Bildung als (De-)Zentrierung - (De-)Zentrierung der Bildung -

Bildung als (De-)Zentrierung - (De-)Zentrierung der Bildung (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
168 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8395-8 (ISBN)
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Die genuin pädagogische Denkfigur der (De-)Zentrierung ist in unterschiedlichen Varianten in der Erziehungswissenschaft zu finden und ruht auf einem relativ feststehenden, westlichen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fundament. Die Beiträge des Bandes reflektieren dieses Verständnis von Bildung als (De-)Zentrierung und diskutieren Möglichkeiten, das Bildungsdenken selbst progressiv und produktiv zu dezentrieren. Durch die interdisziplinäre Ausrichtung kommen dabei verschiedene aktuell diskutierte Themen wie Global Citizenship Education, Well-Being, Posthumanismus und die Mensch-Tier-Beziehung in den Blick.

Marvin Giehl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Erziehungswissenschaft und Methodologie der Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Dr. Ruprecht Mattig ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft und Methodologie der Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund.

Bildende Wiederholung


Zentrierung und Dezentrierung mit Geistigen Übungen

Malte Brinkmann

1Geistige und mentale Übungen – Hinführung


Eine Meditierende sitzt im Lotussitz. Sie atmet ruhig. Ihre Konzentration richtet sich auf den Atem. Aber dann schweifen ihre Gedanken ab. Ihr fällt eine Begebenheit des letzten Tages ein und ihre Gedanken beginnen, darum zu kreisen. Plötzlich bemerkt sie, dass die Konzentration auf den Atemstrom verloren gegangen ist. Sie versucht sich wieder auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren und zugleich angespannt und entspannt zu atmen, um zur konzentrierten, fokussierten Atmung zurückkehren zu können. Sie beginnt von Neuem mit der Übung.

Dieses Beispiel, das ich an den Beginn meiner Ausführungen stellen möchte, zeigt wichtige Elemente einer geistigen oder mentalen Übung (vgl. Brinkmann 2021a). Im antiken Griechenland hießen diese Übungen asketische Übungen, im europäischen Mittelalter werden sie Exerzitien genannt. In der Philosophie heißen sie Meditationen. Auch fernöstliche Meditationspraktiken im Yoga, Zen oder im Tai Chi (vgl. Suzuki 2000) sind in erster Linie als geistige Übungen zu bezeichnen. Ihr Ursprung liegt in rituellen oder spirituellen wiederholenden Praktiken, wie sie in archaischen Gesellschaften ausgeübt wurden und werden (vgl. Renger/Stellmacher 2018).

Geistige oder mentale Übungen sind immer auch Leibesübungen. Denn auch geistige oder meditative Übungen basieren auf einem Tun, auf Atmen, Sitzen, Gehen oder Schreiben. Dabei ist der Leib immer beteiligt. Bewegungsübungen sind umgekehrt keineswegs nur auf motorische Fertigkeiten beschränkt (vgl. Brinkmann/Giese 2021). In allen Übungsformen werden geistige bzw. mentale Fähigkeiten und leiblich-körperliche gleichermaßen ausgeprägt, jeweils mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Im Üben verbinden sich Wissen und Können, Leibliches und Geistiges (vgl. Brinkmann 2012).

Geistige oder mentale Übungen werden körperlich ausgeführt, betreffen aber Phänomene des Bewusstseins, meist Fähigkeiten der Aufmerksamkeit, der Konzentration, der Polarisation, der Achtsamkeit – wie im obigen Beispiel. Üben hat also immer einen Inhalt, eine Sache oder ein Korrelat (vgl. Buck 2019). Es wird immer etwas Bestimmtes geübt. Im Zen fungiert das Atmen als leibliches Medium, im Yoga sind es gymnastische Übungen, in den philosophischen Meditationen Ideen, Gedanken oder Vorstellungen, die sich auf Fragen oder Probleme beziehen und in einer Praxis (des Schreibens, Gehens, Dialogisierens) ausgeübt werden. In allen wird der Umgang mit dem eigenen Bewusstsein in einer Praxis ausgeübt. Anders gesagt: Um etwas einzuüben, muss ich eine Praxis wie das Atmen, Gehen oder Schreiben ausüben. Etwas einüben bedeutet immer auch etwas ausüben und – wie ich im Folgenden zeigen werde – bedeutet auch, sich selbst zu üben.

Geistige oder mentale Übungen zielen epistemologisch gesehen auf Konzentration, Polarisation, Aufmerksamkeit und ethisch gesehen auf eine Achtsamkeit, auf die erlebte und volle Gegenwart. Letzteres ist insbesondere das Ziel fernöstlicher Übungen im Zen und Yoga. In Griechenland wird diese Aufmerksamkeit und Achtsamkeit mit dem Wort prosoche verbunden. In neurophänomenologischen Diskursen, die sich auf östliche Meditationspraktiken beziehen, ist aktuell von Mindfulness, also Achtsamkeit, die Rede. Es geht dann darum, eine wache Haltung dem gegenwärtigen Moment gegenüber zu entwickeln und diesem Moment des Gewahrseins eine Dauer zu verleihen, also darum, eine Haltung zu erlangen, die die ganze Person und ihr Verhältnis zu sich und zur Welt betrifft.

Zurück zum Beispiel: Die Meditierende macht die Erfahrung, dass nicht jeder Atemzug dem anderen gleicht. Sie scheinen nur gleich zu sein. Sobald sich die Aufmerksamkeit darauf richtet, bemerkt die Übende, dass gerade in der Wiederholung Veränderungen, Abweichungen, ja sogar Unterbrechungen stattgefunden haben. Die Übende erfährt dies in einer negativen Erfahrung, d. h. darin, dass sie irritiert wird, dass ihr ihr Vorhaben zumindest kurzfristig entgleitet. In der wiederholenden Polarisierung und Zentrierung auf das Atmen, und damit auf sich selbst, findet eine Dezentrierung statt. Dabei zeigt sich zunächst eine vermeintlich paradoxe Struktur: Ziel dieser Meditationsübung ist die Konzentration auf das Bewusstsein bei gleichzeitigem Loslassen und Öffnen für Anderes und Fremdes. Dabei entsteht ein spannungsreicher Zustand, ein scheinbares Paradox, indem sich in der Anspannung (des Sitzens, Atmens, Konzentrierens) ein entspannendes, loslassendes, ja öffnendes Moment ereignet, ein Moment in der geistigen Übung, das in unterschiedlichen Kulturen als Befreiung, Heilung, Erleuchtung oder als Flow beschrieben wird.

Das spannungsreiche Verhältnis von Zentrierung und Dezentrierung, von Anspannung und Entspannung bzw. von Kontinuität und Diskontinuität in der Wiederholung soll im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Die dabei vertretene These lautet:

In der Wiederholung findet eine Veränderung und Verschiebung statt, die Variation und Kreativität ermöglicht. Nicht Krise, Unterbrechung, Diskontinuität, sondern Zentrierung und Wiederholung stehen am Beginn von Lernen und Bildung.

Ich gehe dabei erfahrungstheoretisch und zeitphänomenologisch vor (vgl. Brinkmann 2012), d. h. ich richte meinen Blick auf die subjektiven Erfahrungen in der Wiederholung.1 Ich werde zudem bildungstheoretisch argumentieren, indem ich die verbreitete These in Frage stelle, dass sich die Bildungserfahrungen vor allem als Dezentrierung beschreiben und erfassen lassen (vgl. Marotzki 1984; Koller/Marotzki/Sanders 2007; Rieger-Ladich 2015; Koller 2016), dass also Bildungserfahrungen ausschließlich diskontinuierlich als Unterbrechung, als Bruch, als Krise, als negative Erfahrung strukturiert sind und sich normativ und qualitativ von kontinuierlichen Erfahrungen (des Lernens, des Übens, der routinisierten und habitualisierten Praxis) unterscheiden lassen. Ich werde im Unterschied dazu versuchen, wiederholende Erfahrungen in ihrem bildungstheoretischen Potential fruchtbar zu machen und zeigen, dass der Dual von Zentrierung und Dezentrierung, von Bildung und Lernen eurozentristischen Ursprungs ist.

Ich beginne mit einem interkulturellen und historisch-genealogischen Zugang, indem ich Wiederholungserfahrungen in China (in interkultureller Perspektive) (2) und in den antiken Sorgepraxen (mit Foucault, Hadot, Rabbow) beschreibe (3) und dabei die eurozentristische Perspektive irritiere. Nach einem Einblick in den aktuellen Embodiment- und Mindfulness-Diskurs in den Neurowissenschaften und in den Erziehungswissenschaften (4) werde ich mit Waldenfels und Derrida zeittheoretische und zeitphänomenologische Modelle der Wiederholung vorstellen und unterschiedliche Modi der Zeiterfahrung in der Wiederholung unterscheiden und analysieren (5). Diese werden für eine Perspektive auf die Wiederholung als bildende Wiederholung in der Übung fruchtbar gemacht (6). Abschließend gebe ich einen Ausblick auf eine Bildungstheorie im Zeichen der Wiederholung und Übung, die die überkommenen Duale zwischen Wiederholung und Ereignis, Zentrierung und Dezentrierung, Lernen und Bildung hinter sich lässt (7).

2Üben in China: Zentrierung und Dezentrierung


Üben hat im asiatischen Kulturkreis und insbesondere in China eine lange Tradition und genießt als Praxis- und Lebensform sehr großes Ansehen. Das liegt auch an der lebendigen konfuzianischen Tradition, die Bildung und Erziehung beeinflusst (vgl. Peng/Gu/Meyer 2018). Üben und Lernen werden nicht wie im Westen dualistisch getrennt gesehen, sondern als Einheit praktiziert (vgl. Li 2012). Das chinesische Wort für Lernen xuexi (学习) setzt sich aus Üben und Lernen zusammen, das Wort für Üben lianxi (练习) bezieht sich sowohl auf geistige und mentale als auch auf leibliche und motorische Praktiken. Geübt werden...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8395-8 / 3779983958
ISBN-13 978-3-7799-8395-8 / 9783779983958
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