(Neue) Normalitäten? -

(Neue) Normalitäten? (eBook)

Erziehungswissenschaftliche Auslotungen, Kontextualisierungen und Explikationen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
213 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8137-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
34,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die Covid-19-Pandemie hat dem Begriff der Normalität zu einer neuen Konjunktur verholfen, der Wunsch nach Normalität ist groß. Auch die Pädagogik sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine alte bzw. neue Normalität (wieder-)herzustellen. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist an diesem durchaus nachvollziehbaren Wunsch nach Normalität allerdings einiges klärungsbedürftig. Der Sammelband diskutiert (neue) Normalitäten sowohl aus theoretischer, empirischer als auch methodologischer Perspektive.

Dr. Frank Beier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Lehrerbildung, Schul- und Berufsbildungsforschung der TU Dresden. Er leitet das Graduiertenforum Lehrerbildung im Rahmen des BMBF geförderten Projektes »TUD Sylber«. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der qualitativen Schul- und Unterrichtsforschung (insbesondere im Bereich Digitalisierung und Inklusion) sowie der Biografieforschung. André Epp, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaftliche Forschungsmethoden der PH Karlsruhe. Dr. Merle Hinrichsen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Pädagogik der Sekundarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Bildungs- und Biographieforschung sowie in der Forschung zu Jugend, Migration und Schule. Dr. Imke Kollmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die theoretische und empirische Rekonstruktion von Hochschulinteraktion, Konstitution digitaler universitärer Lehre sowie familiale Erziehung. Dr. Julia Lipkina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Pädagogik der Sekundarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Identitäts- und Bildungstheorie, qualitativen Forschung sowie der Erforschung der Subjektwerdung im Kontext von Schule (auch im Zusammenhang mit Fragen der Anerkennung, sozialer Ungleichheit und der Konstruktion von Differenz). Dr. Paul Vehse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Allgemeine Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt empirische Bildungsforschung der Europa-Universität Flensburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist qualitativ-rekonstruktive Differenz- und Ungleichheitsforschung.

Das ex- und inkludierte pädagogische Subjekt


Ein Blick auf Differenzkonstruktionen im Kontext von pädagogischen Krisendiagnosen

Vera Moser, Julia Lipkina & Merle Hummrich

1Einleitung


Die öffentliche Schule ist in demokratisch verfassten Staaten dem universalistischen, normativen Anspruch auf Gleichheit verpflichtet und richtet sich damit an alle Schüler*innen in gleichem Maße. Der Verweis auf Gleichheit lässt jedoch bereits erahnen, dass es hier nicht nur Ungleiche gibt, die dem Gebot der Verfahrensgerechtigkeit folgend, gleich bzw. gerecht behandelt werden sollen, sondern überhaupt, dass Schule Ungleiche (z. B. in Bezug auf Geschlecht, bildungssprachliche Kompetenz, Behinderung, Motivation, Kognition, Emotion etc.) adressiert – eine Tatsache, die im Topos der Chancengerechtigkeit aufscheint. Dabei kann gefragt werden, was dabei unter Ungleichheit (z. B. ungleiche Chancen, ungleiche Bildungsaspirationen, ungleiche Unterstützung und Förderung etc.) genau verstanden und inwiefern Ungleichheit im System selbst hervorgebracht wird (auch unter Referenz auf außerschulische Ungleichheiten) sowie, welche Differenzierungskategorien sich dabei beobachten lassen. Denn unbestritten ist, dass die universalistische Bildungs- und Gerechtigkeitsidee (vgl. Wimmer et al. 2007) im exklusiven und homogenisierenden deutschen Regelschulsystem in einem Spannungsverhältnis zu (Re-)Produktion von Differenz und damit verbundenen Ungleichheiten steht (vgl. Budde 2018, S. 50).

Theorien sozialer Differenzierung reichen von soziologisch-funktionalistischen, über akteurs-, erkenntnis- und praxistheoretische hin zu Beschreibungen sozialer Schichtungen (vgl. u. a. Luhmann 1997; Schimank 1996; Simmel 1999). Die meisten dieser Differenzierungstheorien gehen dabei von universellen Prinzipien aus, wie der spezifischen Akkumulation von Kapital, erkenntnisbildender Strukturen über Differenzsetzungen oder auch funktionalen Ausdifferenzierungen gesellschaftlicher Teilsysteme. Mit der Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention und den hiermit aufgerufenen universellen humanen Normverpflichtungen kommt eine weitere Perspektive hinzu, die Ein- und Ausschlüsse auch als Problem von subjektiv empfundenen Beschämungen und verweigerten Anerkennungen beschreibt. Wo Inklusion und damit verbunden Anerkennung von Differenz gefordert wird, liegt zum Teil auch Exklusion in Form direkter oder institutioneller Diskriminierung vor (vgl. Mecheril/Plößer 2009), wie bspw. in empirischen Befunden zum exklusiven Charakter des Schul- und Bildungssystems und Praktiken der Herstellung von Differenz deutlich wird (vgl. u. a. Gomolla/Radtke 2002; Hummrich 2009). Damit rücken Gerechtigkeitsfragen auch in pädagogischen Zusammenhängen in einen neuen Kontext mit dem Fokus auf relationale, intendierte und nicht-intendierte Praxen von Ein- und Ausschließungen (vgl. Budde/Hummrich 2015).

Aus diesem Anlass möchten wir vorschlagen, Differenzierungspraktiken im pädagogischen Feld in den Blick zu nehmen, ohne dabei jedoch auf ein spezifisches Inklusionsverständnis einzugehen. Vielmehr sollen Kategorien sozialer Differenzierung, die im Erziehungs- und Bildungssystem als relevant beschrieben werden, exemplarisch in den Blick genommen und in Bezug auf ihre ein- und ausschließenden Wirkungen geprüft werden.

Differenzierungskategorien, die sich auf Menschen beziehen, können mit Said (2003) als Prozesse des Otherings, mit Butler als Subjektivierungen durch spezifische Anrufungen (vgl. Butler 2001; Bedorf 2010) oder mit Hirschauer als Prozesse der Humandifferenzierung (vgl. Dizdar et al. 2021) beschrieben werden. Gemeinsam haben die Perspektiven, dass sie von einer sozialen Konstruktion von Differenz ausgehen, die das Resultat von Handlungen und alltäglichen Praktiken ist, in denen Unterscheidungen zwischen Menschen immer wieder aufs Neue produziert werden. Die hier entwickelten Ordnungskategorien müssen freilich, um wirksam zu werden, beschreiben, was hiermit repräsentiert wird, woran man also Personen einer spezifischen Zuordnung erkennt. Differenzkonstruktionen müssen zudem in einen konkreten Kontext gesetzt werden. D. h. sie bestehen bspw. nicht per se, sondern werden in einem spezifischen, z. B. institutionellen, historischen und kulturellen Rahmen bedeutungsvoll erzeugt. Je nach Kontext variieren die Zuschreibungen in einem Spannungsfeld zwischen wertschätzender An- und Zuerkennung und Abwertungen, da sie in einem Feld von Machtbeziehungen entstehen. Folgen davon sind Identitätszuweisungen sowie die Organisation von Ein- und Ausschlüssen.

Im Folgenden möchten wir Differenzkonstruktionen im Kontext von Krisendiagnosen beleuchten, da wir die These verfolgen, dass pädagogisch relevante Differenzkonstruktionen in gesellschaftliche Krisendiagnosen eingebettet sind, was wir in diesem Text exemplarisch aufzeigen werden. Mit Krisendiagnosen sind Beschreibungen sich wandelnder Normalitäten verbunden, in denen ein spezifischer Handlungsdruck erzeugt wird (vgl. Link 2018), und insbesondere die Pädagogik zur Bearbeitung aufgerufen wird. Krisendiagnosen gehen dabei mit einer gewissen Dramatisierung einher (wie z. B. „Bildungskatastrophe“, „Integrationskrise“, „Bildungsverlierer“ etc.), denn durch sie soll „Überzeugungsarbeit geleistet werden […] – schließlich scheint es drängender gemeinsamer Anstrengungen zu bedürfen, um kollektiv gegen die angeprangerten Zustände vorzugehen.“ (Dollinger 2021, S. 276). Dabei kommen konkrete Personengruppen in den Blick, die von den Auswirkungen der Krise und damit einhergehenden möglichen Verschiebungen von Normalitäten besonders betroffen zu sein scheinen, indes deren Problemlagen mithilfe von pädagogischen Interventionen begegnet werden soll. Mit solchen Adressierungen gehen sprachlich verfasste Konstruktionen von Differenz einher, die durchaus auch auf der Ebene von Bildern, Zeichen, Symbolen und Daten gerahmt werden. Daraus wiederum werden pädagogische Schlussfolgerungen abgeleitet, die auch als Professionalisierungsaufforderungen gelesen werden können und die wiederum selbst in Form von Antworten auf Beschreibungen gesellschaftlicher Krisen zu einer (Re-)Produktion von Differenz beitragen.

Um diese These zu untermauern, möchten wir im Folgenden den Bezug des deutschen Erziehungs- und Bildungssystems auf in dieser Weise exponierte Krisen anhand von drei ausgewählten historischen Beispielen illustrieren: Dazu gehen wir zunächst (2) allgemein auf den Zusammenhang von Krisendiagnosen und pädagogischen Argumentationen ein. Daran anschließend blicken wir (3) entlang der Differenzkategorien „Geschlecht“, „Migration“ und „Behinderung“ exemplarisch auf drei Epochen: a) Preußische Schulreform, b) Westdeutsche Bildungsreform der 1970er Jahre und c) die Reformagenda „output-orientierte Steuerung“ im Anschluss an die erste PISA-Studie in den 2000er Jahren. In einem abschließenden Kapitel (4) ziehen wir ein Fazit zu dem Zusammenhang von Krisendiagnosen, Differenzkonstruktionen und pädagogischen Interventionen.

2Krisendiagnosen und pädagogische Adressierungen


Mit Ian Hacking (1996) kann festgestellt werden, dass es in den Wissenschaften keine scharfe Trennung zwischen Beobachtung und Theorie gibt: „Die Wissenschaften bilden ihrerseits keine Einheit […]. Der Begründungszusammenhang ist nicht vom Entdeckungszusammenhang zu trennen.“ (ebd., S. 22 f.). Vor diesem Hintergrund basieren unsere Überlegungen auf der Annahme, dass wissenschaftliche Paradigmen im Feld der Pädagogik, die sich krisenbedingt wandeln, wie Kuhn (1962) dies insbesondere den sozialwissenschaftlichen Disziplinen zugeschrieben hat, auf Beobachtungen außerhalb des eigenen Teilsystems referieren (vgl. Stichweh 1994)....

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8137-8 / 3779981378
ISBN-13 978-3-7799-8137-4 / 9783779981374
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 730 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
30,99
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
30,99