Faschismus im 21. Jahrhundert -  Tomasz Konicz

Faschismus im 21. Jahrhundert (eBook)

Skizzen der drohenden Barbarei
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2024 | 1. Auflage
762 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-0477-8 (ISBN)
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Wohin treiben die beständig nach rechts abdriftenden Gesellschaften in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems? Mit jeder neuen Wahl scheint der Durchmarsch der Neuen Rechten unaufhaltsam voranzuschreiten. Die Verrohung des öffentlichen Diskurses, die zunehmende rechte Gewalt, die rasch voranschreitende Aushebelung von Grundrechten - sie lassen Erinnerungen an den Vorfaschismus der 30er Jahre aufkommen. Für Tomasz Konicz ist dies kein Zufall. In den hier versammelten Beiträgen werden Parallelen zwischen dem Aufstieg des Faschismus im Europa der Zwischenkriegszeit und dem gegenwärtigen Durchmarsch der Neuen Rechten gezogen. Zentral ist hierbei der Krisenprozess der spätkapitalistischen Gesellschaften, der in Wechselwirkung mit dem politischen Aufstieg der extremen Rechten steht: von der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis zur gegenwärtigen Systemkrise. Faschismus soll hierbei als eine Extremform von Krisenideologie demaskiert werden, die in Krisenzeiten mittels Gewalt und Terror eine im Zerfall begriffene kapitalistische Gesellschaftsformation aufrechtzuerhalten versucht - und diese in die Barbarei treibt. Diese Neuveröffentlichung des zuvor beim Heise-Verlag erschienen E-Books ist umfassend aktualisiert und erweitert worden. Das Buch, das nun mit der berüchtigten Sarrazin-Debatte einsetzt, verschafft somit dem Leser einen guten zeithistorischen Überblick über die Genese, die Ausformung, die den extremistischen Werdegang der neuen deutschen Rechten in einer Bundesrepublik, in der die mit Rechtsextremisten durchsetzte AfD zur zweitstärksten politischen Kraft aufsteigen konnte. Zudem werden im abschließenden Kapitel Möglichkeiten einer antifaschistischen Praxis in der gegenwärtigen Systemkrise diskutiert. Tomasz Konicz, geb. 1973, arbeitet als Publizist und freier Journalist mit den Schwerpunktthemen Krisenanalyse und Ideologiekritik. Den theoretischen Hintergrund seiner Beiträge bilden die Wertkritik und die Weltsystemtheorie.

Tomasz Konicz (Jahrgang 1973) arbeitet seit gut 20 Jahren als freier Journalist und Publizist mit den Schwerpunkt­themen Krisenanalyse und Ideologiekritik. Publizistische Tätigkeit u. a. für Konkret, Jungle World, Neues Deutschland. Buchveröffentlichungen: Politik in der Krisenfalle (2012), Krisenideologie. Wahn und Wirklichkeit spätkapitalistischer Krisenverarbeitung (2024), Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa (2015), Kapitalkollaps (2016), Faschismus im 21. Jahrhundert (2024).

2.1 Der Terror der Ökonomie (2018)


 

Es ist einer der folgenschwersten Fehler der orthodoxen linken Faschismusanalyse, diesen als Folge einer bloßen Verschwörung der reaktionärsten Teile der herrschenden kapitalistischen Klasse darzustellen, die das "Volk" verführt habe. Faschismus ist eine genuine Massenbewegung, die in Krisenzeiten tatsächlich an breiter Attraktivität in der Bevölkerung gewinnt und eine echte Eigendynamik entwickelt.

 

Der Faschismus scheint einen Ausweg zu bieten für die bedrängten Massen, die ihm quasi naturwüchsig zuneigen. Die sich zuspitzenden inneren Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung, der zunehmende Druck, der auf den Marktsubjekten lastet – er findet in faschistischer Ideologie und Praxis ein systemimmanentes, barbarisches Ventil. Der sich in Hass wandelnde Druck, der den Faschismus Auftrieb, Legitimation verschafft, er kommt aus der Mitte der kapitalistischen Gesellschaft, nicht aus deren "Rändern". Charakteristisch für den Vorfaschismus ist gerade die faschistische Transformation der Mitte, die plötzlich empfänglich wird für Ansichten und Obsessionen, die zuvor noch als extremistisch galten.

 

Was befindet sich nun in der "Mitte" der spätkapitalistischen Arbeitsgesellschaften? Die zentrale Triebkraft des Aufstiegs der Neuen Rechten soll im Folgenden in der Gesellschaftssphäre verortet werden, die wie keine andere im Spätkapitalismus ideologisch überhöht wird: in der Sphäre der Ökonomie mit ihren inneren, sich zuspitzenden Widersprüchen. Um den Faschismus eben als echtes Massenphänomen erklären zu können, muss der Fokus der Betrachtung auf die Tätigkeitsform der Massen innerhalb der Ökonomie gelegt werden, auf die individuelle wie gesamtgesellschaftliche Reproduktion mittels Lohnarbeit.

 

Dass der herrschenden Ideologie die Lohnarbeit immer noch - trotz der zunehmenden Diskussion um die Krise der Arbeitsgesellschaft - als eine unantastbare Konstante menschlicher Existenz gilt, machte gerade die Debatte um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens deutlich, die in den vergangenen Jahren auch in der Bundesrepublik geführt wurde. Zahlreiche gesellschaftliche Akteure sprachen sich vehement gegen die Idee der Entkopplung von Arbeit und Reproduktion aus, die angesichts rasch voranschreitender Automatisierungs- und Rationalisierungstendenzen in der Ökonomie an Anziehungskraft gewinnt.

 

Der DGB stellte sich beispielsweise im April 2018 gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen, als öffentlich Alternativen zu den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen diskutiert wurden.5 Er halte von solcherlei Ideen "gar nichts", erklärte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann gegenüber Medienvertretern: "Arbeit strukturiert Alltag, Arbeit bringt Identifikation, Kommunikation der Menschen." Der Chef der IG-Metall, Jörg Hofmann, erklärte in einem Zeitungsinterview, die Menschen in Deutschland würden "nicht glücklich, wenn sie daheimsitzen und alimentiert werden", sie wollten Arbeiten, "und zwar möglichst qualifiziert". Ende 2017 hatte Münchens Erzbischof Kardinal Reinhard Marx ein flammendes Plädoyer für die Lohnarbeit gehalten,6 die nach Ansicht des katholischen Würdenträgers nicht bloß "irgendwas" sei: "Es gehört zur Grundkonstitution des Menschseins, dass ich für mich und meine Familie etwas schaffe, das von Wert ist". Die Einführung eines Grundeinkommens, das dazu führen würde, dass Menschen sich "nicht gebraucht" fühlten, sei "demokratiegefährdend", so Kardinal Marx.

 

Die innige Liebe zur harten, "ehrlichen" Lohnarbeit, die insbesondere unter den hoch bezahlten Funktionseliten der Bundesrepublik grassiert, bringen aber immer wieder Vertreter der "Arbeitgeber" am besten auf den Punkt. "Arbeit hält gesund" - auf diesen Nenner brachte die Bild-Zeitung im September 2012 die Ausführungen des damaligen Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt.7 Dieser hat in einem Gespräch mit dem Boulevardblatt behauptet, dass Lohnarbeit unter keinen Umständen psychisch krank machen könne. "Im Gegenteil: Berufstätigkeit schafft Selbstbestätigung und Anerkennung. Sie ist damit eine wichtige Basis für die psychische Gesundheit", so Hundt. Wenn Lohnabhängige dennoch psychisch erkrankten, dann seien sie selbst daran schuld, führte der BDA-Chef weiter aus: "Die wesentlichen Ursachen liegen dabei in genetischen (!) und entwicklungsbedingten Faktoren, im familiären Umfeld, im Lebensstil und im Freizeitverhalten."

 

Kranke Arbeitsgesellschaft

 

Dabei wandte sich Hundt mit dieser Intervention gegen eine Fülle von Studien und Berichten, die genau das bestätigen, was der Arbeitgeberpräsident so vehement verneint: Arbeit macht krank. Um 120 Prozent sei die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Deutschlands "Arbeitnehmern" seit 1994 angestiegen, meldete etwa das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) im August 2012.8

 

Aufgrund dieser Zunahme seelischen Leidens an den spätkapitalistischen Zuständen sind der AOK zufolge allein 2011 Kosten in Höhe von 9,5 Milliarden Euro entstanden sein. Diese Behandlungskosten seien binnen eines Jahres um eine Milliarde Euro angestiegen, lamentierte AOK-Vorstand Uwe Deh. Im Jahr 2011 befanden sich 130.000 Menschen allein wegen des Burnout-Syndroms in Behandlung, wobei hier die größten Steigerungsraten zu verbuchen waren: Zwischen 2004 und 2011 sind die auf Burnout zurückgeführten Krankheitstage um das Elffache auf 2,7 Millionen angestiegen.9

 

Dennoch sollten laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BptK) 2011 die Depressionen zu der mit Abstand häufigsten psychischen Erkrankung gehört haben, die 73 Fehltage pro 100 Versicherten verursachte. Der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) zufolge sind die psychischen Erkrankungen 2011 in etlichen Regionen sogar erstmals auf den "dritten Rang bei den Fehlzeiten" vorgerückt. Knapp 14 Prozent aller Ausfalltage der Versicherten der DAK sind auf Depressionen oder Angstzustände zurückgeführt worden, die allein 2011 um zehn Prozent zugenommen hätten.10 "Die psychischen Erkrankungen arbeiten sich nach vorne", kommentierte 2012 Bärbel Löhnert von der klientenzentrierten Problemberatung in Dachau gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Vor wenigen Jahren seien diese Krankheitsbilder in den Statistiken noch "weit hinten" anzutreffen gewesen.

 

Neuere Zahlen zeigten eindeutig, dass der Trend zu Burnout und Depression in Deutschland - der nicht zufällig mit der Durchsetzung der Hartz-IV-Arbeitsgesetze so richtig in Schwung kam - über einen längeren Zeitraum anhielt. Die DAK-Gesundheit meldete etwa 2016 einen neuen Höchststand bei den Fehltagen ihrer Versicherten, die durch psychische Erkrankungen ausgelöst worden sind. Die Krankenkasse zählte 246 Ausfalltage je 100 Versicherte, wobei Frauen weitaus häufiger betroffen waren als Männer. Damit habe sich die Zahl der Fehltage binnen der letzten zwei Dekaden "mehr als verdreifacht".11 Auch die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) meldete für das Jahr 2016 einen "drastischen Anstieg" des Burnout-Syndroms unter ihren Versicherten, von denen 26 000 betroffen waren.12 Innerhalb eines Jahrzehnts sei die Zahl der Burnout-Fälle um 134 Prozent angestiegen, wobei die Altersgruppe der 45- bis 59-Jährigen überdurchschnittlich stark betroffen sei: hier wurde ein Anstieg von 150 Prozent konstatiert. Insgesamt habe die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Leiden in Deutschland binnen zwei Dekaden mehr als verdreifacht, meldete 2017 der Tagesspiegel unter Berufung auf Analysen der Krankenkasse DAK-Gesundheit.13

 

Nicht nur die Burnout-Republik Deutschland ist hiervon betroffen. Auch in der "Wohlstandsinsel" Schweiz brennen Lohnabhängige aufgrund des ansteigenden Leistungsdrucks immer öfter aus, wie es aus Zahlen der Krankenversicherung Swica im April 2918 ersichtlich wurde.14 Demnach haben die Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen innerhalb der Swica-Versicherten innerhalb von fünf Jahren um 35 Prozent zugenommen. Viele Lohnabhängige kämen "mit dem steigenden Arbeitsdruck nicht mehr klar", kommentierte Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse, den Anstieg. Pierre Vallon, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, pflichtete dem bei: "Die Angestellten sind immer stärker unter Druck, müssen permanent Top-Leistungen erbringen und Überstunden leisten."

 

Für viele Lohnabhängige wird dieser Druck immer öfter schlicht unerträglich. Nicht nur in ökonomisch verheerenden Krisenländern wie Griechenland, die durch das deutsche Krisendiktat in den sozioökonomischen Kollaps getrieben wurden, klettert die Selbstmordrate auf immer neue Höchststände.15 Auch in den USA16 steigt die Suizidrate immer weiter an. 2016 haben sich 45 000 US-Bürger das Leben genommen, was einen Anstieg von 28 Prozent gegenüber dem Jahr 1999 gleichkommt. Ein Faktor, der zu diesem steilen Anstieg beigetragen habe, seien die Folgen der "großen Rezession", die vor 2008-09 die USA heimsuchte, erklärten Soziologen gegenüber der Washington Post.

 

Der mitunter letale Druck nimmt immer weiter zu – in der gesamten kapitalistischen "Arbeitsgesellschaft". Folglich sind nicht nur die klassischen Arbeiter und Angestellten, sondern auch die Funktionsträger im mittleren Management von dieser Zunahme psychischer Erkrankungen betroffen, so das Ergebnis Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung (IAI) der Ruhr-Universität-Bochum.17 Jeder vierte deutsche Manager sei burnoutgefährdet, auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen, sei in dieser Gruppe deutlich höher....

Erscheint lt. Verlag 18.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7598-0477-2 / 3759804772
ISBN-13 978-3-7598-0477-8 / 9783759804778
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