Religion - Dispositionen - Gesellschaftsstruktur -  Heinrich Wilhelm Schäfer,  Leif Seibert,  Adrián Octavio Tovar Simoncic

Religion - Dispositionen - Gesellschaftsstruktur (eBook)

Werkzeuge zum Verstehen religiöser Praxis
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
164 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8292-0 (ISBN)
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Das Buch bietet in kondensierter und zugleich gut verständlicher Form einen Ansatz in der Theorie der Religion und der Methodik ihrer Untersuchung. Basierend auf Bourdieus allgemeiner Sozialtheorie wurde er seit den frühen 1980er Jahren in verschiedenen empirischen Projekten entwickelt und angewandt. Religiöse Praxis wird aus der Spannung zwischen inkorporierten Dispositionen und objektivierten sozialen Existenzbedingungen erschlossen und im Rahmen praxiswissenschaftlicher Konzepte von Identität und Strategie interpretiert.

Heinrich Wilhelm Schäfer, Jg. 1955, Dr. theol. habil., Dr. phil. (rer.soc.), ist Professor für Evangelische Theologie und Soziologie an der Universität Bielefeld: Schwerpunkte: Religionssoziologie, Bourdieu, die Amerikas, Islam; Konflikte, Identitäts- und Interessenpolitiken. Friedensethik.

1.Modi der Beobachtung


Für Bourdieu ist die Überwindung der Dichotomie zwischen der, wie er es nennt, „sozialen Physik“ des Funktionalismus und der „sozialen Semiologie“ bloßer Textanalyse (Bourdieu 1987, 752 f.) ein zentrales epistemologisches Ziel seiner Soziologie. Diese Überwindung entspricht dem bereits erwähnten Imperativ, (Existenz-) Bedingungen mit (Kosmo‑) Visionen oder Positionen mit Dispositionen zu verbinden, um die immer wiederkehrende Bourdieu’sche Formel zu verwenden. Folglich beschäftigt sich Bourdieu unter anderem intensiv mit Sprache und ihrer Theoretisierung in der linguistischen Forschung. Obwohl dies zu einer Reihe von Unstimmigkeiten mit den etablierten linguistischen Theorien führte, erwies sich seine Einbeziehung von diskursiven Praktiken und Alltagssprache in die Soziologie – inspiriert von Wittgenstein und dem Pragmatismus – als sehr kreativ und wurde breit rezipiert.17 Die Eignung der Bourdieu’schen Praxeologie zur Überbrückung des Gegensatzes zwischen Zeichen und Dingen, Akteuren und Strukturen, dem Symbolischen und dem Materiellen, Positionen und Dispositionen usw. hat die praxeologische Theorie anschlussfähig für Soziolinguistik und Kritische Diskursanalyse gemacht. Dort werden ähnliche Ziele verfolgt, wie z.B. Diskurse als soziale Praxis zu behandeln und die Dialektik zwischen Sozialstruktur und sprachlicher Praxis in den Blick zu nehmen.

Wir werden hier mit Bourdieus Konzept von Sprache beginnen, bevor wir uns der religiösen Praxis und der Verflechtung der praktischen Logik mit den Strukturen der Felder und des sozialen Raums widmen.

1.1Bourdieu, Sprache und HabitusAnalysis


Die praxeologische Prägung zahlreicher soziolinguistischer Forschungsprogramme, etwa über die „dialectic of structures and practice“,18 zeigt sich in der Einbeziehung von Begriffen wie Habitus (Plural: Habitūs), symbolische Herrschaft, kulturelles Kapital und sprachlicher Markt sowie von Bourdieus Beobachtungen zu den Machtverhältnissen, die im Gebrauch von Dialekten und in Konflikten um Sprache präsent sind – wie es etwa in Katalonien oder auch der Ukraine besonders deutlich wird. Soweit wir sehen können, haben semiotische und linguistische Analysen mit diesem Profil jedoch weiterhin auf traditionelle linguistische Analysetechniken zurückgegriffen.

Jede der Adaptionen von Bourdieus Praxeologie für die linguistische Forschung hat spezifische Stärken und Schwächen. Meist ergeben sich die Schwächen daraus, dass nur isolierte Konzepte übernommen werden, wie beispielsweise linguistisches Kapital, sprachlicher Markt usw. Es scheint uns jedoch, dass eine methodische Umsetzung, die die Bourdieu’sche Theorie in ihrer Gesamtheit ins Spiel bringt, von viel größerem Nutzen wäre. Konkret verweisen wir auf die darin angelegte Möglichkeit, zwei zentrale analytische Perspektiven methodologisch miteinander zu verbinden: auf der einen Seite die der generativen Struktur des Habitus und auf der anderen Seite die der Dynamik sozialer Differenzierung und Herrschaft, d.h. der Felder und des sozialen Raums. Anzustreben ist somit die methodologische Umsetzung der Tatsache, dass Bourdieus allgemeine Sozialtheorie den Bogen spannt über das gesamte Spektrum objektiver und subjektiver Bedingungen von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Damit wird es möglich, die soziale (und somit einzige soziologisch relevante) Bedeutung sprachlicher und anderer symbolischer Praktiken zu erfassen (im Gegensatz zu einer Bedeutung, die vermeintlich durch reine Beziehungen zwischen Zeichen erzeugt wird und mit scholastischen Methoden bearbeitet wird). Kurzum, die methodologische Aufgabe besteht in der Triangulierung von Analysen der im Habitus inkorporierten Dispositionen von Akteuren mit den Positionen dieser Akteure in den Strukturen von gesellschaftlicher Differenzierung und Herrschaft, von inkorporierten und objektivierten Bedingungen der Praxis.

Aus theoretischer Perspektive kommt dem zugute, dass man die theoretischen Konzepte der Bourdieu’schen Soziologie als Kontinuum zwischen einem objektiven und einem subjektiven Pol anordnen kann (Schäfer 2020b, 36). Das Ergebnis ist eine „Serie“ (im Sinne Ernst Cassirers) von theoretischen Begriffen, wie z.B. den folgenden: Habitus – praktischer Sinn – praktische Logik – Identität – Strategie – Logik der Praxis – Feld – Raum.19 An dem einen Pol erscheinen die Dispositionen der Habitūs – das heißt: die ständigen Transformationen von Erfahrungen und Sinnproduktion – als subjektive Bedingungen von Diskursen und Praktiken. Der Begriff des praktischen Sinns verweist – ähnlich wie der phänomenologische Begriff des „In-der-Welt-Seins“ – auf die grundlegende Verbundenheit der Dispositionen der Akteure und ihrer sozialen Umwelt. Am anderen Pol der Serie verweisen die Begriffe „Feld“ und „sozialer Raum“ auf unterschiedliche soziologische Modalitäten der Beschreibung der Positionen der Akteure (was immer auch ein Moment der Beschreibung ihres Habitus ist): im Falle des Feldes in Bezug auf die „horizontale“ Ausdifferenzierung von Praxis gemäß spezifischer Kapitalformen; im Falle des sozialen Raumes in Bezug auf die „vertikale“, stratifikatorische Verteilung des gesamten Kapitals auf gesellschaftlicher Ebene. Auf diese Weise findet die wechselseitige Relation zwischen Positionen und Dispositionen theoretische Verankerung und kann empirisch beschrieben werden. In diesem Rahmen kann man die Logik der Praxis als diejenige soziale Dynamik konzeptualisieren, die durch die objektiven Strukturen einer gegebenen Gesellschaft (seien sie materiell, wie die Warenproduktion, oder symbolisch, wie das Recht) induziert wird. Die praktische Logik kann im Unterschied dazu als die subjektive Seite der praktischen Beziehungen, der geführten Diskurse, der unternommenen Aktivitäten, der strategischen Planung usw. verstanden werden; das heißt als Operationslogik der Dispositionen und Handlungen der Akteure. Logik der Praxis und praktische Logik fassen also in theoretischen Begriffen objektive und subjektive Aspekte der praktischen Operationen zwischen Habitus und Sozialstruktur. Folglich kann der größte Teil von Bourdieus Arbeit über Sprache als ein Beitrag zu einer Theorie der praktischen Logik (z.B. sprachliche Strategien) und der Logik der Praxis (z.B. sprachlicher Markt) verstanden werden.20

Werden sprachliche Praktiken nun aus praxeologischer Sicht analysiert, kommen mit dem Habitusbegriff auch die kognitiven Dispositionen der Akteure als inkorporierte soziale Bedingungen sprachlicher Äußerungen in den Blick. Das wissenschaftliche Interesse richtet sich somit auf jene generativen Prozesse, mittels derer über Wahrnehmung, Urteil und Handlungsorientierung Erfahrungen verarbeitet sowie Identitäten und Strategien hervorgebracht werden. Die Dispositionen des Habitus orientieren und begrenzen die Produktion von diskursiven und praktischen Strategien, die von Akteuren eingesetzt werden, um objektive Strukturen wie Gruppen, Kapitalverteilung, Produktionsprozesse oder soziale Hierarchien zu beeinflussen. Die Analyse eines Habitus offenbart die Tiefenstruktur jenes Prozesses, mittels dessen die entsprechenden Akteure ihren Erfahrungen Bedeutung geben, ihre Identitäten hervorbringen und ihre (subjektiven oder objektiven) Strategien entwerfen – jene Struktur also, die auch in Diskursen wirkt. Anstatt eine zusätzliche Technik für eine noch stärker verfeinerte Textanalyse bereitzustellen, ist der Beitrag der HabitusAnalysis zu einer verstehenden Soziologie der Praxis daher die Operationalisierung praxeologischer Theorie in zweierlei Hinsicht: Erstens liefert sie einen analytischen Zugang zu den objektiven Existenzbedingungen von Akteuren, um die Chancen und Begrenzungen von deren Praktiken und Diskursen auszuloten; zweitens ermöglicht sie, die kognitiven Tiefenstrukturen der Dispositionen zu modellieren, mittels derer die Produktion von Diskursen und Praktiken durch die Akteure orientiert und begrenzt werden.

Im vorliegenden Buch wenden wir den praxeologischen Ansatz auf das Studium der Religion an. Folglich wird Religion als Praxis konzipiert. Zur Religion gehören Überzeugungen und Praktiken, aber auch...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8292-7 / 3779982927
ISBN-13 978-3-7799-8292-0 / 9783779982920
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