Lob des Autodidakten -  Armin Peter

Lob des Autodidakten (eBook)

Versuch über die solitäre Bildung

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
236 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-3385-9 (ISBN)
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In der Entwicklung des Bildungswesen hatte der Autodidakt einen wichtigen Platz. Heute ist er in unserem hocheffizienten und hochdifferenzierten Bildungssystem an den Rand gedrängt. Aber er ist keineswegs marginal. Im Muster der nicht-curricularen Bildung ist Widersprüchliches vereint: Bildungsnot und Bildungsglück, Einsamkeit und Ehrgeiz, Selbstständigkeit und Verführbarkeit, Zweifel und Selbstgewissheit, Freiheit und Zwang, die in jeder ausgeprägten Selbstmotivation liegen. Die Bildungspolitik hat Gründe, sich intensiver mit dem Phänomen des Autodidaktentums und seinen faszinierenden Facetten zu beschäftigen. Sie könnte zusätzliche Erkenntnisse über die Natur des Kraftquells und die Mutter des Lernerfolgs, die wir Motivation nennen, gewinnen.

Armin Peter, geboren 1939 in Hannover, hat in vielen Jahrzehnten Essays, Erzählungen und Romane unter dem Namen Pitt veröffentlicht, seit ein paar Jahren unter seinem bürgerlichen Namen, zuletzt "Der Parteibürger und der Kanzler - Erlebnisbericht" und "Die Schule der Genien - Geschichte einer Theater AG". Informationen auf den Webseiten der Agentur am Aspersort.

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Der eigene Kurs

Wolf Larsen, der auch als Autodidakt navigatorische Instrumente austüftelt, sagt: Ich hab’ nie eine Schule von innen gesehen – leider. Hab’ alles selbst ausgraben müssen. Lesen und Schreiben lernte er als zwölfjähriger Kajütjunge in der englischen Handelsmarine. Maritimer Aufstieg, hart: unendlicher Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit, ohne Hilfe, ohne Verständnis. Ich tat alles aus eigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik, Naturwissenschaft, Literatur und ich weiß nicht, was alles.

Sein intellektueller Antipode, der zum Gentleman erzogene Weyden, der fünfunddreißig Jahre zwischen Büchern verträumt hat, hört eines Nachts, aufs Schaumgekräusel der Wellen lauschend, die Stimme des Seewolfs Verse sprechen: „Denn wir fahren unseren alten Kurs, unseren eigenen Kurs, / Fern von den andern. / Denn wir fahren, denn wir wandern, unsern großen Kurs, / Den südlichen Kurs in das ewige Blau.“

Der Begriff Autodidaxie oder Lernen ohne Lehrer darf nicht ins Deutsch-Pädagogische übersetzt werden mit „Selbstbildung“ oder „Selbsterziehung“. In den Selbst-Begriffen – bis hin zum Ich-Modell des Selbstverwirklichungsmilieus (Gerhard Schulze) oder zum kalifornischen Selbstkult (Michel Foucault) – geht es um den „großen Kurs“ des Lebens, seine Sinngebung. Die Pädagogen, Theologen, Philosophen, die den jungen Menschen auf den Weg der Selbsterziehung schicken, haben die sittliche autonome Persönlichkeit im Auge. Wenn Friedrich Schneider am Beginn des mörderischsten aller Kriege, gestützt auf seine Theorie der Selbsterziehung, auch die Praxis der Selbsterziehung in 52 erläuterten Beispielen schildert, steht immer die Selbstformungsarbeit des eigenen Ich in der ethischen Wertwelt im Fokus. Und der erfolgreichen Selbsterziehung ist die Erkenntnis des eigenen Selbst vorgeschaltet. Auch Wilhelm von Humboldts universitäres Ideal der Selbstbildung ruht auf einem Fundament klassischer sprachlicher und philosophischer Bildung.

Es kapselt in seinem Freiheitsbegriff den tiefliegenden Impuls ein, in der Bildung von institutionellen und konventionellen Beschränkungen frei zu sein. In die Nähe des Autodidakten rückt er damit nicht.

In Schneiders Sorge um die Selbsterziehung wird Benjamin Franklin, in dem der Meyer das Urbild eines Autodidakten sieht, überhöht in einen Selbsterzieher großen Stils, der als Patriot und Staatsmann, Erfinder und Schriftsteller im Rahmen eines Lebensplans unablässig danach strebt, ein Täter des Guten zu sein. Er wird ein Vorbild sittlicher Vervollkommnung. Dass Franklin auf dem Gipfel einer in autodidaktischem Streben angelegten Laufbahn im Strahlenglanz seines Lebenserfolgs meint, einen von Kindesbeinen an verfolgten Vorsatz verwirklicht zu haben, ist verständlich für das 16. Kind eines vor dreihundert Jahren in die Staaten eingewanderten Seifensieders, das mit 10 Jahren im väterlichen Geschäft, mit 12 Jahren in der Buchdruckerei des Stiefbruders jede freie Stunde über den Büchern verbringt.

Die Selbsterziehung in diesem sittlichen Drang zum Besser- und Reiferwerden gehöre zum Wesen des Menschen, und auch die Fremderziehung sei im Wesentlichen nur Anregung zur Selbsterziehung, schreibt Hans R. Franz, ein Schneider-Schüler, in seiner Dissertation über die Selbsterziehung des Autodidakten Friedrich Hebbel, der seine erkämpfte fragmentarische Bildung mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein verbindet. Dennoch habe sich die pädagogische Theorie mit dem Wesen und den Phasen der Selbsterziehung wenig befasst. Ein Beispiel für ein „Paradoxon“, das Wolf Larsen in seinem Lexikon verstehen will?

Warum sollte sich die Pädagogik um den Autodidakten theoretisch oder nur empirisch kümmern? Er ist kein Klient des pädagogisch-medialen Komplexes mit seinen 600 000 Lehrerinnen und Lehrern und 100 000 Professorinnen und Professoren und den Heerscharen von Helfern und Ratgebern; er ist kein Kunde des akademischen Betriebs. Er folgt seinem eigenen Kurs aus Not, aus Eigensinn, manchmal in Selbstüberschätzung, oft in anarchischer Gesinnung. Und manchmal im naiven Glauben an die universelle Schlüsselgewalt von Bildung. Außerdem dürfe man nicht vergessen, sagt der Philosoph Hans Blumenberg in seinen Höhlenausgängen, in denen er sich auch mit dem Phänotyp des Erziehbaren beschäftigt, dass der Mensch nicht selbstverständlich und seiner Herkunft nach ein belehrbares Wesen sei. Er darf das sagen, denn er hat sich den Weg in die akademische Karriere früh als absoluter Leser (Rüdiger Zill) freigekämpft.

Ist der Autodidakt nicht der Schüler, den es nicht geben sollte? Der Homunculus, der seinen Glaskokon zerschlagen will und den Rat von Philosophen sucht, hört von Mephistopheles in der Klassischen Walpurgisnacht: Willst du entstehen, entsteh’ auf eigene Hand. Dagegen protestiert der Philosoph Hans Blumenberg: nein, der entwicklungsfähige Mensch brauche unabdingbar die Lehre, zu der die Festlegung des Menschen auf Mittelbarkeit, langfristig und vielfach gestuft gehört? Hat Mephisto also vielleicht eine Warnung ausgesprochen?

Der neuerdings häufig auftretende Begriff „Selbstunterricht“ ist mittlerweile okkupiert durch die digitalen Strategien des programmierten Lernens, wie sie in der Pandemie der frühen 2020er Jahre vielfach genutzt wurden und von vielen als Lernmodell der Zukunft angesehen werden. Sie haben mit einem autodidaktischen Lernen nichts zu tun, sind eher sein Gegenteil. Der „Selbsterzieher“ scheidet für die Zwecke unseres Versuchs aus wie Meyers altertümlicher „Selbstgelehrter“. Martin Walsers Selbstausbilder, den er uns anbietet im Schwanenhaus für einen Immobilienmakler mit Nichtabitur, der cleverer als ein Konkurrent mit Doktortitel ist, mag für die berufliche Weiterbildung der vielen Seiteneinsteiger stehen bleiben.

Wir Deutschen müssen wohl, wenn es um die pädagogisch einfachen Formen des Selbstunterrichts geht, griechisch sprechen. Sogar der Volksschüler Franz Beckenbauer nennt sich in der Talkshow fröhlich einen „Autodidakten“, wenn er erklärt, warum er als Fußballgladiator in New York im Central Park und nicht in der Berlitz School sein Englisch gelernt habe.

Der heroische Selbstgestalter, den Hans R. Franz in Friedrich Hebbel sieht, hat sich über sein Werden bitter geäußert: Er kommt allenthalben zu spät und gelangt wenigstens nie zu einer vollkommenen Persönlichkeit. Ihm muss es stets mehr um ein Bewerben um Kenntnis und Wissenschaft gehen als um den Erwerb. Denn der ist nicht möglich für den, der die für das Beziehen der Akademie erforderliche Reife noch nicht erlangt hat und nur darauf pochen muss, dass ich für manche positive Kenntnis, die mir abgehen mag, einen Ersatz haben kann.

Die Autodidakten höherer Ordnung will Pitt aus seinem Versuch aussperren, so lehrreich sie als Typ sind. Sie beschreibt Heinrich Bosse, 2012, in seinem Buch Bildungsrevolution 1770–1830. Arthur Schopenhauer (1788–1860), der gestützt auf ein umfassendes selbstorganisiertes Lern- und Lesepensum den Selbstdenker in sich und anderen feiert, ist ganz und gar ein Kind seiner Zeit. „Selbstlernen“, „Selbststudium“, ja „Selbstkritik“, begleitet von theoretischen programmatischen Texten, in der eine autodidaktische Pädagogik entwickelt wird, sind Schlüsselwörter einer verheißenen Bildungs- und Berufskarriere jenseits der überkommenen ständischen Zwänge. Die Geister der Aufklärung, der Klassik, der Romantik dringen überall ohne lehrhafte Begleitung in geistiges Neuland, bis sich nach und nach die akademische Gleisführung ausprägt, in der die Nebengleise des selbst geleiteten und nicht kontrollierten Selbstlernens vernachlässigt, ja geringgeschätzt werden.

Der Historiker Reinhart Koselleck stellt die Selbstbildung als einen zentralen Begriff der Aufklärung dar. In dieser kurzen wirkungsmächtigen Epoche deckte er sich beinahe mit dem Begriff der Bildung. Diese Bildung als „self-education“ wollte ja alle autoritären Fesseln abstreifen zugunsten eines mündigen Selbsttrainings und Lernens in „Selbsterziehung“ und mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, wie es der Kantsche Aufklärungsbegriff ans Herz legte. Für die Theologie sprach Schleiermacher von der Selbsterziehung in Liebe. Wilhelm von Humboldt mit seinem Ideal der zweckfreien Bildung will in der Theorie der Bildung des Menschen, dass der sich Bildende allem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken müsse. Für den Soziologen Hans...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7583-3385-7 / 3758333857
ISBN-13 978-3-7583-3385-9 / 9783758333859
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