Umwege und Zwischenräume -

Umwege und Zwischenräume (eBook)

Perspektiven zu Bildung und Kultur
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
188 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8031-5 (ISBN)
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Fünfzehn Jahre nach Gründung des Instituts für Bildung und Kultur (IBK) mit seinem Studiengang Bildung - Kultur - Anthropologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena werden in diesem Band Perspektiven zu Bildung und Kultur ausgemessen und geben als weitere und nähere Horizonte einen Einblick in die Vielfalt der Themen, die aus der Mitarbeit am Institut erwachsen sind. Dabei zeigt sich: Weder Kultur noch Bildung lassen sich auf den Begriff bringen oder in formale Ordnungen zwingen, sie gleichen freien Radikalen, die auf Umwegen und in Zwischenräumen thematische Verbindungen knüpfen wie Gegenstrebiges fruchtbar machen können. Mit Hilfe von Wegmarken werden Facetten erprobt, die etwas über Distanzen sagen können, die in Bildungs- und Kulturprozessen zurückgelegt werden müssen und zurückgelegt werden, und die Geschichten über das Menschsein in der Welt erzählen.

Markus Hundeck, Dr. habil., ist Professor für Methoden und Ethik der Sozialen Arbeit an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Michael Winkler, Dr. phil. habil., war bis 2018 Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik sowie langjährig Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er lehrt heute an der Evangelischen Hochschule Dresden und im Masterstudiengang der ARGE Bildungsmanagement in Wien. Und arbeitet als sozialpädagogischer Schriftsteller.

Einleitung


Im September 1784 erscheint in der Berlinischen Monatsschrift eine kurze Abhandlung „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“. Verfasst hat sie Moses Mendelssohn als Antwort auf eine durchaus provokativ gemeinte Frage und Aufforderung, doch endlich mal zu klären, was als Aufklärung zu verstehen sei1. Aufgeworfen wurde diese Frage knapp ein Jahr zuvor von dem Berliner Pastor Johann Friedrich Zöllner im Zusammenhang einer erregten Debatte darüber, ob und wie weit die Ehe allein als bürgerliche und insofern zivilrechtliche Institution anzusehen sei; und ohne Mitwirkung der Kirche zustande kommen solle.

Moses Mendelssohn formuliert seine Antwort in einer Weise, die nahelegt, sie als einen Beitrag für ein Konversationslexikon zu lesen, wie diese seit Beginn des 18. Jahrhunderts als Versuch entwickelt worden waren, um das im allgemeinen Sprachgebrauch eingelagerte Wissen festzuhalten; die großen Lexika entstehen dann erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der bürgerlichen Emanzipations-, wenn nicht Revolutionsbewegung. Im Dezember 1784 folgt in der Berlinischen Monatsschrift, die nun endgültig als das publizistische Organ der Spätaufklärung gilt, auf Einladung des Herausgebers, Johann Erich Biester, der berühmte, viel zitierte Aufsatz von Immanuel Kant zum Thema. Seine Einleitungssätze sind symbolträchtig und emblematisch für die Moderne geworden, obwohl oder vielleicht weil sie zornig klingen:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Lenkung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“2

Von Faulheit und Feigheit spricht Kant sogleich, wenn es um Ursachen geht, dass die Vielzahl der Menschen sich dem verweigern, was als Autonomie gilt; später in seiner Abhandlung gibt sich Kant zurückhaltender und gesteht sich ein, dass von einem Zustand der Aufgeklärtheit noch nicht die Rede sein könne, wohl aber davon, dass sich die Menschen in einem Prozess der Aufklärung befinden. Immerhin! Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Kant bleibt streng, ganz im Unterschied zu Mendelssohn, der mit fast beschwingter Heiterkeit ein Tableau, wenn nicht ein Feld umreißt, auf dem sich diese Denkbewegung erkennen lässt. Er macht niemandem etwas vor, erklärt gleich im ersten Satz: „Die Worte Aufklärung, Kultur und Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum.“3 Allerdings: die Sache selbst ist schon präsent – und hier gibt er sogleich einen Hinweis, der aus der Büchersprache der Philosophie heraus – und in einen Bereich hineinführt, der später der Soziologie zugerechnet wird, vielleicht sogar verdunkelnd:

„Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern. Je mehr der gesellige Zustand eines Volkes durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden; desto mehr Bildung hat dieses Volk. Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung.“4

Deutlich wird: Mendelssohn legt nicht fest, ganz im Gegenteil. Er diskutiert, wägt ab, weist Dialektiken auf, Widersprüche, Gegensätze, die nur in einer Denkbewegung aufscheinen und in Bewegung bleiben sollen; da zeigt sich ein Denken, das die Schulung an der Tora belegt, die Bereitschaft, sich kritisch noch in den Selbstwiderspruch zu begeben,5 um den Sachverhalten auf die Spur zu kommen, die nicht eindeutig sind. Manchmal, um mit verblüffender Einsicht schon wieder zu verwirren, freilich in einem tiefen Vertrauen auf Humanität: „Der Mensch als Mensch bedarf keiner Kultur, aber er bedarf Aufklärung.“6

Aufklärung, Kultur und Bildung – sie stehen für einen Prozess. Er soll in Gang gesetzt werden, vollzieht sich in einem mehrdimensionalen Zusammenhang, als ein Geschehen, das Mendelssohn in einer spannungsreichen Bewegung dialektisch diskutiert: Wie die so gefassten Bestimmungen in Gegenstreit gebracht werden können, im Widerstreit etwa zwischen Bürger und Mensch. Mendelsohn zeigt ahnungsvoll auf, was 150 Jahre später als Dialektik der Aufklärung festgehalten werden wird: „Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Irreligion, und Anarchie. Mißbrauch der Kultur erzeuget Ueppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben, und Slaverei“. Und wenige Zeilen später:

„Eine gebildete Nation kennt in sich keine andere Gefahr, als das Uebermaß ihrer Nationalglükseligkeit; welches, wie die vollkommenste Gesundheit des menschlichen Körpers, schon an und für sich eine Krankheit, oder der Uebergang zur Krankheit genennt werden kann.“7

Festzuhalten ist: Mendelssohn ahnte, wie viele seiner Zeitgenossen, dass Aufklärung, Kultur und Bildung in ihr Gegenteil umschlagen können, bei Beibehaltung ihrer Wortgestalten – und er machte aufmerksam darauf, dass es um Sklaverei und Nationalismus gehen könnte, um Themen, die heute wieder – zurecht – für Aufmerksamkeit sorgen, aber zu Unrecht den Denkern um 1800 angelastet wurden. Aber das nur nebenbei, wenn man so will, als kleine, gemeine Sottise gegenüber dem moralisierenden Überschwang der Gegenwart. Deutlich ist jedenfalls, dass und wie im Zusammenhang von Aufklärung, Bildung und Kultur, allzumal mit Blick auf die Humanisierung des Humanen, die Dynamik eines Deutungsmusters eingeführt und gewahrt werden sollte, die – am Ende sogar schon defensiv und offensiv zugleich gedacht – die Offenheit einer Aufklärung sichern wollte, die schon zu Verhärtungen tendierte – um davon ganz abzusehen, dass sie wohl ihre eigene Vorgeschichte ausblendete, nämlich die Anregungen, welche sie von Vertretern indigener Völker erhalten hatte. Denn das lag schon wenige Jahre nach Mendelssohn auf der Hand: Bildung wenigstens wurde einerseits zwar überhöht, andererseits auf ein Rationalitätsmuster und eine Technik der Ausbildung reduziert, um endlich dann auf eine durchaus extramundane Sphäre bezogen zu werden, die schnell politisch in Anspruch genommen werden kann, als Geste gegenüber jenen, die als bloß zivilisiert gelten dürfen. Georg Bollenbeck hat das penibel nachgezeichnet,8 als Überidealisierung von Bildung, als Verhärtung von Kultur zum Kampfbegriff, als Elend eines ehemals glanzvollen Deutungsmusters, die er als reaktionäre Modernisierung bezeichnet hat; eine Figur, die später Hans-Ulrich Wehler in dem Konzept einer defensiven Modernisierung aufgenommen hat, welche er als ein durchgängiges Muster der deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert dargestellt hat.

Bollenbeck hat dabei an Beobachtungen angeschlossen, die sich bei Norbert Elias, in der Einleitung zum epochalen Werk über den Zivilisationsprozess finden,9 früher schon bei Georg Lukács anklingen und10 durchaus als Zug in dem aufzufinden sind, was als „kritische Theorie“ dann auch etwas pauschal zusammengefasst wird. Mächtige Denkansätze, die gleichwohl auf eigentümliche Weise eine Geschichte der Verdinglichung und des Verfalls betonen, die nicht so ganz mit dem in eins geht, was Mendelssohn erkannt hatte. Nur Adorno hielt an der Dynamik und – wenn man ein wenig modern sprechen will – Relationalität, wenn nicht Interrelationalität der Begriffsformation fest, wenn er in einer Theorie der Halbbildung notiert:

„Ihr darf die Idee der Kultur nicht, nach den Gepflogenheiten der Halbbildung selber, sakrosankt sein: Bildung ist selber nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung. Kultur aber hat Doppelcharakter. Er weist auf die Gesellschaft zurück und vermittelt zwischen dieser und der Halbbildung. Nach deutschem Sprachgebrauch gilt für Kultur, in immer schrofferem Gegensatz zur Praxis, einzig Geisteskultur. Darin spiegelt sich, daß die volle Emanzipation des Bürgertums nicht gelang oder erst ...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8031-2 / 3779980312
ISBN-13 978-3-7799-8031-5 / 9783779980315
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