Solidarität ansteckend machen -  Mirko Broll

Solidarität ansteckend machen (eBook)

Solidarische Gesundheitsversorgung in Zeiten der Austerität

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
276 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8394-1 (ISBN)
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Ab dem Jahr 2010 wurde Griechenland im Namen der europäischen Solidarität durch die »Troika« ein massives Sparprogramm auferlegt - mit katastrophalen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. Als Reaktion darauf wurden landesweit Strukturen der solidarischen Gesundheitsversorgung ins Leben gerufen, die allen Menschen ohne Krankenversicherung unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit offenstanden. Mirko Broll erzählt die beeindruckende Geschichte von Selbstorganisation in Zeiten der Krise und zeigt, wie das Recht auf Gesundheit politisch erkämpft wurde. Er geht außerdem den höchst aktuellen Fragen nach, wie eine andere Gesundheitsversorgung aussehen kann und was »emanzipatorische Solidarität« heute bedeutet.

Dr. Mirko Broll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent für Öffentlichkeitsarbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Er forscht zu globalen sozialen Ungleichheiten, Austeritätspolitik und einer kritischen Theorie des Tourismus.

Prolog


„Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund. Aber man stürzt immer auf dieselbe Weise,

in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen.“

Éric Vuillard1

Ein überraschend warmer Frühlingstag Ende April 2020. Ich sitze mit Christina am Ufer des Landwehrkanals in Berlin-Kreuzberg. Wir unterhalten uns über verschiedene Dinge, aber natürlich ist die weltweit grassierende Covid-19-Pandemie ein bestimmendes Thema unseres Gesprächs. Seit knapp zwei Monaten gelten auch hier in Deutschland Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Kurzarbeitsregelungen in vielen Bereichen der Wirtschaft. Noch ist vieles ungewiss und noch glauben wohl die meisten hierzulande an ein rasches Ende der Pandemie. So überraschend und plötzlich sie gekommen ist, so schnell wird sie doch auch wieder verschwinden?!

Christina ist 2015 von Griechenland nach Berlin gezogen, wegen der Arbeit. Studiert hat sie in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen und darin sowohl einen Bachelor- als auch einen Masterabschluss, doch trotz ihrer Qualifikation fand sie keine Anstellung. Krise und Austeritätspolitik haben in Griechenland zu massiven sozialen Verwerfungen geführt. Die Jugenderwerbslosigkeit liegt zu dieser Zeit im Landesdurchschnitt bei fast 50 Prozent. In der nordgriechischen Region Epirus, aus der Christinas Familie stammt, hat nur jeder dritte junge Mensch einen Job. Das ist europaweit der niedrigste Wert. Doch es gibt im ganzen Land kaum vielversprechende Jobaussichten und mehr oder weniger nur drei Möglichkeiten für die sogenannte 700-Euro-Generation (vgl. Chiotaki-Poulou/Sakellariou 2014; Kompsopoulos 2016: 97): Die Glücklichen finden eine prekäre Stelle in dem Tätigkeitsbereich ihres Studiums, erhalten dafür aber häufig ein Einstiegsgehalt, das schwerlich zum Leben reicht. Der großen Mehrheit stehen nur Jobs im Dienstleistungssektor – vor allem im Tourismus und in der Gastronomie – offen. Diese sind in der Regel kaum besser bezahlt und unterliegen saisonalen Schwankungen. Der Mindestlohn liegt im Jahr 2020 bei knapp 3,76 Euro pro Stunde – bei ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie in Deutschland. Daher ist es kaum überraschend, dass zwei von drei jungen Griech*innen zwischen 18 und 34 Jahren noch in ihrem Elternhaus wohnen (Eurostat 2021). Als dritte Option bleibt die Auswanderung. Knapp eine halbe Million – vorwiegend junger – Menschen hat Griechenland in den Krisenjahren verlassen, die meisten in Richtung Nordeuropa. Heute leben fast 90.000 Menschen griechischer Staatsbürgerschaft mehr in Deutschland als noch im Jahr 2010 (DeStatis). Christina ist eine von ihnen, ihre Biografie steht paradigmatisch für einen großen Teil ihrer Generation. Sie glaubt nicht daran, in den nächsten Jahren zurückkehren zu können, obwohl sie das gern möchte. Nicht gehen zu müssen, das ist aus ihrer Perspektive ein Privileg.

Nun sitzen wir also hier am Berliner Landwehrkanal und sie sagt: „Weißt du, Mirko, das kann doch alles nicht wahr sein. Ich bin noch nicht einmal 30 Jahre alt und erlebe gerade die zweite große Krise.“ Erinnerungen werden wach an die Zeit der tiefsten Wirtschaftskrise in Griechenland: die Jahre 2013 und 2014. Damals habe sie als Studentin nach Geldmünzen unter ihrem Bett gesucht, um überhaupt etwas einkaufen zu können. Nur mithilfe der Unterstützung durch Familie und Freund*innen habe sie das Studium fortführen können. Wenn sie das ihren deutschen Bekannten in Berlin erzähle, sei die Verwunderung groß. Häufig sei vielen gar nicht bewusst, was es bedeute, in einem Land in der Krise zu (über-)leben und welche Entbehrungen weite Teile der Bevölkerung verkraften mussten. Manchen sei nicht einmal bekannt, was in Griechenland geschehen ist.

Und dann die Pandemie. Die strukturellen Schwächen der griechischen Volkswirtschaft treten noch deutlicher zutage: die starke Abhängigkeit vom Exportprodukt Tourismus, der rund ein Fünftel des BIP ausmacht und im Lockdown nahezu vollständig zum Erliegen gekommen ist, sowie der hohe Anteil des privaten Binnenkonsums, der in Zeiten von Ausgangssperre und physischer Distanzierung ebenfalls stark zurückging (vgl. Malkoutzis et al. 2021: 2; Kadritzke 2021).2

Corona-Krise trifft auf Europa-Krise: Die Zeitschrift The Economist (2020) hat diese Doppelkrise Südeuropas in einer Titelstory treffend illustriert. Dort ist vor dem pittoresken Hintergrund eines Sonnenuntergangs in einer mediterranen Landschaft ein junger Mensch zu sehen, der als Sisyphos – jene tragische Figur aus der griechischen Mythologie – mit großer Kraftanstrengung einen Felsblock den Berg hinaufrollt. Anders als im Mythos droht der Stein jedoch nicht nur wieder hinunterzurollen, kurz bevor der rettende Gipfel erreicht ist. In der Illustration sieht man zusätzlich einen wesentlich größeren Felsblock, der mit hoher Geschwindigkeit dem ächzenden Sisyphos und seiner Last entgegenrast. Der erste Stein steht für die längst noch nicht bewältigte Europa-Krise, der zweite für jene, die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung auslösten. Was – vor allem im globalen und europäischen Süden – zu erwarten ist, ist eine „Vertiefung der Europa-Krise“ (Sablowski 2021) und die „Dynamisierung der Vielfachkrise durch Corona“ (Demirovic 2020).

Die diesem Prolog nachfolgende Arbeit wurde zwischenzeitlich von der Realität eingeholt. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen die Praktiken der Solidarität von selbstverwalteten Arztpraxen und Apotheken, die sich in Reaktion auf die Krise der Gesundheitsversorgung in Griechenland gegründet haben und alle Menschen medizinisch versorgen, die vom öffentlichen System ausgeschlossen sind. Ihre Geschichte verweist auf vieles, was mit der Corona-Pandemie aufs Tableau gehoben wurde. Gesundheitspolitik und Solidarität sind in der Pandemie (zumindest zeitweise) zu zentralen Gegenständen der öffentlichen Diskussion geworden und es lohnt sich einige der gestellten Fragen in Erinnerung zu rufen. Denn die Erfahrungen der solidarischen Gesundheitsbewegung in Griechenland können auch gegenwärtig Orientierung geben: Welchen Begriff von Gesundheit haben wir und was bedeutet eine gute Gesundheitsversorgung? Wie soll das Gesundheitssystem ausgestaltet und ausgestattet sein und welche Tätigkeiten sind wirklich relevant für ein gutes Leben? Wie unterschiedlich sind die globalen Ressourcen verteilt, die es braucht, um einer Pandemie zu begegnen? Ist Gesundheit eine Ware oder ist sie Menschenrecht? Hat der Patentschutz oder der Schutz des Lebens Vorrang? In welchem Zusammenhang sind Gesundheit und Klassenverhältnisse zu denken und in welchem Verhältnis steht das öffentliche System zu privaten Gesundheitsstrukturen? Aber auch: Wie könnten Alternativen zur bestehenden Gesundheitsversorgung aussehen? „Wenn es einen Lichtblick gibt, dann ist es der Charakter der von der Pandemie aufgeworfenen Fragen: Warum stehen öffentliche Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen eigentlich nicht im Mittelpunkt jeder ökonomischen Theorie, wenn sie doch offenbar die Grundlage unseres Lebens garantieren?“ (Zelik 2020: 13)

Corona trifft auf kaputtgesparte Gesundheitssysteme3

„Wir haben nicht vergessen, dass den Griechen in der letzten Finanzkrise

inakzeptable Opfer abverlangt wurden, damit sie Kredite erhielten.“

Giuseppe Conte4

Spätestens seit der Covid-19-Pandemie rückt auch eine andere Tatsache wieder in den Fokus. Griechenland ist Schauplatz von zehn Jahren neoliberaler Gesundheitspolitik. Hier zeigt sich: Je schlechter der Zustand des Gesundheitswesens ist, desto härtere Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen müssen in der Pandemie ergriffen werden (vgl. Broll/Neumann 2021).

Die Corona-Krise verschärft in den Ländern des europäischen Südens die bestehenden Probleme in der Gesundheitsversorgung. Sie trifft auf ein System, das in der letzten Dekade kaputtgespart wurde und auf eine Pandemie nicht vorbereitet war und das daher schnell an seine Belastungsgrenzen gerät. Corona ist nicht die Ursache der Überlastung, sondern ihr Verstärker. Corona ist das „Kontrastmittel“ (Emcke 2020), das bestehende Probleme sichtbar(er) macht: „Die Pandemie akzentuiert den Notstand“ (Kehr 2020). Um die Ursachen der Gesundheitskrise zu verstehen, müssen wir zehn Jahre zurückgehen und...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8394-X / 377998394X
ISBN-13 978-3-7799-8394-1 / 9783779983941
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