Autistischen Kindern Brücken bauen -  Sibylle Janert

Autistischen Kindern Brücken bauen (eBook)

Ein Elternratgeber
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
271 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61905-4 (ISBN)
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Kinder mit einer Diagnose im Autismus-Spektrum versinken in ihrer eigenen Welt und sind dadurch häufig schwer erreichbar. Wie können Eltern den richtigen Zugang zu ihrem Kind finden? Die Autorin zeigt Eltern und pädagogischen Fachkräften einfühlsam und humorvoll, wie kleine Alltagsmomente zur Veränderung genutzt werden können: Verständnis, geteilte Freude, Spiele und interaktive Situationen sind einfache, aber wirkungsvolle Mittel, um Kinder mit autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen zu fördern und ihnen Brücken in eine gemeinsame Welt zu bauen. Das Buch ist eine Schatzkiste mit vielen wertvollen Anregungen für ein gelungenes Miteinander!

Sibylle Janert, Psychologin mit Fortbildung an der Tavistock Clinic, London, und DIRFloortime-Expert Trainerin, tätig in Beratung und Coaching mit Familien mit einem Kind mit autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen sowie in der Fortbildung im deutsch- und englischsprachigen Raum.

Einleitung

Als ich angefangen habe, mit autistischen Kindern zu arbeiten, habe ich vergeblich nach einem Buch gesucht, das sich auf die ersten Lebensjahre konzentriert hätte, das praktisch, kindzentriert und leicht zu lesen gewesen wäre, das dem Leser oder der Leserin geholfen hätte, zu verstehen, was im Kopf eines autistischen Kindes vor sich geht und was manche der rätselhaften Verhaltensweisen zu bedeuten haben. Dieses Buch versucht genau das Buch zu sein, das ich nicht finden konnte.

Eltern haben den inständigen Wunsch, ihrem Kind zu helfen, wenn sie nur wüssten, wie. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das sie befällt, wenn sie mit der Reaktionslosigkeit ihres Kindes konfrontiert sind, verlangt einen praktischen Ansatz. Dieses Buch soll Eltern etwas Mut machen, indem es versucht, ein wenig Licht in einige dieser schwierigen Gefühle zu bringen. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, all denen, die sich um autistische Kinder kümmern, zu helfen, sich ab und an etwas von dem Trauma und der Verzweiflung zu erholen, die mit der erschütternden Diagnose Autismus oder „autistische Merkmale“ verbunden sind.

Autismus ist ein komplexer Zustand einer umfassenden Entwicklungsverzögerung. Für gewöhnlich ist den Eltern schon lange vor dem ersten Geburtstag des Kindes klar gewesen, dass mit ihm irgendetwas „nicht so ganz stimmt“. Nicht, dass man irgendetwas sehen könnte: Das Kind sieht völlig gesund aus, wächst und nimmt zu. Es kann sehr viele Dinge tun. Aber es tut sie nicht, und das ist das Problem. Es ist einfach nicht motiviert zu kooperieren. Während die körperliche Entwicklung des Kindes seinem Alter entspricht, sind seine intellektuelle/kognitive Entwicklung und seine ganze soziale, kommunikative und emotionale Entwicklung stark verzögert.

Was fehlt, ist etwas, das unserer Meinung nach bei einem anderen Menschen einfach nicht fehlen kann, wie jung er auch sein mag: Nämlich dass ein Mensch, egal, ob es sich dabei um einen Erwachsenen, ein Kind oder einen Säugling handelt, an anderen Menschen interessiert ist und mit anderen zusammen sein möchte. Es ist dieser Wunsch, der beim autistischen Kind so auf so unglaubliche Weise fehlt: der Wunsch, kommunizieren zu wollen, wissen zu wollen, kooperieren zu wollen. Es scheint nichts von alledem zu wollen! Es schaut anderen Menschen nicht ins Gesicht, um mit ihnen das, was sie anschauen, zu teilen. Es zeigt nicht auf Dinge, die es sieht, um seine Erfahrung zu teilen, wie es für ein Kleinkind ab neun Monaten typisch wäre. Es ist zurückgezogen und außergewöhnlich lange Zeit mit sich allein zufrieden, oder es ist aktiv und ständig in Bewegung. Vielleicht klammert es sich dauernd an, klettert bei jedem auf den Schoß oder möchte unbedingt von jedem auf den Arm genommen werden, egal von wem.

Das autistische Kind spielt nicht wie andere gleichaltrige Kinder, die im Rahmen von So-tun-als-ob-Spielen kreativ Dinge zusammenbauen oder zusammenstellen, Dinge imitieren oder sich phantasievoll Situationen ausdenken. Dies scheint durch ein oft starkes Interesse an Objekten ersetzt zu werden, das repetitiv, zwanghaft oder stereotyp ist. Sein „Spiel“ ist mehr ein Herumspielen mit Gegenständen: Sie werden in den Mund genommen, geschüttelt, schnell im Kreis gedreht, hintereinander aufgestellt; es wird auf sie eingeschlagen oder mit ihnen herumgeschlagen, oder es werden Schalter und elektrische Knöpfe endlos an- und ausgeknipst. Das Kind möchte Dinge haben, halten, beißen, essen. Wird ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht, verfällt es im Zweifel schlagartig in einen zornigen Schreikrampf oder bekommt einen Wutanfall, nur um dann seine Beschäftigung mit geradezu tyrannischer Entschlossenheit wieder aufzunehmen.

Am bedeutsamsten ist sein gänzlich mangelndes Interesse an der Bedeutung und der sinnbildlichen Darstellung von Dingen, zum Beispiel im So-tun-als-ob-Spiel in der Spielecke, mit dem Bauernhof oder beim Füttern des Teddys, wie andere Einjährige es tun. Stattdessen konzentriert sich seine ganze Aufmerksamkeit auf sinnliche, rhythmische Körpererfahrungen, auf Hautempfindungen, wie Berühren, Streicheln, Anfassen, sowie darauf, dass Spielzeuge und Gegenstände in die Hand oder eigene Körperteile in den Mund genommen werden. Auch die Wahrnehmung kann dazu benutzt werden, um bar jeder Bedeutung eine sinnliche Form des Sehens oder Hörens zu befriedigen. Während das Kind taub zu sein scheint, wenn man es anspricht, konzentriert es sich in Wirklichkeit vielleicht auf das Summen des Kühlschranks. Jede Bewusstheit von seiner Umgebung scheint einfach verschwunden zu sein. Es nimmt nichts mehr wahr und scheint völlig in sich versunken zu sein, als hätte es sich ganz und gar der Empfindung hingegeben, die es auf seiner Haut fühlt, zum Beispiel auf seinen Händen, seinem Mund, seinen Rücken auf dem Boden. Für die Welt um es herum scheint das Kind völlig in sich versunken zu sein.

Aufgrund seiner Unfähigkeit, eine Bedeutung in den Dingen zu sehen, die in seiner Umwelt geschehen, und ihnen eine Bedeutung beizumessen, klammert sich das autistische Kind an routinemäßige Abläufe und besteht darauf, dass alles immer gleich sein muss. Es kann merkwürdige oder stereotype Gewohnheiten entwickeln, wie mit den Händen flattern, schaukeln oder rhythmisch einen Gegenstand rütteln, wobei es sich hartnäckig jedem Versuch widersetzt, es aus solchen völlig in sich selbst vertieften Zuständen herauszuholen. Wird diese Ordnung der Dinge durch irgendetwas gestört, gerät das Kind oftmals völlig außer sich: Das äußert sich in langen Schreianfällen oder unglaublichen Wutausbrüchen, manchmal scheinbar auch ohne jeden für den Beobachter ersichtlichen Grund.

Das Kind hat nicht den Wunsch, dem anderen mitzuteilen, wie es sich fühlt oder was es von einer Erfahrung hält. Worte und Sprache interessieren es in der Regel nicht allzu sehr, wenn überhaupt, um sie in einem kreativen kommunikativen Sinne zu nutzen. Vielleicht ist es stumm und lernt nie sprechen. Und wenn es doch zu einer Sprachentwicklung kommt, kann es sein, dass diese erst im Alter von fünf Jahren beginnt und dass ihr eine gewisse menschliche Lebendigkeit und Reaktionsfähigkeit fehlt: Seine Sprache ist wahrscheinlich repetitiv oder „echolalisch“, so dass das Kind einfach wie ein Echo Ihre Frage wiederholt, statt eine angemessene Antwort zu geben. Worte benutzt es vielleicht nur, wenn es etwas möchte, so dass das Aussprechen eines Wortes fast wie ein Knopfdruck ist, mit dem der Fernseher angestellt oder ein „Schokoladenkeks“ (das heißt, eine Person) herbeigezaubert werden kann.

Der Ansatz dieses Buch besteht nicht darin, eine umfassende Methode zu beschreiben, sondern vielmehr eine Sammlung hilfreicher Ideen, Aktivitäten, Strategien und Spiele aufzuzeigen, die durch praktische Erfahrungen im Alltag auf der Grundlage von alledem entwickelt wurden, „was funktionierte“. Dazu gehörten auch viele der ausgezeichneten, gegenwärtig verfügbaren kognitiven/verhaltenstherapeutischen Methoden und Erkenntnisse aus der Säuglingsforschung sowie moderne psychodynamische Denkansätze. Als wesentlich wird ein Interaktionsmodell vorausgesetzt, in der Annahme, dass das eigentliche Problem darin liegt, was zwischen einem autistischen Kind und einer anderen Person abläuft – oder eben nicht abläuft.

Das Ziel ist, dem Kind zu helfen, sich auf die zwischenmenschliche Kommunikation einzulassen, und zwar durch „Verhaltensweisen der Erwachsenen“, die es im wahrsten Sinne des Wortes dazu „bewegen“ können, all seine Sinne zusammenzuholen, um seine Aufmerksamkeit auf die Interaktion mit einer anderen Person zu konzentrieren. Dabei sollte es so viel Spaß daran haben, dass es motiviert ist, noch mehr von solch zwischenmenschlicher Interaktion zu wollen. Die ersten drei bis vier Lebensjahre sind die absolut entscheidenden Jahre, um bei einem Kind mit autistischen Verhaltensweisen einzugreifen, und diese Intervention muss so früh wie möglich und mit einer von tiefem Verständnis geprägten Überzeugung erfolgen. Die Aufgabe, die den Erwachsenen dabei zukommt, besteht in der enormen Anstrengung, das, was an gesundem entwicklungsspezifischen Potenzial da ist oder da sein könnte, zu entwickeln und „hervorzuholen“ (Alvarez 1992, dt. 2001). Gleichzeitig muss man versuchen, das Kind von entwicklungshemmenden Verhaltensweisen und von autistischen „Anti-Geisteshaltungen“ abzubringen, die dem Kind möglicherweise schon zur Gewohnheit oder sogar zur Sucht geworden sind.

Dieses Buch verbindet Denkansätze mit praktischen Vorschlägen und ermutigt im Gegensatz zu automatischen mechanischen Ansätzen zu einem gefühlvollen Umgang. Ziel ist es, verhaltenstherapeutische Ansätze zu fördern, zu beleben und durch sie das Verständnis der zugrunde liegenden innerpsychischen Vorgänge menschlicher zu gestalten.

Insbesondere wenn Hilfe früh genug kommt – im Idealfall bereits im Alter von neun bis 18 Monaten oder auf jeden Fall bevor das Kind fünf ist –, können in der Regel wenigstens einige der ersten Grundlagen der kommunikativen Sprachentwicklung gelegt werden. Damit kann einer gravierenden Entwicklungsverzögerung oder gar einem Entwicklungsstillstand entgegengewirkt und denen, die sich um das Kind kümmern, ein gewisses Verständnis vermittelt und vor allem Hoffnung gemacht werden. Ob es große oder nur kleine Fortschritte macht, ob es sprechen lernt oder nicht, ob es spielen, lesen und schreiben lernt oder nicht, vermag niemand zu sagen. Das Beste, was wir tun können, ist, zu versuchen, unser Bestes zu geben und abzuwarten.

Dieses Buch wurde für all diejenigen geschrieben, die direkt mit der Betreuung eines kleinen Kindes zu tun haben, bei dem „autistische Merkmale“ oder eine „autistische Störung“...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-497-61905-1 / 3497619051
ISBN-13 978-3-497-61905-4 / 9783497619054
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