Körper - Bildung -  Matthias Rießland

Körper - Bildung (eBook)

Pädagogische Anthologie zu einer humanistischen Spurensuche vom Körper aus
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
201 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8314-9 (ISBN)
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Der Band versammelt Beiträge aus mehr als 30 Jahren praktischer Erfahrungen im Umgang mit Körper sowie wissenschaftlicher Analysen und Artikel, die das Verhältnis von Körper und Bildung in der Pädagogik als Wissenschaft und Praxis kritisch reflektieren. Dokumentiert und in der Einleitung verbindend aufgezeigt, werden Erleben und Reflektieren von Körper und Bildung in ihren individuellen und gesellschaftlichen Widerspruchslagen zur Diskussion gestellt.

Dr. Matthias Rießland ist promovierter Erziehungswissenschaftler sowie Pädagoge und Sportwissenschaftler, international zertifizierter Feldenkrais-Ausbilder und Feldenkrais-Pädagoge. Neben der Tätigkeit in seiner eigenen Feldenkrais-Praxis in Darmstadt hat er über 20 Jahre in einer berufsbildenden Schule sozialpädagogisch mit Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund gearbeitet sowie an der Universität u. a. zum Thema »Körper und Bildung« und »Erziehung zur Zartheit« gelehrt und geforscht.

Körper und Bildung. Bildungstheoretische Aspekte zum Verhältnis von Körper und Bildung in der bürgerlichen Pädagogik (1992)


Eine pädagogische Bestimmung des Verhältnisses von Körper und Bildung führt zu der Frage, wie Körperbildung unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen bildungstheoretisch begründet und somit legitimiert werden kann. Die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen sind die der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr Prinzip ist das der Kapitalverwertung. Was hat demnach das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft – das der Kapitalverwertung – mit dem Körper zu tun?

Der Zusammenhang von Körperbildung und Kapitalverwertung ist meines Erachtens notwendig in der Kategorie der Arbeit zu fassen, denn:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur“ (MEW 23 1988, S. 192).3

Damit die Menschen als Menschen seit jeher überleben konnten und können, müssen sie arbeiten, d. h. sich bewegen, um ihre Reproduktion und Produktion zu sichern. Natur, Arbeit, Körper und Bildung verweisen aufeinander. Der daraus abzuleitende „ursprüngliche“ Bildungsbegriff von Max Horkheimer zeigt die gattungsgeschichtliche Potenzialität von Bildung.

„Bildung wäre demnach die Umformung der ungeformten, primitiven Natur; der Mensch wird Herr über das, was ihm draußen und drinnen befremdlich und bedrohlich erscheint. In der Bildung besteht Natur als solche fort, doch sie trägt die Züge der Arbeit, der menschlichen Gemeinschaft, der Vernunft“ (Horkheimer 1985, S. 410).

Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft erreicht die Teilung der Arbeit in körperliche und geistige ein neues historisches Niveau. Die Arbeitsteilung und der damit verbundene Warentauschverkehr sind die universellen Strukturprinzipien des gesamten Reproduktions- und Produktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft. Die lebendige Arbeit wird zerlegt in die für die Produktion notwendigen körperlichen Bewegungselemente. Die zum Zwecke der Vorbereitung und Steigerung der Produktion durch die Zerlegung der Arbeitsschritte entstehenden Bewegungsabläufe4 entsprechen denen der bürgerlichen Körperbildung. Bildung und Körperbildung sind daher nicht voneinander zu trennen. Die bürgerliche Bestimmung der Körperbildung entspricht der der bürgerlichen Gesellschaft, der bürgerlichen Disziplinierung der Individuen. Die rationale Verfügbarkeit über den Körper ist daher immer im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft enthalten.

Das bürgerliche Subjekt ist Körperwesen und begründet sich auf der menschlichen Vernunftfähigkeit. Der Inbegriff der bürgerlichen Vernunft ist das Subjekt als Privateigentümer. Der Körper muss sich unter bürgerlichen Bedingungen dem Gesetz der Kapitalverwertung unterwerfen. Der Mensch ist einerseits nur als Herrschaftswesen frei geworden, d. h. frei geworden durch das Bewusstsein von seiner Herrschaft, auch derer über seinen Körper. Zudem besteht durch die weiterhin notwendige Disziplinierung der Körper Unfreiheit. Herrschaft entwickelt sich in der Geschichte, und somit ist die herrschende Geschichte die der Herrschenden (vgl. MEW 3 1983, S. 46). Die Menschen sind die Subjekte ihrer Geschichte, sie wissen es nur noch nicht. Sie sind daher unfrei, obwohl ihre Geschichte schon als solche ihre Freiheit von der Naturherrschaft belegt.

Trotz Unfreiheit wird am Begriff des Subjekts festgehalten. Denn die Aufgabe der Pädagogik ist die Subjektbildung; d. h., die Menschen sollen zur Mündigkeit, zu vernünftigen Menschen, also zu Subjekten erzogen werden. Pädagogik mit für uns sinnvollen Fragestellungen ist immer bürgerliche Pädagogik und begründet sich auf den Bedingungen der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft.

Ist eine pädagogische Körperbildung vernünftig zu begründen? Was heißt in diesem Sinne überhaupt vernünftig? Die pädagogische Körperbildung ist einerseits die Bildung des Körpers für den Arbeitsmarkt. Das Interesse am Körper entsteht da, wo der Körper gebraucht wird, d. h. in der bürgerlichen Gesellschaft wird der Körper zur Kapitalverwertung „vernutzt“. Ohne die disziplinierten Individuen kann die Kapitalverwertung nicht organisiert werden. Die Erziehung zu bloßen Disziplinarindividuen kann nicht vernünftig sein. Die Körperbildung ist andererseits immer die Bildung des Körpers und somit ein reflexiver Vorgang, d. h. ein Vorgang, in dem Körperbildung als menschlicher Zweck erkennbar ist. Körperbildung ist auch Zweck und nicht nur Mittel zur Vorbereitung und Wiederherstellung des Körpers als Arbeitskraft.

Eine pädagogische Körperbildung, die sich selbst gegenüber kritisch ist, wäre vernünftig.

Wie kann die kritische Potenz der pädagogischen Körperbildung aktiviert werden? Pädagogik ist Körperbildung und Geistesbildung. Die Kritik an der Körperbildung ist die pädagogisch bewusst gemachte Körperbildung. Kritik ist nicht nur im Denken, sondern hat – da Denken (Theorie) immer auf Gegenstände und letztlich auf Praxis bezogen ist – ihre Ursache in der Realität. Es soll aus der Disziplinierung der Individuen gegen die Disziplinierung argumentiert, d. h., immanente Kritik geübt werden. Einerseits setzt Kritik immer das Wissen von dem voraus, was kritisiert werden soll, d. h. die genaue Kenntnis vom Körper. Andererseits hat in der bürgerlichen Gesellschaft die Erlangung von Kenntnissen über Körper die Kapitalverwertung zur Voraussetzung.

Das „Glück“ an einer „freien“ Bewegung und die damit verbundenen Realerfahrungen haben Erfahrung von Bewegungsmöglichkeiten zur Voraussetzung. Die Potenzialität zu universellen Bewegungserfahrungen gilt es einzuklagen. Ferner gilt es aufzuzeigen, was gegen die Körperbildung selbst spricht und was nicht Körperbildung, sondern „Zerstörung“ von Körper ist. Die Kritik an der Körperbildung begründet und legitimiert sich daher aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang des Verhältnisses von Körper und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft.

Durch die bestimmte Negation ist die Körperbildung in der Bildungstheorie zu konkretisieren. Bestimmte Negation heißt das Aufzeigen des Richtigen in der falschen gesellschaftlichen Praxis der Körperbildung. Falsches meint nicht durch und durch Falsches, sondern Falsches, das seinen Widerspruch, NichtFalsches in sich trägt. D. h., die Widersprüche in der pädagogischen Körperbildung sind durch radikale Kritik an ihr zu entfalten. Radikal bedeutet in diesem Sinne, die Sache von Grund auf zu analysieren, d. h. an der Wurzel beginnend zu unterscheiden. Den Widerspruch zu überwinden, ist nur im und durch den Widerspruch möglich, durch immanente Kritik.5

Der in der pädagogischen Körperbildung implizierte Subjektbegriff ist ein universeller, der die Forderung nach Bildung aller beinhaltet.

Die Begriffe Vernunft, Arbeit, Bildung und Körper sind daher nur im gesellschaftlichen und historischen Kontext zu „begreifen“. Begriffe sind nicht bloße Begriffe und abstrakt, sondern verweisen auf konkrete Inhalte. Sie werden von Menschen gemacht. Durch den Begriff wird Kontinuität von Geschichte und Begriff aufweisbar. Pädagogische Körperbildung ist auch notwendig Begriffsbildung.

Mit René Descartes ist der Beginn der Neuzeit, des rationalen Denkens festzumachen. Seine theoretische Trennung von Körper und Geist, deren Begründung sowie die konstitutiven Momente für die bürgerliche Gesellschaft und ihre Pädagogik werden in den folgenden Überlegungen ausgeführt.

Die pädagogische Praxis der Körperbildung und deren bildungstheoretische Hintergründe zur Zeit der Aufklärung bzw. Spätaufklärung soll an den Beispielen der universellen Menschenbildung von J. H. Pestalozzi und Vertretern der Industrieschulpädagogik in den Abschnitten 2 und 3 dargestellt werden.

Im letzten Abschnitt werden die...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8314-1 / 3779983141
ISBN-13 978-3-7799-8314-9 / 9783779983149
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