Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten -  Lea Wedewardt,  Kathrin Hohmann

Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten (eBook)

in Krippe, Kita und Kindertagespflege
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83313-7 (ISBN)
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'Bedürfnisorientierung' ist in aller Munde. Dieser modernen Sicht auf Kinder liegt eine wertschätzende, achtsame und gewaltfreie Haltung zugrunde, in der Kinder als gleichwürdig angesehen werden. Dabei geht es nicht etwa um eine Laissez-faire-Haltung, sondern um eine klare Orientierung, in der die Grenzen aller Beteiligten geachtet und die Bedürfnisse aller ernstgenommen werden.  Das Buch liefert wissenschaftlich fundierte Argumente für die Notwendigkeit einer bedürfnisorientierten Grundhaltung ? weg von der Erziehung hin zur Beziehung. Praxisbeispiele geben Handlungssicherheit, wie Bedürfnisorientierung im oft hektischen und stressigen Kita-Alltag gelingen kann. 

Lea Wedewardt ist Kindheitspädagogin (BA) und hat Praxisforschung in der Pädagogik (MA) studiert. Sie ist Evaluatorin für Beziehungsqualität in Kitas. Gemeinsam mit Kathrin Hohmann hat sie die Bo-Akademie gegründet und ist als Fortbildnerin und Autorin tätig. Im Podcast 'Der Kita Podcast' transportiert sie ebenso wie in ihren Büchern und in ihren Fortbildungen ihre Vorstellung einer achtsamen, gewaltbewussten und bedürfnisorientierten Pädagogik.

2.


Die drei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierten Pädagogik


Die Themen in diesem Kapitel sind

→ welche drei Grundpfeiler die BoP ausmachen

→ welche Gefühle es gibt und wie wir sie verstehen können

→ welche Bedürfnisse es gibt und wie wir sie erfüllen können

→ warum es wichtig ist, Grenzen wahrzunehmen und zu achten

Im Kindergartenalltag gibt es immer wieder Situationen, in denen Eltern und Kinder ein Verhalten zeigen, das Fachkräfte nur oberflächlich wahrnehmen und deshalb fehlinterpretieren: Ein Kind schlägt, schmeißt Bauklötze durch die Gegend, Eltern holen ihr Kind zu spät ab, sie rufen nicht zurück, kommen nicht zum Elternabend. Die Wahrnehmung solcher Momente liegt dabei ausschließlich auf dem Verhalten. Das ist nur zu gut verständlich, denn das Verhalten ist schließlich das, was man sehen kann. Um Kinder und Eltern jedoch in ihrem ganzen Sein anzunehmen, sollten Fachkräfte sie mit einem ganzheitlichen Blick wahrnehmen lernen. Bereits Sigmund Freud stellte fest, dass nur etwa 10 Prozent des Handelns und Denkens bewusst und sichtbar ablaufen. Alles andere bleibt im Unbewussten und ist damit nicht sichtbar. Pädagogische Fachkräfte haben die Möglichkeit, zwischen zwei Brillen der Wahrnehmung zu wählen: Entweder blicken sie nur auf das Verhalten des Gegenübers oder sie schauen etwas tiefer auf das, was das Verhalten beeinflusst, und stellen sich die Fragen: Wie kommt es zu der Handlung des Kindes oder der Eltern? Warum zeigt sich dieses Verhalten, was hat es zum Zweck? Fachkräfte dürfen eine neue Brille aufsetzen, mit der sie einen Blick unter die »Wasseroberfläche« wagen können, mit der sie nicht nur die Spitze des Eisbergs sehen: das Verhalten. Sie können in psychische Ebenen eintauchen, in denen sie Gefühle, unerfüllte Bedürfnisse, Grenzen und unbewusste Erinnerungen wahrnehmen können, die das Verhalten an der Oberfläche maßgeblich beeinflussen.

Diese »Bedürfnisbrille« können und sollten Fachkräfte in der Kinderbetreuung in mehreren Bereichen aufsetzen: in der Interaktion mit den Kindern, mit den Eltern, aber insbesondere − und das wird häufig vergessen – beim Blick auf sich selbst. Was fühle ich in diesem Moment? Warum spüre ich eine so außerordentliche Wut, wenn das Kind nicht das tut, was ich möchte? Was verbirgt sich dahinter? Was fühle ich? Was denke ich? Warum denke ich so? Und wie wirkt sich das alles auf mein Verhalten gegenüber den Eltern und Kindern aus?

Abb. 8: Das Eisbergmodell

Viele Erwachsene haben den Kontakt zu sich und ihren innersten Impulsen verloren. Sie sind sich häufig selbst nicht bewusst, aus welchen Gefühlen, unerfüllten Bedürfnissen, inneren Glaubenssätzen und bereits überschrittenen Grenzen heraus sie handeln. Viele Erwachsene haben verlernt, achtsam mit sich zu sein, sich selbst mit Empathie zu begegnen und hinter den Antrieb ihrer Handlungen zu blicken. Deshalb kommt es auch in der Interaktion mit Kindern und Eltern immer wieder zu Beurteilungen von Situation ausschließlich auf Basis der Verhaltensebene. Die Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen sind schließlich nicht auf den ersten Blick zu sehen. So liegt es nahe, dass Fachkräfte Veränderungen am Verhalten vornehmen wollen. Um in einen beziehungsstarken Austausch zu kommen, ist es jedoch notwendig, die Gefühle, Bedürfnisse, Grenzen und unbewussten Erinnerungen aller an der Kinderbetreuung Beteiligten, also der Kinder, Eltern und Fachkräfte, mit einzubeziehen.

2.1 Grundpfeiler: Gefühle


2.1.1 Gefühle verstehen


BEISPIEL

Die zweijährige Frauke kommt zu Gabi, ihrer Bezugsfachkraft, und erzählt ihr ganz aufgebracht davon, dass Laura sie geschubst hat. Gabi nimmt Frauke an die Hand und sagt: »Komm, da gehen wir mal hin.« Sie kommen zu Laura und Gabi sagt: »Frauke hat erzählt, dass du sie geschubst hast. Geschubst wird nicht, das weißt du doch!« Laura holt Luft und möchte sich verteidigen, auch sie wirkt angespannt und aufgebracht: »Aber …« »Schubsen ist nicht schön, hör bitte auf damit!«, unterbricht sie Gabi und geht wieder weg. Sie meint, ihre Aufgabe als pädagogische Fachkraft ausreichend erfüllt zu haben. Die beiden Mädchen fühlen sich mit der Situation jedoch nicht besser als zuvor. Frauke geht zu Pina, einer anderen Fachkraft, weil es ihr noch immer schlecht geht. Warum, das weiß sie nicht genau. Sie erzählt ihr die Geschichte mit Laura und Pina greift ihre Gefühlslage in Mimik, Tonlage und Körpersprache auf: Sie wendet sich ihr zu, hockt sich vor sie hin, schaut sie an, zieht ihre Mundwinkel etwas nach unten und sagt: »Och, das ist ja wirklich ärgerlich, du scheinst richtig wütend auf Laura zu sein. Oder?« Frauke ist erleichtert, ihre Anspannung löst sich, sie fällt Pina in die Arme und weint ein kleines bisschen. Sie sagt: »Ja, genau, ich ärgere mich schrecklich doll über sie.« Pina nimmt sie in den Arm und tröstet sie: »Das ist wirklich ärgerlich, wenn man geschubst wird. Ich mag das auch nicht. Wo spürst du denn deine Wut im Körper? Im Bauch? In der Brust?« Pina geht mit Frauke in ein Gespräch über ihre Gefühle und wo sie sich im Körper zeigen. Frauke ist nun viel fröhlicher, sie verliert ihre Anspannung. Pina geht mit Frauke und Laura ins Gespräch und ergründet, warum sie sich so sehr übereinander geärgert haben (vgl. Kapitel 7.3).

Fachkraft Gabi bleibt mit der Klärung der Situation auf der oberflächlichen Verhaltensebene. Laura hat geschubst und Gabi hat ihr gesagt, dass sie das nicht machen soll. Fachkraft Pina betrachtet Fraukes Situation hingegen unter der Wasseroberfläche und greift ihre Gefühlslage auf. Sie nimmt Frauke mit ihren Gefühlen wahr und hilft ihr, sie zu verstehen. Sie hat ihr einen Namen dafür gegeben, was sie empfindet, was das ungute Gefühl im Bauch auslöst. Pina hat Frauke mit ihrem Gefühl angenommen, sie durfte sich mit ihrem Ärger und ihrer Wut zeigen. Genauso wird Laura in ihren Gefühlen gesehen und begleitet. Auf diese Weise können Kinder nach und nach lernen, welche Gefühle sie in sich tragen, welche Situationen welche Gefühle auslösen und wie sie damit umgehen können. Sie werden nicht verdrängt oder als bedrohlich empfunden, sondern als normal und sinnvoll.

Gefühle versus Emotionen

Was sind eigentlich Gefühle und Emotionen? Jeder weiß so ungefähr, was damit gemeint ist, und doch fällt es schwer, sie genau zu definieren und auseinanderzuhalten. Jeder Mensch empfindet Gefühle unterschiedlich, nimmt sie in ihrer Qualität und Intensität subjektiv verschieden wahr. Gefühle werden begleitet von physiologischen Veränderungen, gedanklichen Prozessen, Mimik und bestimmten Handlungsimpulsen. Unter Emotionen hingegen verstehen wir angestaute und ungelöste Gefühle. »Emotionen sind Gefühle, die nicht gefühlt und daher auch nicht als Kräfte eingesetzt wurden« (Dittmar 2017, S. 17). Häufig werden die Begriffe Emotionen und Gefühle ohne inhaltliche Unterscheidung gebraucht. Emotionen setzen starke Impulse frei und sind deshalb schwerer zu kontrollieren. Weil manche Gefühle wie beispielsweise Wut sich in ihrer Intensität von anderen unterscheiden, sind sie eher als Emotionen zu verstehen. Deshalb spricht man manchmal auch davon, dass wir Emotionen haben, während wir Gefühle fühlen (vgl. Mahr 2018, S. 299). Emotionen brechen aus einer unbewussten Empfindung hervor, angetrieben von einer früheren Erfahrung, geknüpft an ein früheres negatives Erlebnis (implizite Erinnerung) (vgl. Siegel & Bryson 2017, S. 93ff.). Gefühle können also als die bewusste Komponente von Emotionen verstanden werden.

Gefühle als Reaktionen des Körpers

Gefühle sind Empfindungen, die der Mensch wahrnimmt. Jede Erfahrung, die ein Mensch sammelt, wird mit einem Gefühl verknüpft und dadurch als positiv oder negativ eingestuft. Die Situation wird entweder vom Verstand oder vom Unbewussten eingeschätzt. Der Verstand benötigt dafür zwischen 900 Millisekunden bis zu mehreren Tagen. Der Verstand kategorisiert in richtig oder falsch, wobei die Erziehung und gesellschaftliche Normen eine wichtige Rolle spielen. Der Verstand ist dann in der Lage, die verarbeitete Information sprachlich zu kommunizieren. Anders sieht es hingegen aus, wenn das Unbewusste bewertet und über die Handlung entscheidet. Das Unbewusste benötigt circa 200 Millisekunden und kommuniziert über die »somatischen Marker« (nach dem Hirnforscher Damásio). Somatische Marker sind durch Gefühle und/oder Empfindungen im Körper (Kribbeln im Bauch, Ziehen in der Brust, vgl. Körperreaktionen in Kapitel 2.1.5) wahrnehmbar. Je nachdem, welches Gefühl mit der Erfahrung in unserem Unbewussten verknüpft wurde, nehmen wir die Situation entweder mit Vorsicht wahr – erhalten beispielsweise ein Gefühl von Enge in der...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-451-83313-1 / 3451833131
ISBN-13 978-3-451-83313-7 / 9783451833137
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