Das Verschwörungsweltbild -  Georg Vobruba

Das Verschwörungsweltbild (eBook)

Denken gegen die Moderne
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2024 | 1. Auflage
135 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8135-0 (ISBN)
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Die Logik des Verschwörungsweltbildes ist einfach: Alles lässt sich auf die Absichten einer Gesellschaftsspitze zurückführen. Die Supermächtigen sind böse und für den üblen Zustand der Gesellschaft verantwortlich. Sie haben sich gegen uns verschworen. Das Verschwörungsweltbild liefert zugleich eine Universalerklärung und Fundamentalkritik der Gesellschaft. Alles muss anders werden. Woher kommt dieses Weltbild? Welche Gesellschaftsbeschreibung bietet es an? Warum ist seine Logik so zwingend, und welche Folgen hat sie? Der Band widmet sich der Welt des Verschwörungsdenkens mit einer eingehenden wissenssoziologischen Analyse.

Georg Vobruba, Jg. 1948, Dr. jur., ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.

IITheorie des Einfachdenkens


Die Ruhe der Vormoderne


Am Beginn der Neuzeit war das Mittelalter noch lange nicht vorbei. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man dem Umbruch des Weltbildes (Dux 1982/2017; Blumenberg 1981), rekonstruiert anhand avancierter Texte der Frühen Neuzeit, die beharrliche Traditionalität der Leute gegenüberstellt. Das vorneuzeitliche Lebensgefühl der Leute ist schwer zu beschreiben. Einerseits legte man großen Wert auf die eigene Beobachtung. „Das hab ich selbs gesechenn.“ Diese Formel flicht Dionysius Dreytwein (1498–1573) in den Bericht seines Lebens immer dann ein, wenn es um bemerkenswerte Ereignisse geht (Borst 1983: 553ff.). Andererseits lebte man mit der festen Überzeugung einer unsichtbaren, übernatürlichen Realität. Für das moderne Verständnis ergeben sich daraus merkwürdige Widersprüche. Die Ordnung, in der die Leute lebten, war fest gefügt, doch es gab bemerkenswerte Ausschweifungen. Die Leute hatten Angst, vor der Nacht, vor Feuersbrünsten, Epidemien, Angst vor der Natur, vor den Unwägbarkeiten des Schicksals, vor dem „schrecklichen Gott“13, Höllenangst. Unter anderen Hieronymus Bosch (um 1450–1516) und Matthias Grünewald (um 1480–1530) haben sie greifbar gemacht.14 Lustig ging es dennoch zu. Das zeigen uns Bilder von Pieter Bruegel dem Älteren (1525/1530–1569) und Pieter Bruegel dem Jüngeren (1564–1638). Man sorgte sich, aber man sorgte nur wenig vor. Woher kommt das? Die Widersprüche, die in moderner Perspektive ins Auge fallen, lösen sich in der Welt des Mittelalters leicht auf: Die Leute hatten wenig Zukunft.

Dass die Leute wenig Zukunft hatten, lässt sich auf mehrere Weisen verstehen. Erstens dauerte das Leben nicht lange. 30 bis 40 Jahre, dann war meist Schluss. Langlebigkeit war selten und galt als Ausweis von Weisheit. Hier spielten ein pragmatischer Grund und die traditionale Logik als Ursachen zusammen. Das Wissen alter Leute veraltete nicht, denn die Statik der sozialen Verhältnisse sicherte den Wert der Erfahrung. Und es war näher am „Wissen der Alten“, näher am absoluten Ursprung, der im traditionalen Weltbild allem vorgelagert und übergeordnet gedacht wird. Zweitens lebte man im Mittelalter das „Leben vom Tode her“ (Borst 1983). Die Begrenztheit des irdischen Lebens war ständig gegenwärtig, der Tod wurde nicht als Ende, sondern als Übergang verstanden. Diesseits- und Jenseitsvorstellungen waren miteinander dicht verwoben. Der harte Realitätscharakter des Jenseits relativierte die Zeit auf Erden und prägte das Verständnis von Zukunft: Sie endet mit dem Austritt aus der Zeit und der Rückkehr in den Ursprung. Und drittens lebten die Leute im Mittelalter mit der präsenten Erwartung der Rückkehr des Erlösers und des baldigen Endes der Welt samt jüngstem Gericht. „Die Idee vom Altern der Welt und dem nahenden Untergang war ein untrennbarer Bestandteil des Denkens der mittelalterlichen Menschen.“ (Gurjewitsch 1980: 153) Die Naherwartung des Endes der Welt trieb insbesondere um die Jahrtausendwende bemerkenswerte Blüten. Das Grundgefühl war: Ich bin ausgeliefert, dem Ratschluss Gottes ergeben.

Scharfsinnig fasst Reinhard Koselleck (1984: 349ff.) die Differenz zwischen dem vormodernen und dem modernen Verstehen von Geschichte als den Unterschied, in dem „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ zu einander stehen. Vormodern bestimmt der Erfahrungsraum weitestgehend den Erwartungshorizont. Schon aufgrund des extrem langsamen sozialen Wandels werden die Erwartungen von den Erfahrungen bestimmt. „Die Erwartungen, die in der geschichteten bäuerlich-handwerklichen Welt gehegt wurden und auch nur gehegt werden konnten, speisten sich zur Gänze aus den Erfahrungen der Vorfahren, die auch zu denen der Nachkommen wurden“ (Koselleck 1984: 360). Die stabile Möglichkeit, Erfahrungen in die Zukunft fortzuschreiben, lässt sich nicht nur auf der Ebene des Alltag-Erlebens begründen. Jenseits der schlichten Tatsache, dass sich kaum etwas Neues ereignete, wurde die Deckungsgleichheit von Erfahrung und Erwartung durch ein Charakteristikum der absolutistischen Logik des traditionalen Weltbildes stabilisiert: Wenn alles, was der Fall ist, auf einen vorausgesetzten, absoluten Ursprung als Bezugspunkt jeglichen Erklärens zurückgeführt wird, dann haben die Erfahrungen und das Wissen der Alten Vorrang vor allem Neuen: Altes Wissen liegt näher am Ursprung und bezieht daraus seine überlegene Autorität.

Langsamer Abbau der Tradition


Das Weltbild eines Müllers um 1600 war einfach. Es war einfach im Sinn von: Intention = Effekt. Was der Fall ist, lässt sich als Realisierung einer darauf gerichteten Intention erklären. Der Müller Domenico Scandella, genannt Menoccio, machte es sich schwer. Er begab sich auf die Suche nach dem Urgrund der Schöpfung, da er an Gott als den absoluten Anfang nicht glauben konnte. Den Inquisitoren erklärt er: „Ich habe gesagt, daß was meine Gedanken und meinen Glauben anlanget, alles ein Chaos war … Und jener Wirbel wurde also eine Masse, gerade wie man den Käse in der Milch macht, und darinnen wurden Würm’, und das waren die Engel. Und die allerheiligste Majestät wollte, daß dies Gott und die Engel wären.“ (zit. nach Ginzburg 1979: 86) Was also fand der arme Müller? Eine „allerheiligste Majestät“, die immer schon da war und nach deren Intention Gott und die Welt entstanden. Man sieht: Im Rahmen des traditional-absolutistischen Weltbildes können Zweifel an der Existenz eines höchsten, absoluten Bezugspunkts nur zu einem noch höheren führen. Von ihm geht alles aus, er bewirkt alles. Eine andere Logik war nicht verfügbar. Es handelte sich um einen frühen Ausbruchsversuch. Er wurde rasch gestoppt. Papst Clemens VIII. persönlich forderte seinen Tod. Ende 1600 wurde das Todesurteil der Kirche an Menoccio vollstreckt.

Die Ablösung des traditionalen Weltbildes ist ein Prozess, der Jahrhunderte dauerte (und dauert), und hoch selektiv wirkte (und wirkt). Dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, galt noch im 17. Jahrhundert „nur für eine Handvoll von Astronomen; Johannes Kepler und der Rat der Städte Ulm oder Leonberg lebten tatsächlich in verschiedenen Welten. Die guten Bürger suchten voller Angst den Himmel nach Wunderzeichen, nach ‚Prodigien‘, ab; Kometen und Kometenfurcht beherrschten noch ihr Denken. Nur die Astronomen wissen, dass es sich anders verhält, dass Kometen nicht nahe der Erde entstehen und dass sie für niemanden etwas zu bedeuten haben.“ (Kittsteiner 2010: 204)15 Obwohl (weil?) das neue Weltbild die Auflösung von Bedrohungsvorstellungen bedeutete, war die Entwicklung und Popularisierung der neuen Lehre noch längere Zeit mit erheblichen persönlichen Risiken verbunden. Das Schicksal des Galileo Galilei ist bekannt. Doch obwohl die Kirche ihn und seinesgleichen bedrohte, fand die neue Lehre bald Anerkennung bei Teilen der damaligen politischen Eliten. „Weniger als dreißig Jahre nach der Verurteilung Galileis von 1633 segnen die beiden mächtigsten Könige Europas in England und Frankreich die neuen Wissenschaften mit eigens für sie gegründeten Akademien ab.“ (Kittsteiner 2010: 218) Die selektive Säkularisierung erfasste auch den Glauben an Wunder, seien es Wunderheilungen, seien es Indizien göttlichen Zornes wie Unwetter, Überschwemmungen, Missgeburten (Habermas 1988). Die Berichte über Wunder, die die einfachen Leute erlebten, wurden zuerst für die städtischen Gebildeten zum Gegenstand von Erbauungsliteratur. Dann zogen die Leute nach, und aus Indizien göttlichen Zornes wurden Attraktionen auf Jahrmärkten. Aber es dauerte, bis es so weit war. In vielen Fällen musste neues Wissen von den Bildungseliten gegen die katholische Kirche und gegen den mehr oder weniger starken Widerstand der einfachen Leute durchgesetzt werden. Im 18. Jahrhundert ist der Glaube an ein personalisiertes Böses auf dem Rückzug, Hexenprozesse werden zögerlich abgeschafft, meist gegen den Druck der bäuerlichen Bevölkerung. Neuzeitliches Denken setzt sich unter den Leuten durch. „Und auch die Kirche zog bald nach. Schon ...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8135-1 / 3779981351
ISBN-13 978-3-7799-8135-0 / 9783779981350
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