Praxisphilosophische Pädagogik -  Armin Bernhard

Praxisphilosophische Pädagogik (eBook)

Ein materialistisch-humanistisches Projekt gegen die Enthumanisierung der Gesellschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
437 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8025-4 (ISBN)
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In diesem Buch werden die Grundlagen einer praxisphilosophischen Pädagogik auf der Basis des Geschichtsmaterialismus entwickelt. Das materialistisch-humanistische Projekt beruht einerseits auf Gesellschaftskritik, dem unhintergehbaren Prinzip einer kritischen Wissenschaft. Untrennbar verbunden hiermit ist andererseits der Grundgedanke, dass eine kritische pädagogische Theorie sich niemals akademisch gegenüber der gesellschaftlichen Praxis abschotten darf, sondern in praxisverändernder emanzipatorischer Absicht anzulegen ist. Von beiden Grundpfeilern hat sich die Erziehungswissenschaft unter dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck weit entfernt. Entgegen diesem Trend bereitet praxisphilosophische Pädagogik die Grundlagen dieser Prinzipien auf. Sie versteht sich in diesem Zuschnitt als ein spezifischer Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen Tendenzen einer Enthumanisierung der Gesellschaft.

Armin Bernhard, Prof. Dr., Dipl.-Päd., ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen.

Praxisphilosophische Pädagogik – eine Hinführung


Zu Beginn der 1980er Jahre proklamierten nicht nur Konservative den Tod des Marxismus, Verkündigungen, die mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ein Jahrzehnt später scheinbar Bestätigung erfuhren. Die Marxsche Theorie schien diesen Prophezeiungen zufolge durch den realhistorischen Verlauf der globalen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen widerlegt. Doch verfügt diese – entgegen diesen Einschätzungen – über eine gesellschaftsanalytische und antizipatorische Kraft, die weit ins 21. Jahrhundert reicht. Die nicht mehr zu übersehende destruktive Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, die fortschreitende Konzentration des Kapitals in den Händen Weniger, die Weltwirtschaftskrisen, die explosiven Gegensätze zwischen arm und reich, die gigantische Vernutzung der natürlichen Lebensgrundlagen, Kriege um Rohstoffquellen und Einflusssphären – dies alles sind Tendenzen, die die aktuale Erklärungskraft des Historischen Materialismus und der in seinem Rahmen ausformulierten Kritik der Politischen Ökonomie herausstellen. Das historisch-materialistische Erklärungsmodell stellt mithin „die avancierteste Form theoretischer Verständigung über das Wesen einer Gesellschaftsordnung“ dar, „die alle Voraussetzungen zu globaler Dominanz in sich birgt.“ (Koneffke 1995, S. 1)

Die gesellschaftsanalytischen und antizipatorischen Fähigkeiten des Historischen Materialismus begrenzen sich allerdings nicht auf das Begreifen ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Grundkonstitution. Über ihre fundamentalen Zugänge zu Geschichte und Gesellschaft ermöglicht diese Theorie es zugleich, pädagogische und pädagogisch relevante Phänomene aus einer künstlich eingehegten innerpädagogischen Betrachtung herauszulösen und von ihren gesellschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen her kritisch einzuordnen und zu begreifen. Das materialistische erziehungs- und bildungswissenschaftliche Konzept der Pädagogik wird im Folgenden innerhalb dieser Geschichts- und Gesellschaftstheorie entwickelt. Konstitutiv für Anlage und Ausarbeitung dieses Pädagogik-Modells ist der Umstand, dass Marx seinen Ansatz von Beginn an als eine Philosophie der Praxis konzipierte.13 Insbesondere ist diese gegen zahlreiche revisionistische Tendenzen der damaligen Marxismus-Rezeption gerichtete Erkenntnis den beiden italienischen Marxisten Antonio Labriola und Antonio Gramsci zu verdanken. Als Philosophie der Praxis wird die Marxsche Theorie zunächst von Antonio Labriola ab den 1890er Jahren14 in seinen Beiträgen zum Historischen Materialismus rekonstruiert, bevor Antonio Gramsci sie vor allem in seinen Arbeiten im faschistischen Kerker in systematischer Weise ausarbeitet und weiterentwickelt.15 Neben der Marxschen Theorie sind daher diese Beiträge für die vorliegende Konzeption ausschlaggebend.

Marxismus als Philosophie der Praxis


In seiner Schrift „In Erinnerung an das Manifest der Kommunisten“ umreißt Antonio Labriola Ausgangspunkt und Vorgehensweise des als Philosophie der Praxis angelegten Marxismus. Dieser nimmt seinen Anfang in der nüchternen Betrachtung der vorgegebenen (gesellschaftlichen) Dinge, nicht aber etwa, um sie empirisch-positivistisch als Tatsachen festzuschreiben, sondern um sie in ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Gewordenheit und Prozesshaftigkeit verstehen und erläutern zu können (Labriola 1968, S. 18). Wie keine andere Philosophie begreift sich diese Form des Marxismus als in den realen Verhältnissen selbst angelegt, aus deren Analyse, Reflexion und Interpretation er seine Philosophie überhaupt erst kreiert. Diese wächst sozusagen mit der Sache, mit der sie sich beschäftigt und aus der sie sich als Form der Reflexion entwickelt. Die Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich nicht jenseits der Menschen, sondern in ihnen und durch sie „vollziehen“, sollen im Marxismus ihren „theoretischen Ausdruck“ und ihre „praktische Explikation“ finden (ebd.). Über die zur Reflexion gelangte Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse kann die Philosophie der Praxis wiederum verändernd auf jene zurückwirken.

Marxismus als Philosophie der Praxis bezeichnet von der Formulierung her zweierlei:

1. Philosophie der Praxis kann nicht von einem Standpunkt aus betrieben werden, der sich außerhalb der konkreten Gesellschaftsverhältnisse befindet, in denen sie ihre geistigen Tätigkeiten entfaltet. Sie meint eine philosophische Konzeption, die die ihr immer schon vorausliegende gesellschaftliche Praxis zum Gegenstand ihrer Reflexion macht, sich zugleich aber als Teil der von dieser Praxis geschaffenen Verhältnisse begreift. Im Gegensatz zur abstrakt verfahrenden Philosophie, die von der Konkretheit der gesellschaftlich organisierten Lebensverhältnisse absieht, macht die marxianische Philosophie die Praxis als Praxis in ihrer Gesamtheit zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen, das heißt, ihr Denken und ihre Reflexionen werden aus der „Realgeschichte der Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse“ heraus entwickelt (Gramsci 1994/6, S. 1283). Was aber meint Praxis? Es handelt sich hierbei um eine „polyvalente Kategorie“, weil sie im Rahmen der Philosophie der Praxis „alle Seiten des menschlichen Seins“ beinhaltet (Vranicki 1969, S. 105). Praxis wird also in einem umfassenden Sinne verstanden, nämlich als die Gesamtheit der historisch-gesellschaftlichen Praxis unter bestimmten Produktions- und Reproduktionsbedingungen, welche die Theorie übergreifen. Praxis im Rahmen der geschichtsmaterialistischen Theorie meint die Gesamtheit der von Menschen in gesellschaftlichen Verbänden innerhalb eines konkreten geschichtlichen Zeitraums realisierten praktischen Ausübungen und Tätigkeiten. Sie ist geschichtliche Praxis in einem doppelten Sinne, weil sie einerseits in ihren aktualen gesellschaftlichen Tätigkeiten konkrete Geschichte selbst erzeugt, andererseits diese aktuale Praxis selbst wiederum über die geschichtliche Praxis vorangegangener Gesellschaften und Generationen vermittelt ist.

Die Praxis und ihre Frage- und Problemstellungen ergeben sich aus den Zwängen und Erfordernissen, die von den jeweils spezifischen Produktions- und Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft generiert werden. Der Begriff der Praxis übersteigt den der Produktion, insofern sich gesellschaftliche Tätigkeiten nicht nur in der Produktionssphäre vollziehen und Praxis sämtliche Dimensionen gesellschaftlichen Handelns umfasst. Historisch-materialistische Ansätze, die Praxis auf die Tätigkeiten in der gesellschaftlichen Produktion beschränken, verkennen die Tiefe und Vielseitigkeit der Marxschen Praxisauffassung.16 In ihr ist auch die die gesellschaftlichen Verhältnisse stets wiederherstellende bzw. erneuernde Reproduktionstätigkeit angelegt, zu der, u. a. der intergenerative Austauschprozess, Sozialisationsvorgänge, Erziehung und Bildung gehören. Wenn die Phänomene der Entfremdung auch in der gesellschaftlichen Produktionssphäre ihren Ursprung haben, so breiten sie sich doch in sämtlichen Praxen der Gesellschaft und der Kultur aus, so dass Prozesse der Überwindung der Entfremdung in sämtlichen Regionen der Gesellschaft anzusetzen haben (vgl. Schmied-Kowarzik 2022, S. 60 f.).17 Praxis als konkrete Tätigkeit ist in der Basis wie im Überbau, in der Terminologie Gramscis: in der Struktur wie in den Superstrukturen sowie in den Wechselbeziehungen zwischen beiden, nicht voneinander trennbaren Bereichen der Gesellschaft angesiedelt. Praxis umfasst die Organisation und Durchführung von Arbeitsprozessen ebenso wie administrative und institutionalisierte Vorgänge, politische Strategien ebenso wie alltägliche Handlungsvollzüge in zivilgesellschaftlichen Kontexten, Formen des Umgangs einer Gesellschaft mit Kindern und Jugendlichen ebenso wie kulturelle und ästhetische Tätigkeiten. Klassenkämpfe als besondere Formen von Praxis können sich als Kämpfe um eine gesellschaftliche Alternative oder als Streiks für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, aber auch als Kontroversen verschiedener Ideologien oder als Kämpfe um die Vorherrschaft bestimmter Leitbilder und Theorien in den...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8025-8 / 3779980258
ISBN-13 978-3-7799-8025-4 / 9783779980254
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