Elementarpädagogik in der postmigrantischen Gesellschaft (eBook)
235 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8257-9 (ISBN)
Dr. Seyran Bostanc? arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Begleitung der Modellprojekte der Säule 'Vielfalt gestalten' des Bundesprogramms 'Demokratie Leben!' am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Sie war Visiting Fellow an der University of Melbourne. Derzeit forscht sie zum Thema 'Institutioneller Rassismus in Kitas' (Teilstudie des Rassismusmonitors am DeZIM). Darüber hinaus ist sie seit 2010 Praxisberaterin und Coaching für Diversity und Inklusionsprozesse in (frühkindlichen) Bildungseinrichtungen. Emra Ilgün-Birhimeo?lu, Jg. 1977, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.
Vorwort: Elementarpädagogik in der postmigrantischen Gesellschaft. Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik
Emra Ilgün-Birhimeoğlu, Seyran Bostancı
Frühkindliche Bildungsinstitutionen sind häufig die ersten Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, mit denen Kinder in Deutschland konfrontiert sind. Die Zahlen zum Besuch solcher Einrichtungen (2019 befanden sich bundesweit 2.940.935 Kinder unter sechs Jahren in einer Tagesbetreuung (Statistisches Bundesamt et al. 2021)) machen deutlich, dass diese mittlerweile einen unverzichtbaren Bestandteil der Bildungsbiografien der Kinder des 21. Jahrhunderts darstellen. Gleichzeitig sind frühkindliche Bildungsinstitutionen und ihre Pädagogiken durch Dynamiken von zunehmend vielfältigen migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen geprägt. Sie stellen signifikante Orte dar, in denen Prozesse der Zugehörigkeit, Anerkennung und Bildung stattfinden können.
In den letzten Jahrzehnten haben elementarpädagogische Einrichtungen einen bemerkenswerten Bedeutungswandel erfahren. Sie wurden nicht zuletzt aufgrund bildungspolitischer Veränderungen und formulierter Reformbedarfe zu Bildungsstätten und Orten der Teilhabe erklärt. Diese Erwartungen an frühkindliche Bildungseinrichtungen stehen im engen Zusammenhang mit Fragen von Demokratisierung, Diskriminierungsabbau und Verringerung sozialer Ungleichheit bzw. Bildungsungleichheit und dem Streben nach mehr ‚Gerechtigkeit‘ und Inklusion aus einer Anerkennungs-, Menschenrechts- oder Teilhabeperspektive.
Im Alltagsverständnis erscheinen frühkindliche Bildungseinrichtungen oft als ‚heile Welten‘ jenseits von diskriminierenden oder rassistischen Strukturen oder Praktiken. Einrichtungen der Elementarpädagogik sowie ihre Akteur*innen agieren nicht im luftleeren Raum, sondern werden durch gesamtgesellschaftliche Strukturen geformt: Sie werden von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägt und strukturiert, die, wie neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, in den institutionellen Selbstverständnissen und Handlungsweisen reproduziert werden. Schon im frühkindlichen Bereich wirken rassistische Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen, die bis hin zur Begrenzung institutioneller Zugänge und Beteiligungsmöglichkeiten reichen (vgl. Hogrebe 2018; Nebe 2021; Bostancı et al. 2022; Bostancı/Wirth 2024 in Erscheinung). Daher ist es unerlässlich, pädagogische Ansätze zu erweitern und weiterzuentwickeln, um Rassismus in Verschränkung mit anderen Diskriminierungsmechanismen wie unter anderem Adultismus, Sexismus, Klassismus und Ableismus zu erkennen und entsprechende pädagogische Antworten zu finden.
Als Herausgeberinnen beschäftigen wir uns bereits seit einer geraumen Weile sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf praktischer Ebene mit Fragen der Rassismuskritik und migrationsgesellschaftlichen Phänomenen in pädagogischen Arbeitsfeldern. Uns fiel auf, dass beispielsweise Rassimuskritik in den seltensten Fällen mit frühpädagogischen Bildungsbereichen in Verbindung gebracht wird. Wir stießen auf Publikationen, die das Thema auf theoretischer und empirischer Ebene beleuchteten (Akbaş 2017; Doğmuş et al. 2016; Otyakmaz und Karakaşoğlu 2015; Georgi und Krakaşoğlu 2022; Kuhn 2013), sowie auf praktische Leitfäden und Handreichungen (Drücker 2020; Wagner 2017; Tanyılmaz; Institut für den Situationsansatz und Fachstelle Kinderwelten 2018). Allerdings bemerkten wir, dass es noch keine umfassende rassismus- und machtkritische Konzeption gab, die die verschiedenen, inhaltlichen Stränge und Perspektiven auf das Feld der Frühpädagogik zusammenführt. Daher wünschten wir uns selbst ein Nachschlagewerk, das die vereinzelt vorhandenen Beschäftigungen in diesem Themenfeld zusammenbringt. Aus unserer Sicht bestand Bedarf an der Untersuchung von prekären rassifizierenden Zuordnungspraktiken und demokratisch nicht legitimierbaren Ungleichheiten, die durch institutionelle Strukturen und Praktiken im frühkindlichen Bildungsbereich verursacht werden. So entstand dieses Buchprojekt, an dem ursprünglich auch Bedia Akbaş als Herausgeberin beteiligt war. Ihre maßgebliche Rolle bei der Konzeption dieses Sammelbandes und bei der Ansprache verschiedener Autor*innen möchten wir hiermit herzlich würdigen und ihr unseren Dank aussprechen. Leider musste sie aus persönlichen Gründen von diesem Projekt zurücktreten, was wir bedauern.
Das Ziel dieses Sammelbandes ist es, Artikel aus einer intersektionalen, rassismuskritischen Perspektive zu bündeln, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Elementarpädagogik dekonstruieren. Dabei soll untersucht werden, wie individuelle und kollektive Selbstverständnisse, Verhaltensweisen und Institutionen durch rassistische Logiken geprägt und (re)produziert werden. Der Band bietet die Gelegenheit, bestehende Erkenntnisse aus Forschung und Praxis aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Die Beiträge sollen Einblicke in aktuelle Forschungen und ihre Ergebnisse sowie in theoretische und methodische Ansätze geben. Gleichzeitig sollen aus rassismuskritischer Perspektive Möglichkeiten für pädagogisches Handeln abgeleitet und vermittelt werden.
Um diesen Fragen nachzugehen, finden sich in diesem Sammelband insgesamt 13 Beiträge von 20 Autor*innen. Der Band ist in zwei Bereiche unterteilt. In dem ersten Teil geht es vornehmlich um theoretische und empirische Zugänge und Diskurse, der zweite umfasst Beiträge, die sich stärker mit praxisnahen, methodischen Zugängen und den Rahmenbedingungen professioneller Arbeit beschäftigen.
Den Beginn des ersten Teils bildet der Beitrag von Dilek Ikiz und Naika Foroutan, in dem grundlegende Perspektiven und Erkenntnisse zu postmigrantischen Gesellschaften dargestellt werden, der zum besseren Verständnis des Diskurses und seiner Relevanz für die Familien und elementarpädagogische Einrichtungen beitragen soll.
Anschließend widmet sich Seyran Bostancı der Verschränkung von rassismuskritischer Migrationspädagogik und Kindheitswissenschaften und geht den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Konstitution von Kindheit(en) nach.
Maisha Auma beleuchtet in ihrem Beitrag diskriminierungskritische, intersektionale Perspektiven auf Kindheit. Ihre konsequente Anwendung dieser Ansätze eröffnet einen umfassenden Blickwinkel auf Kindheiten, der für eine diskriminierungskritische und grundlegende Querschnittsperspektive in der frühpädagogischen Professionalisierung unerlässlich ist.
Julia Panagiotopoulou und Diana Samani beschreiben Differenz- und Diskriminierungserfahrungen mehrsprachiger Eltern und Kinder aus geflüchteten Familien im Kontext deutscher Bildungseinrichtungen und analysieren dies vor allem vor dem Hintergrund neo-linguizistischer Diskriminierungspraktiken.
Mit forschungsethischen Fragestellungen im Kontext von Differenzforschung in elementarpädagogischen Einrichtungen, die sich aus der Forschung zu Antisemitismus unter jungen Kindern ergaben, setzen sich Saba-Nur Cheema, Isabell Diehm, Yasmine Goldhorn sowie Benjamin Rensch auseinander. Es besteht bereits einen lebhaften Diskurs darüber, inwiefern sich Rassismuskritik und Antisemtismuskritik miteinander verbinden lassen und gleichzeitig auch deutliche Ablehnungen einer Verschränkung. Aus einer intersektionalen Perspektive heraus erachten wir die Verschränkung dieser beiden Themen als fruchtbar und relevant für die Forschung und pädagogische Praxis und freuen uns, diesen hier abbilden zu dürfen.
Emra Ilgün-Birhimeoğlu beschreibt in ihrem Beitrag die auf individueller sowie institutionell-struktureller Ebene beobachteten und erlebten Rassismuserfahrungen von jüngeren Kindern sowie ihren Eltern und deren diesbezügliche Handlungsmuster im frühkindlichen Bildungskontext.
Den ersten Teil schließen Nicolle Pfaff und Emra Ilgün-Birhimeoğlu mit ihrem Beitrag ab, indem sie die Konstruktion von Kinderreichtum im Spannungsfeld von Rassismus, Klassismus und Sexismus untersuchen und eröffnen somit eine intersektionale Perspektive aufs Feld.
Den Auftakt für den zweiten Teil des Buches bilden Birol Mertol und Dana Meyer, die in ihrem Beitrag in den Anti-Bias-Ansatz einführen und dabei auf dessen Relevanz für eine rassismuskritische Praxis auf unterschiedlichen Ebenen des Kita-Alltags hinweisen.
Anschließend zeichnet Petra Wagner die Entwicklung und Bedeutung des Ansatzes der Vorurteilsbewussten Bildung und...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8257-9 / 3779982579 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8257-9 / 9783779982579 |
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