Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland -  Jannis Panagiotidis,  Hans-Christian Petersen

Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland (eBook)

Geschichte und Gegenwart
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
238 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8221-0 (ISBN)
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Gibt es in Deutschland Rassismus gegen Menschen aus dem östlichen Europa? Die Tradition der Abwertung ist lang und hatte historisch verheerende Konsequenzen. Sie endete nicht 1945, sondern wirkt bis heute fort. Zugleich stellt sie in der Rassismusforschung wie in antirassistischen Debatten nach wie vor eine auffällige Leerstelle dar. Dieses Buch bietet den ersten Überblick darüber, in welcher Form Menschen aus dem östlichen Europa in Deutschland Rassismus erlitten haben und bis heute erleiden. Zugleich stellt es ein Plädoyer für eine Osterweiterung der Rassismusdebatte dar, die überfällig ist.

Jannis Panagiotidis ist wissenschaftlicher Geschäftsführer am Research Center for the History of Transformations (RECET) der Universität Wien. Von 2014 bis 2020 war er Juniorprofessor für Migration und Integration der Russlanddeutschen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.

Kapitel 2: Intellektuelle Grundlagen des antiosteuropäischen Rassismus


Die Produktion der Alterität – des „Andersseins“ – Osteuropas im deutschen (wie auch allgemeiner im westlichen) Blick war ein lang andauernder, intellektueller Prozess. Wir können diesen Prozess hier nicht in allen Einzelheiten nachzeichnen. Für das Thema dieses Buches, die Herausbildung des antiosteuropäischen Rassismus, ist vor allem von Interesse, ab wann sich von abwertenden deutschsprachigen Perspektiven auf das östliche Europa und seine Bewohner*innen sprechen lässt. Wie bei den meisten historischen Prozessen gibt es keinen klar zu identifizierenden Punkt, der als ‚Anfang‘ benannt werden könnte. Es lassen sich jedoch Verdichtungen beschreiben, während derer bestimmte Erklärungsmuster an Bedeutung gewannen und diskursmächtig wurden. Für das hier interessierende Thema ist dies nicht zufällig das Zeitalter der Aufklärung, das seit Larry Wolffs bahnbrechender – interessanterweise nie ins Deutsche übersetzter – Arbeit als entscheidender Moment der „Erfindung Osteuropas“ bekannt ist (Wolff 1994). Mit der Herausbildung des „wissenschaftlichen“ Rassismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen dann explizit rassifizierende Perspektiven auf die in der Region lebenden Menschen und speziell die „Slawen“ hinzu. Hier zeigt sich bereits, dass Farbkategorien den Rassismus der damaligen Zeit kaum angemessen beschreiben – auch innerhalb der „weißen Rasse“ wurden eindeutige, rassistisch begründete Hierarchisierungen vorgenommen.

Voraufklärerische Bilder vom ‚Osten‘


Der Fokus auf die Zeit der Aufklärung bedeutet nicht, dass nicht bereits zuvor in hierarchisierender Weise über das östliche Europa und insbesondere seine slawischen Bewohner*innen geschrieben wurde. Für das Mittelalter hat Eduard Mühle die Wandlungen des lateinisch-abendländischen Slawenbildes herausgearbeitet, das ab dem 10. Jahrhundert zunehmend negativ konnotiert war, aber bei einzelnen Autoren auch Aspekte von Antikisierung und Mythisierung enthielt (Mühle 2020, S. 361–382). In der Frühen Neuzeit sind in dieser Hinsicht vor allem Flugschriften und Reiseberichte aussagekräftig. Genannt seien nur die bekanntesten Beispiele aus dem deutschsprachigen Bereich: Sigismund von Herbersteins ursprünglich 1549 verfasstes Werk Rerum Moscoviticarum Commentarii (von Herberstein 2007 [1556/1557]) und Adam Olearius‘ Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscovitischen und Persischen Reyse (Olearius 1656). Beide sind im Rahmen von Gesandtschaften entstanden, beide handeln von Russland, genauer: vom Moskauer Reich, und beide weisen eine spezifische Ambivalenz auf. Einerseits sind sie Ausweis von Kenntnisreichtum: sowohl Herberstein als auch Olearius berichten detailliert über die kirchliche und weltliche Ordnung des Moskauer Staates wie auch, im Stile von ‚Entdeckern‘, über die Weite des Landes, die verschiedenen ‚Völkerschaften‘ und das Alltagsleben. Bis heute gelten ihre Texte als herausragende historische Quellen, die das deutsche Russlandbild nachhaltig geprägt haben.6 Anderseits sind beide Berichte Grundlagen bis heute wirkungsmächtiger Russlandklischees. Exemplarisch sei Olearius zitiert, dessen sechstes Kapitel den Titel „Von der Russen Natur / Eigenschaft der Gemüther und Sitten“ trägt und mit der folgenden Feststellung beginnt:

„Wenn man die Russen nach ihren Gemüthern, Sitten und Leben betrachtet, seynd sie billich unter die Barbaren zu rechnen. […] Dann die Russen keyne freye Künste und hohe Wissenschaften lieben, viel weniger sich selbst darinnen zu üben, Lust haben. […] Daher bleiben sie ungelehrt und grob.“ (Olearius 1656, S. 184)

Im Folgenden werden „die Russen“ der maßlosen Trunkenheit, der „Unzucht“ und des „Sodamieren[s]“ (Olearius 1656, S. 193), auch mit Pferden, bezichtigt. Im letzten Drittel des gleichen Kapitels heißt es dann:

„Gleich wie die Russen von Natur hart und zur Sclaverey geboren seynd, also müssen sie auch unter einem harten und strengen Joch und Zwang gehalten und immer zur Arbeit und zwar mit Prügeln und Peitschen angetrieben werden.“ (Olearius 1656, S. 197)

Nun lässt sich mit gutem Grund einwenden, dass derlei Völkertypologien im 17. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr weit verbreitet waren. Dem ist sicherlich so – entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber die abwertende Dichotomie, die der Schilderung zugrunde liegt. „Freye Künste“ und „hohe Wissenschaften“ verortet Olearius im lateinischen Westen, „die Russen“ sind hierzu „von Natur aus“ nicht fähig und werden als triebgesteuerte, zu Bildung nicht fähige „Barbaren“ präsentiert.

Hierarchisierende Selbst- und Fremdbilder prägten nicht nur bei Schilderungen Russlands die westeuropäischen Mental Maps. Andreas Kappeler hat die Wandlungen des Bildes der Ukraine in westlichen Berichten ab dem 16. Jahrhundert nachgezeichnet, das zwischen positiven Beschreibungen der Kosaken, die als Freiheitskämpfer gegen die russische ‚Despotie‘ skizziert wurden, und einer romantischen Verklärung, aber auch Herabstufung der Ukraine als „Land der Bauern“ oszillierte (Kappeler 2020). Zudem ist der deutsche Polendiskurs der Frühen Neuzeit in diesem Kontext relevant. Zentrale Begriffe waren hierbei „Verwirrung“, „Anarchie“ und „Unordnung“. Sie finden sich als vermeintliche Charakteristika der polnischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita) bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Samuel Pufendorf und vielen anderen. Nicht immer linear und bruchlos – so hat etwa Leibniz in seinem frühen Werk die Funktion Polen-Litauens als antemurale christianitatis gegen den ‚russischen Koloss‘ betont, während sich sein Polenbild später, parallel zu einer positiveren Bewertung Russlands unter Peter I., zunehmend verschlechterte (Pufelska 2017). Im Gesamtblick blieben aber die Bilder von der „polnischen Unordnung“ in der deutschsprachigen Publizistik dominierend, wie Hubert Orłowski auf breiter Quellenbasis nachvollzogen hat (Orłowski 1996). Exemplarisch zitiert sei aus der zeitgenössisch sehr populären Pohlnischen Chronicke Samuel Friedrich Lauterbachs aus dem Jahr 1727:

„Wie der Castellan Coricynius selbst das bekandte Sprichwort, so schon 200 Jahr alt seyn soll, anführet: Polonia confusione regitur. Polen wird durch Unordnung regieret. […] Deswegen gar das verwirrete Polen, und andere Polen ziemlich übel umnehmende Schrifften in die Welt ausgegangen sind. […] Der bekannte Comenius tadelt der Polen grosse Verschwendung und Vollerey, welche ein unordentliches Wesen zu machen pfleget, und propheceyet ihnen daher nichts gutes. […] Ein andrer macht diesen bündigen Schluß. Die Polnische Respublic lebet in Unordnung, in Unordnung wird sie untergehen.“ (Lauterbach 1727, S. 794f.)

Die bisherige Forschung hat diese und zahlreiche weitere Selbst- und Fremdbeschreibungen zumeist als Stereotype analysiert. Vor allem Hans Henning Hahn hat sich um die Analyse des Verhältnisses von Stereotypen und Geschichte verdient gemacht.7 Nimmt man die von ihm geprägte Definition von Stereotypen als verfestigte kollektive Zuschreibungen mit vorwiegend emotionalem Gehalt, die nur in ihren sprachlichen bzw. bildlichen Repräsentationen zu fassen sind und sich nach Auto- und Heterostereotypen, also Eigen- und Fremdzuschreibungen, unterteilen lassen, dann trifft dies sicher auf die obigen Zitate zu (Hahn 2007; vgl. auch Jaworski 1987).

Im Lichte der inzwischen breit gefächerten Forschung zu (post)kolonialen Kontexten wäre heute zu fragen, ob nicht auch dies eine passende Kategorie für die Texte von Herberstein, Olearius, Lauterbach und anderen sein könnte. Die von Christoph Kienemann (2018, S. 48) als Charakteristika angeführte Konstruktion von kolonialer Identität und Alterität, basierend auf der Vorstellung einer ‚eigenen‘, kulturellen Höherwertigkeit, wäre mit gutem Grund zu diskutieren – die Dichotomie von „tiefster Barbarei“ und „höchster Civilisation“ lag vielen westeuropäischen Texten der Frühen Neuzeit über ‚den Osten‘ ...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8221-8 / 3779982218
ISBN-13 978-3-7799-8221-0 / 9783779982210
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