Alles eine Frage der Herkunft? -  Franziska Krüger

Alles eine Frage der Herkunft? (eBook)

Aushandlungen zur Integration des Erwerbs- und Familienlebens bei ost-westdeutschen Elternpaaren
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
487 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8096-4 (ISBN)
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Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein ungelöstes gesellschaftliches Problem. Widersprüchliche Normen, Geschlechterungleichheit und eine zunehmende gesellschaftspolitische Erwerbsfixierung prägen die innerfamiliale Arbeitsverteilung. Wie übersetzen sich die daraus entstehenden Anforderungen in die (Deutungs-)Praxis von ost-westdeutschen Elternpaaren? Die Fallanalysen zeigen überraschend auf, dass die Sozialisation in der DDR und der früheren BRD kein hinreichender Prädiktor ist, sondern herkunftsfamiliale, milieuhafte und paardynamische Strukturen gestaltgebend sind.

Franziska Krüger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet Mikrosoziologie an der FernUniversität in Hagen.

1.Einleitung


Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Ein Jahr später war die deutsche Vereinigung vollzogen und ein Prozess der innerdeutschen Transformation eingeleitet. Wie im Großen so kam es auch im Kleinen, im Mikrokosmos von Familien und Paaren, zu Vereinigungen. Die ost-westdeutsche Beziehung stellt mit circa 5,3 Prozent einen eher kleinen Anteil aller Paarbeziehungen in Deutschland dar (vgl. BiB 2019), doch lässt sich an ihr besonders gut das Aufeinandertreffen der beiden deutschen Kulturen untersuchen. Der mikroskopische Blick auf ost-westdeutsche Paare ermöglicht es, Rückschlüsse auf die Relevanz sozialisatorischer und gesellschaftsstruktureller Bedingungen für Paar- und Familienbildungsprozesse zu ziehen.

Das mediale Interesse für Ost und West war nicht nur in den Nachwendejahren ausgeprägt. Noch anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls wurde in Zeitungen die deutsch-deutsche Entwicklung nach Annäherungen und Differenzen befragt geleitet von der Frage, ob das Zusammenwachsen – gerade auch im Privaten – geglückt sei. Nicht selten bildet die ost-westdeutsche Paarbeziehung den Stoff für die Spurensuche: „Im Herzen wiedervereinigt“ (ZEIT 2019), „Eine ganz private Einheit“ (Kölner Stadt-Anzeiger 2019) und „Liebe zwischen Ost und West“ (Märkische Allgemeine Zeitung 2020) sind beispielhaft Titel regionaler und überregionaler Zeitungen, die ein Bild grenzenloser Liebe zeichnen.

Dem Einfluss unterschiedlicher Lebenserfahrungen und sozialisatorischer Prägungen auf die Paarbeziehung spüren auch Bernd Lasdin und Christine Stelzer in ihrem Text-Bild-Band „Doppelbett“ von 2010 nach. Die darin versammelten Fotografien und Kurzportraits von 58 ost-westdeutschen Paaren geben Einblick in die Erfahrungsaufschichtung, Einstellungen und Sichtweisen auf Ost und West. Ost-West-Unterschiede zählen integral zum Erfahrungs- und Deutungsschatz der Befragten. So stellt die in der DDR sozialisierte Marit Grützner (36 Jahre, DDR) divergierende Geschlechterrollenvorstellungen zwischen sich und ihrem Partner fest: „Ja, aber bei der Kinderbetreuung merkt man den Westmann schon, der die klassische Rollenverteilung bevorzugt. Die entscheidenden Arbeiten sind meine, auch am Wochenende, wenn wir alle zusammen sind. Windeln, Tuttel-Tuttel machen, wenn geschrien wird. (S. 43)“ Für Claudia Jaensch (43 Jahre, BRD) resultiert aus der Begegnung mit der ostdeutschen Familienkultur eine Befreiung von bürgerlich-traditionellen Rollenbildern zugunsten einer Adaptation an die DDR-typische Doppelorientierung auf Beruf und Familie: „Neugierig war ich schon auf die anderen gesellschaftlichen Verhältnisse und skeptisch, vor allem, was die Krippen in der DDR betraf. Doch gerade das hat mich dann überrascht und begeistert. Früher wollte ich nie Kinder haben, sondern Karriere machen. Beides zusammen wäre im Westen so nie möglich gewesen. Jetzt habe ich einen Mann und zwei Kinder…“ (S. 122). Peter Wiedfeldt (48 Jahre, BRD) führt Unterschiede in der weiblichen Erwerbsneigung auf die DDR- und BRD-Sozialisation zurück: „Ich habe festgestellt, dass dieses unbedingte Arbeiten-Wollen der Frauen in meiner Generation im Westen nicht so verbreitet ist. Der überwiegende Teil der Ostfrauen, die ich kennengelernt habe, ist karrierebewusster, breiter aufgestellt und viel selbständiger. Auch haben sie es besser im Griff, als Führungskraft noch häuslich zu sein.“ (S. 246 f.).

So spannend die Ost-West-Konstruktionen in den Deutungen der befragten Paare des Text-Bild-Bandes sind, es drängt sich die Frage auf, ob in der paar- und familiensoziologischen Forschung eine Ost-West-Differenzierung (noch) taugt. Dieser Frage gehen auch Schneider, Naderi und Ruppenthal (2012) nach und kommen zu dem Ergebnis: Ja, durchaus. Über den Ost-West-Vergleich, so die Autor*innen, werde die mannigfaltige familiale Entwicklung in der Bundesrepublik besser nachvollziehbar und die Chance eröffnet, den wechselseitigen Einfluss kultureller, ökonomischer wie auch struktureller Bedingungen zu untersuchen, die sich zu Zeiten zweier deutscher Familienregime herausbildeten und bis heute fortwirken (dazu auch: Drasch 2011; Huinink et al. 2012; Trappe/Köppen 2014). Infolge verschiedener Geschlechter- und Familientraditionen, politischer Systemunterschiede und Transformationsfolgen in den neuen und alten Bundesländern bleiben trotz konvergenter Entwicklungen Unterschiede in den Verhaltensweisen und Einstellungen, wie der Müttererwerbstätigkeit, der Einstellung zu Ehe, Familie und Kinderbetreuung, bestehen (vgl. Lois/Becker 2016: 41; bezüglich der Unterschiede: Kreyenfeld/Geisler 2006; Meulemann 2007; Schneider 2008; Drasch 2011; Wenzel 2011; Huinink et al. 2012; Trappe/Köppen 2014; Schiefer/Naderi 2015).

Typischerweise werden in der Ost-West-Forschung Vergleiche über eine getrennte Betrachtung nach Ost und West angestellt und Individualdaten zu Einstellungen und Verhaltensmustern über quantitative Berechnungen aggregiert. Mit diesem Vorgehen lassen sich nach Ost und West differenzierende Entwicklungen feststellen, aber es sind keine Aussagen dazu möglich, wie sich in ‚gemischten‘ Beziehungen Strukturbildungsprozesse vollziehen. Aufgrund der Erhebung von Individualdaten sind die Erkenntnisse zudem auf die Personenebene beschränkt, während die Paarebene und sich in der Paarbeziehung vollziehende Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und Aushandlung nicht in den Blick genommen werden. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der häufig fehlenden Aufschlüsselung des Sozialisations- und des Wohnortes, wodurch Effekte der Sozialisation nicht von Kontexteffekten unterschieden werden können. Aufschlussreich sind Untersuchungen von ost-west-mobilen Frauen und Männern (Drasch 2011; Grunow/Müller 2012; Vatterrott 2012; Lois/Becker 2016), die beide Effekte vergleichend diskutieren, hierbei jedoch nicht Bedingungen und Dynamiken der Paarbeziehung und des sozialen Umfelds am Wohnort einbeziehen.

Die vorliegende Forschungsarbeit nimmt diese Überlegungen zum Ausgangspunkt. Aus relationaler und fallrekonstruktiver Forschungsperspektive werden innerfamiliale Aushandlungen von Ost-West-Paaren zur Integration1 des Erwerbs- und Familienlebens und damit verbundener Deutungen und Begründungen untersucht. Analysiert werden zwei Fälle ost-westdeutscher Paarbeziehungen aus der Mittelschicht. Sie haben gemeinsam, dass die in der DDR sozialisierten Frauen mit Männern aus der früheren Bundesrepublik nach der Wende eine Paarbeziehung eingehen, in den alten Bundesländern leben und eine Familie mit zwei Kindern gründen. Über die Rekonstruktion von Habitusformationen und Deutungsmustern wird herausgearbeitet, wie die Paar- und Familiengestaltungsprozesse sozialisatorisch disponiert sind und wie sich in den Aushandlungen der Paare die DDR- und BRD-Sozialisation niederschlägt. Lassen sich wie in den zitierten Paarbefragungen aus dem Buch „Doppelbett“ Ost-West-Konstruktionen in den Wahrnehmungen und Argumentationen als typische Deutungs- und Begründungsfiguren von ost-westdeutschen Paaren bestimmen? Berufen sich demnach die Paare auf ihre DDR- und BRD-Sozialisation, um bestimmte Entscheidungen und ihre Haltung dazu zu erklären? Spielen sozialisationsbedingte Differenzen überhaupt eine Rolle? Die Forschungsfrage lautet: Ist die Sozialisation in den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen der DDR und der BRD, in denen Aufgaben rund um die Kindererziehung und Einkommenssicherung ganz anders geregelt waren, in irgendeiner Weise von Bedeutung für die Paare, wenn es um die praktische Seite des Familienlebens geht hinsichtlich der Fragen, wer kümmert sich um den Haushalt und die Kinder und wer geht in welchem Umfang einer Erwerbsarbeit nach?

Werden die Befunde zu fortbestehenden Unterschieden zwischen Ost und West zugrunde gelegt, dann ist davon auszugehen, dass sich an ost-westdeutschen Paarbeziehungen eindrücklich untersuchen lässt, welche impliziten Überzeugungen2, Neigungen und Orientierungen die familiale Praxis strukturieren, welche Rolle hierbei sozialisatorische Dispositionen für die Aushandlung zur Integration des Erwerbs- und Familienlebens spielen und wie mögliche Divergenzen in der Paardyade ausgehandelt und damit zusammenhängend implizite Selbstverständlichkeiten aufgebrochen werden. Andere fallrekonstruktive Untersuchungen des innerfamilialen Geschlechterverhältnisses heben die Bedeutung herkunftsfamilialer Prägung und sozialisierter Orientierungen ...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8096-7 / 3779980967
ISBN-13 978-3-7799-8096-4 / 9783779980964
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