Menschen ohne Geschichte sind Staub -  Anna Hájková

Menschen ohne Geschichte sind Staub (eBook)

Queeres Verlangen im Holocaust
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
126 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8639-6 (ISBN)
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Eine Untersuchung, die für das Erinnern an queere jüdische Opfer während des Holocausts und für ein Ende der Stigmatisierung eintritt. Queere Geschichte des Holocaust, also die Frage nach gleichgeschlechtlichem Verlangen unter den Holocaustopfern, ist bis in die heutigen Tage eine Leerstelle geblieben. Dies liegt an einer weitreichenden Homophobie der Häftlingsgesellschaft in KZs und Ghettos, was dazu führte, dass die Stimmen dieser Menschen weitgehend aus den Archiven getilgt sind. Anna Hájkovás Text baut auf bestehender Forschung zu Homophobie auf und macht den Versuch, die Geschichte dieser ausradierten Menschen zu schreiben. Die Untersuchung ist dabei gleichzeitig eine Geschichte der Sexualität des Holocaust und nimmt in Augenschein, dass die Beziehungen im Lager mitunter ausbeuterisch und gewaltsam waren, wobei die Übergänge fließend waren. Hájková setzt sich mit einigen besonderen Fällen von Jugendlichen (unter anderem Anne Frank) und Erwachsenen auseinander, es geht um romantische, erzwungene und abhängige Beziehungen, um romantische Sexualität und sexuellen Tauschhandel. Sie zeigt die Gleichzeitigkeit von queerer und Hetero-Sexualität und argumentiert, dass wir von einem ausschließlichen Konzept der sexueller Identität Abschied nehmen und von Akten und Praktiken sprechen müssen, um das Verhalten der Opfer verstehen zu können.

Anna Hájková, geb. 1978, ist Reader in modern European continental history an der University of Warwick, Großbritannien, wo sie das Centre for Global Jewish Studies leitet. Sie ist Historikerin der jüdischen Holocaustgeschichte und Autorin von »The Last Ghetto: An Everyday History of Theresienstadt«. Hájková ist Pionierin auf dem Gebiet der queeren Holocaustgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: The Last Ghetto: An Everyday History of Theresienstadt (erscheint 2020); Medicine in Theresienstadt, in: Social History of Medicine, 33,1 (2020); Die letzten Berliner Veit Simons: Holocaust, Geschlecht und das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums (Co-Autorin, 2019). Auszeichnungen: Catharine Stimpson Prize for Outstanding Feminist Scholarship 2013.

Den Holocaust queer erzählen


Wie können wir den Holocaust queer erzählen? Diese Frage hat sich meines Wissens bisher noch niemand gestellt.[1] Das vorliegende Kapitel bietet den ersten Forschungsblick auf queere Geschichte des Holocaust, also auf gleichgeschlechtliches Verlangen, das Jüdinnen und Juden, die von den Nazis als Juden verfolgt worden sind, erlebten. Diese Geschichte zu erzählen ist schwierig: Die Gesellschaft der Holocaustopfer war durchsetzt von Homophobie; Menschen, die sich an queerer Intimität beteiligten, wurden hier zumeist als abstoßend betrachtet. Dieses Vorurteil brachte die Stigmatisierung der Queerness mit sich und diejenigen Überlebenden, die über ihre Erlebnisse der queeren Liebe hätten erzählen können, wirksam zum Schweigen. Deshalb setzt sich dieses Kapitel auch mit Homophobie in den Zeugnissen der Überlebenden auseinander, mit deren Einfluss auf die Forschungsliteratur, das Erinnern und zugleich Gedenken und die daraus resultierende Archivlücke der queeren Erfahrung. Es zeigt auch Beispiele, wie wir mit dieser Quellenlage queere Biografien aus dem Holocaust schreiben können und was die Holocaustgeschichte daraus gewinnen kann.

Diese Geschichten zu erzählen ist wahrlich nicht einfach. Die überwiegende Mehrheit der Selbstzeugnisse aus dem Holocaust, die queeres Verlangen erwähnen, sind aus einer homophoben Perspektive heraus erzählt. Zumeist erscheinen queere Personen in den Zeugnissen der Opfer und der Überlebenden als gefährlich, deviant, ja sogar als monströs – immer »anders« in den Augen der Erzählenden. Berichtet wird dabei nicht nur von nichtjüdischen Kapos, sondern oftmals auch von jüdischen Mithäftlingen.

Zeugnisgeben ist immer ein sozialer Akt, das heißt, wir erzählen unsere Leben innerhalb eines Rahmens des gesellschaftlich Möglichen. Die Stigmatisierung des queeren Verlangens führte dazu, dass so gut wie keine Holocaustüberlebenden mit diesen Erfahrungen – und diejenigen, die sich als lesbisch oder schwul verstanden – ihre Lebensgeschichte erzählten. Wenn sie es taten, verschwiegen sie ihre eigene Queerness.

Woher kam diese Homophobie?[2] Wieso fühlten sich Menschen, deren Familien ermordet wurden, die unter Hunger, Gewalt, Schmutz und Zwangsarbeit litten, dermaßen von gleichgeschlechtlichen, oftmals einvernehmlichen sexuellen Aktivitäten bedroht? Es ist bemerkenswert, dass sich Holocaustopfer von gleichgeschlechtlicher Intimität nicht nur dann gepeinigt fühlten, wenn sich jemand mit queerem Verlangen ihnen näherte, sondern auch, wenn sie Augenzeugen von queerem Verlangen anderer waren. Wanda Połtawska, die polnische Widerstandskämpferin, fragte sich gar, ob die lesbischen Mithäftlinge in ihrer Baracke überhaupt »noch Menschen« waren.[3] Die Markierung einiger Holocaustoper als Monster hatte Einfluss darauf, wie an sie erinnert, was von ihnen überhaupt erzählt und gesammelt wurde und was schließlich als »geeignete Geschichte« galt.

Das vorliegende Kapitel untersucht diese ausgeblendeten queeren Geschichten. Indem ich die Geschichten von Menschen, die als so abnorm angesehen wurden, dass man am besten nicht über sie redete, schreibe, widme ich mich zugleich dem größeren Thema, wie normativ Holocaustgeschichte geschrieben wird. Mein Ziel ist es nicht nur, queere Juden Teil der Shoahgeschichte werden zu lassen; ich möchte auch aufzeigen, aus welcher Perspektive heraus queere Erfahrung ausgeklammert wurde. Queere Holocaustgeschichte hilft uns, das Narrativ einer erlösenden Geschichte zu erkennen, eine Form, in der dieser Genozid oft erzählt wird.

Eine Geschichte der Sexualität im Holocaust, insbesondere einer queeren Sexualität, hilft die unrealistische und ahistorische Erwartung von Helden und Heiligen zu umschiffen. Viele, wohl die meisten, romantische und sexuelle Beziehungen im Holocaust – zwischen Retter_innen und geretteten Juden, Häftlingen in Konzentrationslagern und Ghettos – waren definiert durch Abhängigkeiten bis hin zu Ausbeutung. In der schrecklichen Welt der Lager hatte Sexualität viele Funktionen – Trost, Freizeitaktivität, sozialer Vertrag und auch Ressource. Sexualität war aber vor allem ein Statement zu Macht und Status. Machthierarchien waren in fast allen sexuellen und romantischen Beziehungen in den Lagern so bestimmend, dass sie uns vor allem dahingehend einen Einblick bieten, wie die Häftlingsgesellschaft Macht aushandelte. Status muss ausgeübt werden, und deswegen musste Sex offen ausgelebt werden, damit dieser als Statusmarker anerkannt werden konnte. Zugang zu Sexualität wurde ein Mittel, die eigene Machtposition zu demonstrieren.[4]

Zu dieser Konstellation gehört auch die Erkenntnis, dass viele dieser hierarchischen Beziehungen von Gewalt durchsetzt waren. Solche Beziehungen konnten zwischen Funktionshäftlingen und jungen Häftlingen stattfinden – oder zwischen Häftlingen und deutschen Bewacher_innen.[5] »Beziehung« ist im Deutschen ein Wort, das ein Einverständnis der Beteiligten nahelegt, im Gegensatz zum englischen Ausdruck »relationship«, das viel offener ist. Dieses Buch will sich ausdrücklich von dieser Annahme verabschieden. Ich glaube, dass das Konzept eines informierten Einverständnises (informed consent) im Holocaust nicht besonders hilfreich ist, denn Häftlinge brauchten fast immer dringend Schutz und Ressourcen und hatten so keine freie Wahl, die Zwangssituation ohne Nachteil zu verlassen.[6]

Was dieses Kapitel nicht bietet, ist eine komplette Übersicht der queeren Erfahrungen im Holocaust; das wäre Aufgabe einer umfassenden Monografie, oder eher mehrerer Bücher. Ich hoffe, dass ich nachfolgende Forscher_innen mit diesem Kapitel dazu inspirieren kann. Das Kapitel untersucht ebenso wenig eines der bekanntesten und vermutlich besonders häufigen Vorkommnisse der queeren Sexualität im Lager, der gewaltsamen Beziehungen zwischen Kapos und Pipeln (dem widmet sich das zweite Kapitel in dem Abschnitt zu Nate Leipciger). Weiterhin kommen in diesem Kapitel auch nicht die erzwungenen Beziehungen zwischen Aufseher_innen und Häftlingen zur Sprache.[7]

Zur Begrifflichkeit: Wie sollen wir die betroffenen Personen bezeichnen? Es wäre reduzierend und ahistorisch, sie als Schwule, Lesben oder Homosexuelle zu bezeichnen.[8] Nur ein Bruchteil derjenigen, die im Lager die intime Nähe von Personen des gleichen Geschlechts suchten, identifizierte sich davor oder danach (wenn sie das Glück hatten, zu überleben) als solche.[9] Zudem ist zu berücksichtigen, dass die meisten Konzentrationslager monosexuell organisiert waren. Wollte man sexuell aktiv sein, war neben Masturbation Sex mit Angehörigen des eigenen Geschlechts zumeist die einzige Alternative.[10] Manche der Leute, die sich an queerer Sexualität während der Verfolgung beteiligten, taten dies auch davor und danach. Viele aber nicht. Aber nur wenige dieser Personen verstanden sich als »homosexuell«, einfach aus dem Grund, weil dies eine moderne sexuelle Identität bezeichnet.[11] Wie geht man mit diesem Problem um? Die Aufgabe hier ist, zu historisieren, nämlich zu erkennen, dass die Bedeutung von Sexualität und somit auch die Entstehung einer sexuellen Identität von Zeit, Klasse, Ort und anderen Faktoren abhängt.

Deswegen ist hier von queeren Menschen die Rede, weil dieses Konzept der Offenheit und Komplexität gerecht wird, mit der die Menschen in der Geschichte ihre eigene Sexualität begreifen. Ich stimme mit Jennifer Evans darin überein, sich beim Erforschen der Sexualität in Zusammenhang mit dem Holocaust von dem Konzept Identität zu verabschieden und stattdessen von »Akten und Praktiken« zu sprechen.[12] »Queer« ist ein Sammelbegriff, der Identitätszuschreibung sein kann, aber nicht sein muss; dazuzugehören umfasst sowohl, was die Menschen taten, als auch, wie sie sich verstanden. Die Menschen, über die ich schreibe, waren ein Teil der queeren Geschichte. Schließlich erinnern uns trans Geschichte und Geschichte der geschlechtsnonkonfomen Personen daran, dass wir uns, um deren Geschichte zu verstehen, von unseren Annahmen über Geschlechterrollen und Geschlechtsbinarität verabschieden müssen.[13]

Die Homophobie der Lager gilt es ebenso zu historisieren, denn diese negative Einstellung bedeutete damals etwas anderes als heute. Es wäre ahistorisch und falsch, die Werte einer vergangenen Gesellschaft mit unseren heutigen Augen zu betrachten. Es ist aber genauso wenig hilfreich anzunehmen, dass damals alle homophob gewesen wären.

Die Erforschung der historischen Homophobie ist vergleichbar mit dem Studium des Antisemitismus:[14] Die Tatsache, dass Homophobie in historischem Diskurs verbreitet war, normal war, heißt nicht, dass wir sie nicht erforschen sollen. Wenn wir die Menschenrechtsbewegungen Homosexueller der Zwischenkriegszeit ins Blickfeld nehmen, sind die Entwicklungen in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen aufschlussreich. Nicht nur gab es in Osteuropa lebendige und engagierte Organisationen, sie waren zudem auch erfolgreich. Polen entkriminalisierte Homosexualität 1932, 37 Jahre vor Westdeutschland.[15] Wir sollten also nicht mit der Annahme eines konservativen Osteuropa operieren, sondern eher Fragen stellen wie: Was bedeutete Homophobie in einer bestimmten Situation? Zu welchem Zweck diente sie? Wie ist sie entstanden? Auf diese Weise werden wir die Mechanismen der Häftlingsgesellschaft besser verstehen können, die Homophobie zu einem so wichtigen Bestandteil ihrer Anschauung machten.[16]

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Erscheint lt. Verlag 21.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-8353-8639-5 / 3835386395
ISBN-13 978-3-8353-8639-6 / 9783835386396
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