Foregrounding. Ästhetische Rezeption in didaktischer Perspektive (eBook)
223 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8092-6 (ISBN)
Cornelia Rosebrock, Jg. 1957, Dr. phil., ist Professorin für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. mit den Arbeitsschwerpunkten Literaturdidaktik und Lesesozialisationsforschung.
Literarisches Foregrounding in Leserperspektive.Phänomenologische und empirische Befunde
Cornelia Rosebrock
Abstract
In jüngerer Zeit wurden verschiedene wirkungstheoretische Annahmen über den Zusammenhang zwischen textseitigen Stilmerkmalen und Modi der leserseitigen Beteiligung in literarischen Lektüreprozessen mit empirischen Verfahren untersucht. Der folgende Beitrag bietet nach einer systematisierenden Darstellung des Foregrounding-Konzepts einen Forschungsüberblick über rezeptionsästhetisch orientierte Studien zu der Frage, wie sich die textseitigen stilistischen Hervorhebungen auf die leserseitigen Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Erfahrungsprozesse auswirken können. Insbesondere werden Forschungen zu stilistischen Textimpulsen vorgestellt, mittels derer Lesende Bezüge zu vorsprachlichen Empfindungen herstellen, und es werden Schlussfolgerungen zur Spezifität der Interaktion zwischen literarischem Text und leserseitiger Verarbeitung im Blick auf ihre Bedeutung für die Literaturdidaktik gezogen.
Warum also lesen? Um wenigstens manchmal einige Zipfel jener vorsprachlich präsenten Erfahrungen, aus denen wir intuitiv leben und mit denen wir dahinleben, als solche zu ergreifen und uns anschaulich vor Augen zu führen. Ob sie nun schön sind oder schrecklich.
Jürgen Habermas (2020, S. 123)
1Einleitung
Im Prozess des Lesens von Texten aller Art treten in den leserseitigen mentalen Modellen wechselnde Elemente in den Vordergrund des Leserbewusstseins. Andere werden dadurch zum Hintergrund oder sinken ganz aus der aktuellen Verarbeitung, bis sie wieder angefordert werden – so beschreibt es die Rezeptionsphänomenologie (z. B. Iser, 1976), weitgehend kompatibel mit der Kognitionstheorie des Lesens und ihrem Begriff des mentalen Modells (z. B. Kintsch, 1994; Johnson-Laird, 1983) und auch mit der strukturalistischen Perspektive auf literarisches Lesen (z. B. Šklovskij, 1916/1995). In Erzählungen sind das etwa Figuren, Landschaften, Ereignisse usw., die textseitig gesteuert im leserseitigen Bewusstsein in den Vordergrund gerückt und prozessiert werden. Das Hervor-Treten von Komponenten der erzählten Welt in den leserseitigen Ko-Konstruktionen wird im Horizont der Gestalttheorie „pragmatisches Foregrounding“ (van Holt & Groeben, 2005) genannt; davon soll hier weniger die Rede sein.
Literaturdidaktisch interessant ist vielmehr das Foregrounding von Stilelementen, wie es beispielsweise in Reimen auftritt: „…fällt er in den Graben / so fressen ihn die Raben“, heißt es im Kinderreim. Die Parallelität der Lautgestalten an den Versenden macht sich zusätzlich zum inhaltlich Formulierten leserseitig bemerkbar – die Schwärze des Raben färbt gewissermaßen auf die Tiefe des Grabens ab (Lypp, 2000, S. 70). Das Foregrounding provoziert diesen Überschuss an Bedeutungen, der das kindliche Vergnügen am Text auszumachen scheint.
Solche stilistischen Parallelitäten in poetischer Sprache sind nicht auf die phonologische Dimension beschränkt (Bell et al., 2021). Dass z. B. das beschriebene Wetter im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts regelmäßig das Gemüt der Figur widerspiegelt, hat Christian Delius (1971) belegt: Trauer, dramatische Zuspitzung, Glück usw. der literarischen Figuren, zeigen sich regelmäßig in Schilderungen eines passenden Wettergeschehens. Der Parallelismus evoziert eine sinnliche Ähnlichkeit zwischen seinen Elementen, ein Element animiert das andere.
Stilistisches Foregrounding entsteht einerseits durch solche Parallelitäten, andererseits durch Kontraste, nämlich durch eine auffällige Abweichung des in den Vordergrund tretenden Stilelements vom Hintergrund. „Warum tut die Kirche eigentlich nichts für die Ihren, die so fleißig ihre Gebäude mit Fleisch anfüllen?“ lässt Elfriede Jelinek (2000, S. 18) im Roman „Gier“ den Protagonisten fragen. Gläubige als „Fleisch“ zu titulieren widerspricht sozialen Normen. Dadurch sticht diese Bezeichnung heraus, sie drängt in den Vordergrund der Lektüre und bewirkt, dass die Frage zu einer aggressiven und rhetorischen wird.
Im folgenden Forschungsüberblick werden Studien vorgestellt, die den Prozess der Rezeption von stilistischen Foregrounding-Elementen1 in literarästhetischen Texten erfassen und beschreiben, und der potenzielle leserseitige Erfahrungsgehalt solcher Elemente wird diskutiert. Dafür wird zunächst das Konstrukt ‚Foregrounding‘ expliziert. Dabei wird auch paralleles Foregrounding symmetrisch berücksichtig, obwohl m. W. keine empirischen Rezeptionsstudien verfügbar sind, die sich auf dessen Operationalisierung und Verarbeitung beziehen. Insofern steht der Verarbeitungsprozess von devianten Foregrounding-Elementen anschließend im Vordergrund, und insbesondere dessen Erfahrungspotenziale werden im Hinblick auf leserseitige persönlichkeitsrelevante Aspekte hin befragt.
2Das Konstrukt Foregrounding
Generell wird unter dem Begriff ‚Foregrounding‘ in den literaturwissenschaftlichen Modellierungen von Rezeptionsprozessen eine sprachliche Äußerung verstanden, die sich stilistisch aus dem sprachlichen bzw. kulturellen Kontext heraushebt und sich damit leserseitig ggf. in den Vordergrund der Wahrnehmung schiebt, sei es durch Parallelismus oder durch Abweichung (van Peer et al., 2021). Foregrounding kann auf allen Ebenen der Sprachverwendung auftreten – in der Phonologie oder im Schriftbild, im Vokabular, der Wortbildung, Syntax, Semantik oder Pragmatik. Paralleles Foregrounding entsteht durch auffällige Ähnlichkeit zwischen sprachlichen Elementen oder durch ihre Wiederholung, es tritt als unerwartete stilistische Regelmäßigkeit auf. Deviantes Foregrounding ist dagegen durch Abweichung bestimmt, es erscheint als unerwartete stilistische Unregelmäßigkeit. Abweichen kann das Stilelement entsprechend sowohl von textinternalen als auch -externalen Normen oder von kulturellen Gewohnheiten.
Freilich gibt es sprachliche Normabweichungen oder stilistische Analogien auch bei alltäglicher Sprachverwendung. Wenn sie übersehen oder als unabsichtlich leserseitig kategorisiert werden, werden sie nicht weiter interpretationsbedürftig. In poetischen Texten erscheinen solche Stilelemente dagegen in größerer Dichte und bilden untereinander Kohärenzen. Sie werden bei sprachaufmerksamer Lektüre als intentional gesetzt wahrgenommen (so schon van Peer, 1986). Beispielsweise finden sich in dem erwähnten Text von Jelinek zahlreiche ‚Seitenhiebe‘ auf die Kirche, ohne dass Kirchenkritik auf der Sprachoberfläche expliziert wird – die wütenden Angriffe sind aufgrund ihrer Dichte allerdings kaum zu überlesen.
Beide Varianten heben sich stilistisch von ihrem engeren oder weiteren Kontext ab, und beide provozieren, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine punktuelle Deautomatisierung des Lektüreprozesses, eine vertiefte Textverarbeitung und die Intensivierung der Texterfahrungen. Foregrounding ist ein textseitiges Verfahren, die Animation des Geschriebenen durch Stilelemente leserseitig herauszufordern, anstatt Objekte als sinnliche oder emotionale zu benennen und damit eine schematische Verarbeitung nah zu legen. Es ist damit ein Spezifikum literarischer Sprachverwendung.
Die Automatisierung [der Wahrnehmung, CR] frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. […] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu ...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8092-4 / 3779980924 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8092-6 / 9783779980926 |
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