, Ver-Anderung – und vor allem für die Theorie der Geschlechterverhältnisse (vgl. Rendtorff 2004). Zentral eingesetzt wird der Begriff deshalb auch im Zusammenhang mit Fragen pädagogischer Unterscheidungen und spielt im Kontext von Bildungs- und Anerkennungsgerechtigkeit in erziehungswissenschaftlichen Debatten eine prominente Rolle. Gleichzeitig sind benachbarte Begriffe wie Heterogenität und Diversity in die Diskussion gekommen, die nicht trennscharf abgrenzend verwendet werden, obgleich sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Während Heterogenität vor allem auf Vielgestaltigkeit und Verschiedenheit im Zusammenhang mit Schulpädagogik abhebt (vgl. Koller/Casale/Ricken 2014) will Diversity diese stärker auf gesellschaftliche Ordnungen und deren Wirkungsweise beziehen (Ricken/Balzer 2007, S. 57). Jedoch ist gerade ein positivistisches Verständnis von Diversity, verstanden als Vielfalt menschlicher Eigenschaften, häufig auch an neoliberale Logiken geknüpft, die im Sinne der Gewinnmaximierung darauf zielen, Humankapital abzuschöpfen (vgl. Bührmann 2020, S. 38ff.), etwa indem versucht wird, einen Nutzen aus dem Anwerben und Einstellen von möglichst unterschiedlichen Menschen zu ziehen.

Der Begriff „Differenz“ hat sich also zunehmend aus der entgegensetzenden Verbindung zu Gleichheit und Identität gelöst – doch bleibt zu beachten, dass die Begriffsverwendung nicht immer einheitlich ist, und seine Verwendung deshalb eigentlich immer der Erläuterung bedarf.

Im alltagspraktischen Gebrauch des Begriffs ergeben sich große Schwierigkeiten, vor allem in Bezug auf den Modus des Vergleichens und den der (Zu-)Ordnung. Beides sind eigentlich elementare kognitive Vorgänge, die Menschen die Orientierung in ihrer Umwelt ermöglichen, aber für beide ist essentiell, welcher Maßstab für Vergleich und Zuordnung verwendet wird, woher er stammt und was/wen er möglicherweise bevorteilt oder benachteiligt. Ein zweites Problem ist die Unmöglichkeit der Trennschärfe, weil die meisten Dinge, und vor allem Menschen, eben nicht nach nur einem Merkmal definierbar und unterscheidbar sind (mit Ausnahme des existenziellen Aspekts: tot oder lebendig – und selbst da kann die Vorstellung einer lebendigen Seele oder eines Lebens nach dem Tod zu unterschiedlichen Auffassungen führen).

Das Problem der klassischen Tradition der Verwendung von Differenz als Vergleich (die in unserem Alltagsgebrauch dominiert) ist also, dass man sich permanent im Modus des Vergleichens befindet und Maßstäbe definieren muss, die sich nicht einfach von selbst ergeben. Diese Maßstäbe machen dann erst die Dinge zu dem, was ihnen als ‚Identität‘ zugeschrieben wird, und diese (Quasi-Identitäten) zu „Differenzen“, die zwischen ihnen markiert werden. Wenn etwa bei der Betrachtung von Menschen die Hautfarbe als Maßstab der Unterscheidung gesetzt wird, werden andere Kategorien und Gruppierungen erzeugt, als wenn man auf die Größe der Füße, die Beschaffenheit der Genitalien oder das Alter rekurriert. Und jedes Mal wird ein einzelner Aspekt als Kriterium für die Unterscheidung definiert und die möglichen anderen werden unbemerkt ignoriert. So würde z. B. die Großfüßigkeit zu einer besonderen Eigenart erklärt, die eine Gruppe (nämlich die mit den großen Füßen) von den anderen absondert, und den Kleinfüßigen erscheinen die Großfüßigen als fremd und absonderlich. Oder es würde das Erscheinungsbild des geschlechtlichen Körpers zu dem Kriterium erklärt, das Menschen in Genusgruppen aufteilt, sodass ein Körper mit Vulva als weiblich definiert würde und als verschieden von einem mit Penis oder Hoden, der männlich genannt wird. Dass beide jeweils Augen, Mund und Haare haben, dass Menschen mit Vulva sich nicht als Frauen und Penisträger nicht als Männer verstehen müssen, wird dabei übersehen (vgl. Kap. 6, 13). Dasselbe lässt sich mit „Behinderung“ oder „Ethnizität“ durchspielen – und es zeigt sich: Zu der Frage, woher der Maßstab genommen wird, kommt nun noch die zwingende Notwendigkeit, die einzelnen Objekte zu vereindeutigen: die mittelgroßen Füße müssen in dieser Logik entweder als „klein“ oder als „groß“ definiert werden, um sie zuzuordnen. Das Unterscheiden ist also nicht harmlos – denn es geht dabei immer um Vereindeutigung und auch um Bedeutung und Wertigkeit.

Das hat seine Ursache auch darin, dass es als Folge der Denkgewohnheit in der Tradition westlichen Denkens außerordentlich schwerfällt, zwei Dinge einfach als verschieden wahrzunehmen: im Modus des Vergleichens bewerten wir sie, schaffen Hierarchien und ordnen sie in symbolische Bezüge. In einer postkolonialen Perspektive wird eine solche Realität konstituierende und hegemoniale Denkform, wenn sie auf der Annahme kultureller Überlegenheit beruht, als Kolonialität der Differenz bezeichnet (Said 1978, S. 16; siehe Kapitel 8, 14). Mit dem Versuch, Verschiedenheiten und ihre Herstellung theoretisch-begrifflich zu fassen – und damit auf einer allgemeineren Ebene zu begreifen – hat sich die europäische Philosophiegeschichte seit ihren Anfängen intensiv befasst, doch auf der Ebene gesellschaftlicher Faktizität verweist dies, wie gesehen, immer auch auf dabei sich herausbildende Machtverhältnisse. Das verdeutlicht noch einmal, wie wichtig die Wahl des Maßstabs ist.

Zusammenfassend wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass Differenz keine Eigenschaft beschreibt, sondern vielmehr ein Tun ist, ein ‚doing...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8464-4 / 3779984644
ISBN-13 978-3-7799-8464-1 / 9783779984641
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