Schulbezogene Gruppenreisen (eBook)
169 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8217-3 (ISBN)
Oliver Dimbath, Prof. Dr., ist seit 2017Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau.
Schulfahrten in der Praxisreflexion.
Betrachtungen zu einem theorievergessenen Gegenstand
Oliver Dimbath
1Einleitung
Schul- oder Klassenfahrten gehören, wenn nicht zu den individuell empfundenen Höhe-, so doch zu programmatischen Fixpunkten der Schullaufbahn im deutschen Schulsystem. Es gibt eine gewisse Bandbreite dieser Angebote zwischen Schul- oder Klassenreisen, Schullandheimaufenthalten, Studienfahrten oder auch mehrtägigen Exkursionen, Wanderungen, Fahrradtouren, Skilagern oder Segeltörns. Vielen von diesen Veranstaltungen, die teilweise bereits in der Grundschule, dann in der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II regelmäßig stattfinden, sind an den sie organisierenden und verantwortenden Schulen weitgehend etabliert, sodass kaum infrage steht, ob oder wie sie durchzuführen wären, sondern eher, welche Kollegiumsmitglieder die Maßnahmen begleiten dürfen oder müssen. Damit wird deutlich, dass Schulfahrten auch ein Thema für die Lehrkräfte sind. Erstaunlich ist, dass sich weder die Lehrkräftebildung noch die schulpädagogische Forschung eingehender mit diesem Thema beschäftigt. So entsteht einerseits der Eindruck, dass es sich hier um ein Praxisfeld handelt, welches umfassend im Schulalltag verankert und das dort so weitgehend routinisiert ist, dass eine Erforschung bislang kaum für nötig gehalten wurde. Andererseits gibt es bislang kaum Impulse vonseiten der sozialwissenschaftlichen Forschung, sich mit diesem Gegenstand systematisch auseinanderzusetzen. Sofern keine Entdeckung als außergewöhnlicher Lernort oder Ähnliches erfolgt, steht zu befürchten, dass ein solches doppeltes Desinteresse an (wissenschaftlicher) Reflexion erst infolge aufkommender Problemanzeigen – im Zuge von Katastrophen oder Skandalen – ausgesetzt wird. Dabei ist die Reflexionsabstinenz umso verwunderlicher als es sich bei diesen Impulsen abseits des Standardunterrichts für alle Beteiligten um Erfahrungen von Außeralltäglichkeit und damit um besonders intensive Erfahrungsräume und -potenziale in Bildungsbiografien handelt, die zumindest aus schulpädagogischer, wohl aber auch aus soziologischer Perspektive einer systematischen Erkundung und Dokumentation wert sein sollte. Die Reflexion über diese Erfahrungen und die mit ihnen zu verbindende Programmatik scheint, sofern dies überhaupt der Fall ist, im Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern stattzufinden, bei dem die Weitergabe von Organisationswissen und hilfreichen Tipps im Vordergrund steht.
Ziel dieses Beitrags ist es, einige Aspekte des publizierten Reflektierens über das Phänomen Klassenfahrten in den Blick zu nehmen und diese mit einer sozialtheoretisch inspirierten Perspektive abzugleichen. Dabei offenbart sich ein höchst selektiver Blick auf ein Handlungsfeld, das bisher weder in seiner sozialen noch gesellschaftlichen Wirksamkeit auch nur ansatzweise erfasst wurde.
Hierzu sind in einem ersten Schritt die terminologische Breite des Phänomens sowie der institutionelle Rahmen dieser Art von Schulveranstaltungen abzustecken. Im zweiten Schritt erfolgt dann eine Sichtung unterschiedlicher Reflexionsstränge, wobei aufgrund fehlenden Dissenses von einer ‚Debatte‘ zu diesem Thema kaum die Rede sein kann. Die Bilanzierung bezieht sich zunächst auf bereits vorliegende pädagogische Konzeptionen, innerhalb derer das Phänomen behandelt und programmatisch konturiert wird. Darüber hinaus wird ein Blick auf die das Schrifttum charakterisierenden Arbeiten zur Praxishilfe geworfen. Aufschlussreich kann zudem die größere Zahl vorliegender Praxisberichte sein. Sie lassen sich zudem nach unterschiedlichen Themenschwerpunkten sortieren. Eine weitere Themengruppe von Beiträgen zu diesem Gegenstand erwächst der Erörterung rechtlicher Probleme aus dem praktischen Vollzug. Schließlich mag die – hier nur angedeutete Analyse – der Berichterstattung über das Phänomen in der massenmedialen Öffentlichkeit weitere Aufschlüsse zu geben. Drittens erfolgt im Rückgriff auf Systematisierungsangebote aus dem benachbarten Feld des Kinder- und Jugendreisens ein Abgleich der Perspektiven, was Fragestellungen offenlegt, die bislang gar nicht oder nur rudimentär erforscht worden sind. Im Fazit steht dann der Befund, dass das unterrichtliche Verlassen des schulischen Raumes über einen längeren Zeitraum ein insbesondere soziologisch kaum erschlossener Gegenstand ist.
2Das unterrichtliche Verlassen des schulischen Raumes
Der nun folgende Abschnitt endet mit einer kurzen Bilanzierung des Begriffsfeldes und einigen institutionenspezifischen Anmerkungen rund um das unterrichtliche Verlassen des schulischen Raumes beziehungsweise des Schulgebäudes. Zuvor wird mit Blick auf geschichtliche Aspekte des pädagogischen Nachdenkens über Schulfahrten gezeigt, dass ein Thema, dem offenbar über lange Zeit ‚Potenzial‘ zuerkannt worden war, im Laufe seiner Manifestierung und Etablierung von einem Gegenstand der Forschung und Praxisentwicklung in eine institutionalisierte Routine übergegangen zu sein scheint.13
2.1Eine kurze, aber doch lange Historie des Schulreisens
Die Suche nach aktuellen Publikationen zum Thema Schulfahrten oder -reisen erbringt eine recht überschaubare Ausbeute an Texten. Eine Erweiterung des Recherchezeitraums zeigt jedoch, dass das Thema durchaus eine längere Reflexionsgeschichte bis hin zu Akademisierung beziehungsweise Verwissenschaftlichung aufweist – dies scheint gegenwärtig nur entweder in Vergessenheit geraten oder völlig im pädagogischen Regelbetrieb sedimentiert zu sein. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben soll hier kurz auf die ausführliche Behandlung des Lemmas ‚Schulreise‘ im Encyklopädischen Handbuch der Pädagogik von Wilhelm Rein aus dem Jahr 1908 eingegangen werden. Der Rückgriff auf diesen älteren Text zeigt, dass die Geschichte des Schulreisens, so schnell sie auch erzählt zu sein scheint, historisch einige Zeit zurückreicht. In Reins Handbuch findet sich eine von Edmund Scholz (1908) verfasste fast 30-seitige Abhandlung mit Definition, Theorieansätzen, sehr vielen Hinweisen zur Organisation und Praxis, einer geschichtlichen Rekonstruktion sowie einer Bilanzierung der internationalen Verbreitung des Phänomens. Von Interesse ist hier zunächst die dort entfaltete historische Entwicklung.
Frühe Hinweise auf Bildungswanderungen entdeckt Scholz bereits im Werk Michel de Montaignes (1533–1592). Als weitere Wurzel der Assoziation von Bildung und Mobilität führt er auch die Pädagogik Johan Amos Comenius (1592–1670) mit der Grundforderung an, nach der jeder Unterricht auf Anschauung beruhen müsse. Wesentlicher Ausgangspunkt ist dann jedoch Jean-Jacques Rousseaus Bildungsroman Émile, in dem der Protagonist Émile am Ende seines Bildungsweges eine zweijährige angeleitete Reise unternimmt, um die Welt zu erfahren.14 Bildung kann, so wird festgehalten, nach Rousseau nur in der Begegnung und Auseinandersetzung insbesondere mit dem Unvertrauten gewonnen werden.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird das Schulreisen unter der Ägide Johann Bernhard Basedows (1724–1790) im Erziehungsplan des Dessauer Philanthropins festgeschrieben. Schulreisen umfassen zu dieser Zeit mehrtägige Wanderungen, über welche die Zöglinge dann in Aufsätzen zu berichten hatten. Unter dem Eindruck dieser Maßnahmen steht Wilhelm Gottfried Salzmann (1744–1811), der die Idee des mehrtägigen Schulwanderns in die Gründung der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt einfließen lässt und in zahlreichen Schriften die Konturen eines pädagogischen Schulreisens entwickelt. Scholz (1908, S. 286) erkennt in diesen Bestrebungen den eigentlichen Beginn der Schulreisebewegung und weist es als Salzmanns Verdienst aus, dass ab dieser Zeit das Schulreisen mit einer größeren Anzahl von Kindern als...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8217-X / 377998217X |
ISBN-13 | 978-3-7799-8217-3 / 9783779982173 |
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