Positive Alternspsychologie -  Hans-Werner Wahl

Positive Alternspsychologie (eBook)

Die Stärken der zweiten Lebenshälfte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
162 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8019-3 (ISBN)
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Es ist bereits viel zu einzelnen Stärken des Älterwerdens geschrieben worden. Jedoch gab es bislang kein Werk, in dem diese zu einem übersichtlichen Gesamtbild vereint wurden, das die menschlichen Stärken des späten Lebens gesammelt in den Blick nimmt. Dies ändert sich mit dem vorliegenden Buch, das den Anspruch hat, dem Defizitbild des Älterwerdens mit einer positiv(er)en Perspektive zu begegnen. Dabei geht es nicht um Wunschdenken oder Schönreden des Alterns, sondern um wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die vom Autor verständlich und auf den Punkt gebracht aufgearbeitet wurden. Diese machen Mut und bieten neue Impulse für eine positive Alternspsychologie.

Prof. Dr. Hans-Werner Wahl ist Psychologe, Seniorprofessor und Projektleiter am Netzwerk Alternsforschung der Universität Heidelberg. Zuvor leitete er von 2006 bis 2017 die Abteilung für Psychologische Alternsforschung am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Altern und Technologien, psychologische Anpassungsprozesse im späten Leben und die Rolle subjektiven Alternserlebens und Altersstereotypen.

5.1Erste Stärke der zweiten Lebenshälfte: Selbstregulation und Mäßigung


Der Begriff der Mäßigung klingt altmodisch und hat als Begrifflichkeit sicherlich seine Grenzen. Es geht keinesfalls darum, ältere Menschen sollten sich bitte auf das Wesentliche beschränken, bescheiden und sparsam haushalten und Ressourcen welcher Art auch immer nicht über Gebühr beanspruchen. Sie sollten sich begnügen und den Jüngeren nicht ihre Entfaltungschancen nehmen. Das ist definitiv nicht das, was diese menschliche Stärke meint. Die in der amerikanischen Positiven Psychologie gebräuchliche Bezeichnung „Temperance“ (Seligman 2005) ist zutreffender, meint sie doch eher so etwas wie eine gewisse Kontrolle über die eigenen Handlungen, Gedanken und Gefühle zu haben, wichtige Ziele umsichtig zu verfolgen, Exzesse welche Art auch immer zu vermeiden, moderate und ausgewogene Ansprüche an das Leben zu stellen, sich selbst immer wieder zu begrenzen, um daraus neue Energie zu schöpfen. Die Devise „Weniger ist mehr“, die der Architekt Ludwig Mies van der Rohe gerne für seine Vorstellungen guten Bauens genutzt hat, trifft auch die Stärke der Mäßigung ganz gut.

Maßvolle Entwicklung braucht eine funktionierende Selbstregulationsfähigkeit. Das ist so grundlegend für dieses Buch, dass ich an dieser Stelle dazu weiter ausholen muss – in Bezug auf die Bedeutung von guter Selbstregulation für alle menschlichen Stärken.

Das Konzept der Selbstregulation hat in der Alternsforschung eine wechselhafte Geschichte erfahren. Im Unterschied zu traditionellen Sichtweisen des Älterwerdens, mit einer starken Betonung des „Erleidens“, des „Ertragens“ und als eine Art „Spielball“ von äußeren oder biologischen Kräften, argumentiert die Entwicklungs- und Lebensspannenpsychologie, dass Menschen auch in der zweiten Lebenshälfte bis zu einem gewissen, aber bedeutsamen Grad „Produzent:innen der eigenen Entwicklung“ bleiben (Lerner & Busch-Rossnagel 1981; Wahl 2017; 2023c). Das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte im Entwicklungsgeschehen in der zweiten Lebenshälfte steht dabei vor einer Herausforderung, die in keiner früheren Lebensphase so deutlich wird: Der Erfahrung multipler Verluste und dem Bestreben danach, diese Verluste nicht so weit in das eigene Selbst eintreten zu lassen, dass Zufriedenheit und Sinnerleben dauerhaft leiden. Aber Selbstregulation in der zweiten Lebenshälfte geht sehr viel weiter und muss immer auch im Wechselspiel mit anderen Menschen, aber auch abhängig von Zufallsfaktoren gesehen werden. Ein paar Beispiele: Frau A. nimmt sich kurz nach der Verrentung vor, sich bei einer Tafel für bedürftigere Menschen als helfende Person anzubieten, stell sich vor, vereinbart in Abstimmung passende Arbeitszeiten – und es geht bereits zwei Wochen später los. Zwischendurch hat noch die Tochter angerufen und von diesem Plan abgeraten: „Mensch, Mama, genieß’ doch deine verbleibende Zeit. Gehe auf Reisen.“ Frau A. hat sich nochmals alles überlegt, aber dann doch mit dem neuen „Job“ angefangen. Viele würden sagen: Das war eine gut überlegte und an den eigenen Bedürfnissen orientierte Selbstregulation.

Da deutet sich schon an, dass unsere eigene Entwicklung immer auch viel mit der Entwicklung von anderen Menschen, mit deren Ansichten und Bedürfnissen, zu tun hat. Sie kann von diesen durchaus sehr gefördert, aber auch begrenzt werden. In der Lebenslaufforschung hat sich für diesen Sachverhalt der Begriff der „verbundenen Leben“ („Linked Lives“), also der immer auch miteinander verschränkten und sich gegenseitig beeinflussenden Leben und Lebenswege eingebürgert (Settersten 2003). Frau B. kommt nach der geriatrischen Rehabilitation nach Hause und will weiter trainieren, was sie gelernt hat. Sie fühlt sich nun aber, anders als im Geriatrischen Krankenhaus, unsicher und spricht mit ihrem Sohn darüber. Dieser rät ihr, auf keinen Fall alleine größere außerhäusliche Aktivitäten zu unternehmen: „Was ist, wenn du stürzt, Mama? Und niemand hilft dir.“ Das leuchtet Frau B. ein, und sie will auch nicht gegen den Rat des Sohnes handeln. Nach zwei Monaten hat sie manches wieder verlernt. Die Ängste, eventuell zu stürzen und ins Krankenhaus zu kommen, sind größer geworden.

Aber auch Zufallseinflüsse aller Art können unser Leben und Älterwerden in gewisser Weise regulieren. Man kann im Leben großes Glück ohne viel eigenes Zutun erfahren – oder aber ungewöhnlich viel Pech haben. Diese Entwicklungsdynamik wird auch als Aleatorik (alea = Würfel) bezeichnet, d. h. es sind Zufallseinflüsse mit ganz unterschiedlichen Ursachen, wie z. B. biologische Abbauvorgänge, ein Verkehrsunfall mit dem Fahrrad oder eine völlig unerwartet diagnostizierte schwere Krebserkrankung. Wenn es in den letzten Jahren einen besonders prominenten Zufallsfaktor mit Einfluss auf unsere Entwicklung und auch auf das Leben älterer Menschen gegeben hat, dann war es die COVID-19-Pandemie. Allerdings waren die Auswirkungen der Pandemie auf Ältere extrem verschieden. Vor allem in der ersten Phase der Pandemie ab etwa März 2020 kam es zu Lock-Downs in Einrichtungen der Langzeitpflege. Alte und oft sehr kranke Menschen starben ohne ihre Angehörigen in der Nähe zu wissen. Die soziale Isolation in diesen Einrichtungen hat viele dieser meist sehr alten Menschen psychisch sehr belastet. Viele der jüngeren Älteren in Privathaushalten konnten sich hingegen gut mit den Herausforderungen der Pandemie arrangieren; sie zeigten zumindest keine höheren Einsamkeitsanstiege im Vergleich zu Jüngeren in Folge der Pandemie (Simonson et al. 2023).

Insgesamt scheint sich in der zweiten Lebenshälfte die Umsetzung der menschlichen Stärke der Selbstregulation auf den ersten Blick zu verkomplizieren. Zum Beispiel könnte man argumentieren, dass bestimmte Kompetenzen wie geistige und motorische Leistungsfähigkeit die Voraussetzung dafür sind, dass wir unsere Selbstregulation aktiv und zielgesteuert gestalten können. Diese Ressourcen zeigen aber einen deutlichen Rückgang mit dem Älterwerden (Wahl 2017). Auch könnten solche Ressourcenverluste dazu führen, den unguten Einflüssen der „Linked Lives“ zu widerstehen. Zum Beispiel könnte es sein, dass meine Mitwelt mich als alten Menschen unselbständiger sieht als ich wirklich bin, mich unterschätzt, mir nichts mehr zutraut, dass sie mir negative Altersstereotype im Brustton einer angeblichen Wahrheit über das Altern vermittelt („Mit 85 Jahren, liebe Frau Schmitt, kann man nicht mehr springen, wie ein junges Reh.“). Ältere könnten angesichts gewisser Ressourcenverluste geschwächt derartigen Stereotypen entgegentreten, sie eventuell auch schneller übernehmen. Ältere könnten immer stärker einer Fremdkontrolle unterliegen.

So wird es Zeit für einen ersten forschungsgestützten Fakten-Check zur Stärke Selbstregulation und Mäßigung. In Forschungshaus 1 sind Konzepte zusammengestellt, die in der Lebenslauf- und Alternspsychologie als diesbezüglich besonders wichtig angesehen werden.2

Lebensziele realistisch halten und stetig im Lebensverlauf anpassen


Diese menschliche Stärke haben wir in Tabelle 2 wie folgt beschrieben:

Ziele flexibel verändern, wo es notwendig erscheint. Die eigene Entwicklung nicht von extremen Handlungsabsichten leiten lassen.

Forschungszimmer 1: Sich auf das Wesentliche konzentrieren (Selektivität)

Selbstregulation wird in der psychologischen Alternsforschung häufig anhand des Konzepts der selektiven Optimierung mit Kompensation (sog. SOK-Modell) abgehandelt, das von den beiden Alternsforschern Paul B. und Margret M. Baltes bereits im Jahr 1990 in die internationale Forschung eingebracht wurde. Baltes und Baltes (1990; Schnellüberblick zum SOK-Model in deutscher Sprache in Wahl 2023c) beschreiben drei Prozesse, deren orchestrierte Verwendung einen optimalen Ressourceneinsatz und somit eine...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8019-3 / 3779980193
ISBN-13 978-3-7799-8019-3 / 9783779980193
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