Kinder entdecken Sprache -  Katrin Alt,  Annette Prochnow

Kinder entdecken Sprache (eBook)

Sprachentwicklung, Sprachbildung und Sprachförderung in der Kita
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
178 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-039832-0 (ISBN)
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Die Sprachentwicklung ist eine der zentralen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit. Das Buch führt frühpädagogische Fachkräfte in die Grundlagen und Fördermöglichkeiten frühkindlicher Sprachentwicklung ein. Zunächst werden der Spracherwerb von der Geburt bis zum Grundschulalter erklärt sowie sprachdiagnostische Verfahren diskutiert und Entwicklungsbedingungen für mehrsprachig aufwachsende Kinder vorgestellt. Im zweiten Teil werden die Rolle der Fachkräfte, die alltagsintegrierte Sprachbildung und die Literacy-Entwicklung in der Kita beschrieben. Darüber hinaus wird in Fördermöglichkeiten vom Dialogischen Lesen über die Erzählförderung bis hin zum Philosophieren mit Kindern eingeführt. Zahlreiche an der Praxis orientierte Tipps helfen bei der Umsetzung in den Kita-Alltag.

Dr. Katrin Alt ist Professorin für Kindheitsforschung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Dr. Annette Prochnow ist Qualitätsmanagerin bei einem Hamburger Kita-Träger.

2 Voraussetzungen für einen gelingenden Spracherwerb


Wie erwerben Kinder erfolgreich eine oder mehrere Sprachen? Welche inneren Voraussetzungen bringt das Kind mit und welchen Beitrag leistet die Umwelt? Über die Gewichtung der inneren und äußeren Einflussfaktoren besteht eine bereits jahrzehntelang andauernde Debatte. Auf den entgegengesetzten äußeren Enden der Pole stehen sich die nativistische und die interaktionistische Spracherwerbstheorie gegenüber. Gemäß der nativistischen Theorie, deren bedeutendster Vertreter Noam Chomsky ist, verfügen alle Menschen über einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus (engl. language acquisition device). Die sprachliche Interaktion mit der Umwelt fungiere lediglich als Auslöser für die Reifung der inneren Anlagen, spiele aber eher eine untergeordnete Rolle (z. B. Chomsky 1965). Die interaktionistische Spracherwerbstheorie hingegen sieht die sprachliche Interaktion mit der Umwelt, die sich immer wieder an den Entwicklungsstand des Kindes anpasst, als den entscheidenden Faktor für den erfolgreichen Spracherwerb (z. B. Bruner 1987). Als dritte wichtige Spracherwerbstheorie ist der kognitivistische Ansatz zu nennen. Gemäß dieser Theorie erfolgt der Spracherwerb nicht durch sprachspezifische Anlagen des Kindes, sondern im Rahmen von allgemeinen kognitiven Lernprozessen. Sprachliche und kognitive Entwicklung seien demnach eng miteinander verbunden (z. B. Piaget & Inhelder 1993).3

Mittlerweile besteht eine wissenschaftliche Übereinstimmung darüber, dass keine der Theorien alleine die Mechanismen des kindlichen Spracherwerbs erklären kann. Vielmehr definiert ein Zusammenspiel zwischen kindlicher Anlage und Umweltfaktoren einen erfolgreichen Spracherwerb, wobei die Gewichtung der inneren und äußeren Faktoren je nach Theorie unterschiedlich ausfällt (Kauschke 2012, S. 147; Kucharz, Mackowiak & Beckerle 2015, S. 41).

Voet Cornelli et al. (2020, S. 20) fassen den Konsens der Spracherwerbstheorien zusammen, wonach sich der Spracherwerb nicht durch reine Imitation vollzieht. Vielmehr eignet sich das Kind die Sprache durch eigenaktive, systematische Auseinandersetzung mit der sprachlichen Umwelt an, ohne dass eine gezielte Instruktion erforderlich ist. Zudem ist der Spracherwerb robust und gelingt unter vielen verschiedenen Erwerbsbedingungen. Fakt ist, dass das Zusammenspiel zwischen inneren Bedingungen und äußeren Einflussfaktoren eine Voraussetzung für den erfolgreichen Spracherwerb darstellt. In diesem Kapitel werden einige der wichtigsten Voraussetzungen herausgegriffen und kurz beschrieben.4

2.1 Kindliche Voraussetzungen: Wahrnehmung, Sprechorgane und Kognition


Eine Grundvoraussetzung für den Lautspracherwerb ist ein funktionierendes Gehör, welches im Zusammenspiel mit dem Gehirn akustische Reize wahrnehmen und verarbeiten kann. Bereits zu Beginn des letzten Schwangerschaftsdrittels ist das kindliche Gehör funktionsfähig, sodass der Fötus akustische Reize (z. B. Sprache, Musik) wahrnehmen und verarbeiten kann (Moore & Linthicum 2007), wodurch das Neugeborene schon direkt nach der Geburt zu bemerkenswerten sprachrelevanten Leistungen fähig ist (▸ Kap. 1). Diese frühen sprachlichen Leistungen scheinen das Resultat der pränatalen Erfahrungen zu sein, basieren aber auch auf einer angeborenen Sensibilität für Melodie und Rhythmus (Wermke & Mende 2009, S. 153) sowie Fähigkeiten der Verarbeitung und Wahrnehmung von Sprache. Allerdings können auch Kinder, die mit hochgradiger Hörschädigung auf die Welt kommen und daher die vorgeburtlichen Erfahrungen mit Melodie und Rhythmus von Sprache nicht gemacht haben, trotzdem erfolgreich die Lautsprache erwerben, wenn die Hörschädigung früh erkannt wird und durch Hörgeräte oder ein Cochlear-Implantat ausgeglichen wird (Geers & Nicholas 2013). Und auch gehörlose Kinder können selbstverständlich erfolgreich Sprache erwerben, dies ist dann eben nur nicht die Lautsprache, sondern die Gebärdensprache. Selbst bei intaktem Hörvermögen zum Zeitpunkt der Geburt ist aber trotzdem noch Spra‍chinput von »außen« notwendig, da die Hörbahn, also die Verbindung zwischen Gehör und Gehirn, nur durch akustische Stimulation weiter ausreift (Kannengieser 2019, S. 23).

Für den produktiven Lautspracherwerb ist zudem die Entwicklung der Sprechorgane wichtig. Dazu gehören u. a. die Lunge zur Erzeugung des Luftstroms, der Kehlkopf zur Stimmbildung sowie im Mundraum die Zunge, der Gaumen und die Lippen zur Artikulation von Lauten. Für die Sprechentwicklung sind die grundlegenden Funktionen des Mundes wie Saugen, Beißen, Schlucken und Kauen relevant (Kannengieser 2019, S. 24). Bereits zum Zeitpunkt der Geburt ist der Kehlkopf soweit gereift, dass das Neugeborene sich durch Schreien verständigen kann (Bosma, Truby & Lind 1965). Die Artikulation von Lauten durch Einsatz von Lippen, Gaumen und Zunge gelingt aber erst im Laufe des ersten Lebensjahres und differenziert sich im Laufe der Kindergartenzeit weiter aus (▸ Kap. 1).

Egal in welcher Modalität die Sprache erworben wird, also zum Beispiel als Lautsprache oder als Gebärdensprache, sind bestimmte kognitive Fähigkeiten relevant, die es dem Kind ermöglichen, Sprache wahrzunehmen, zu verarbeiten und schließlich selbst zu produzieren. Dazu gehört, dass das Kind in der Lage ist, aus dem Sprachinput Regeln abzuleiten, diese kontinuierlich zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Wichtig sind hier auch Gedächtnisfähigkeiten, denn die Kinder müssen ihnen zuvor unbekannte Lautverbindungen im Gedächtnis abspeichern und wieder abrufen können. Das sogenannte phonologische Arbeitsgedächtnis ist demnach essenziell für die Sprachentwicklung und auch für den späteren Schriftspracherwerb (zsf. Aktas 2020, S. 51 f.).

Ungefähr zum Ende des ersten Lebensjahres bildet das Kind die Fähigkeit aus, mittels Zeigegeste mit seinem Gegenüber intentional zu kommunizieren, was eng mit dem Verlauf des Spracherwerbs verknüpft ist (z. B. Choi, Wei & Rowe 2021; Murillo & Belinchón 2012). Im selben Alterszeitraum sind die Kinder in der Lage, mit ihren Bezugspersonen einen geteilten Aufmerksamkeitsfokus (Joint Attention) herzustellen, welcher die Grundlage für den triangulären Blick bildet. Das Kind ist nun in der Lage, mit seiner Aufmerksamkeit ein Dreieck zwischen sich selbst, einer Bezugsperson und einem Objekt (Bild, Spielzeug etc.) zu bilden und so zu erkennen, auf was sich sein Gegenüber bezieht. Diesen triangulären Blick bezeichnet Zollinger sogar als »eigentlichen Ursprung der Sprache« (Zollinger 2007, S. 21). Eine wichtige Rolle nimmt hier die Interaktion mit Bezugspersonen ein.

2.2 Äußere Bedingungen: Sprachliche Interaktion mit Bezugspersonen


Eine Sprachentwicklung ohne sprachliche Interaktion mit der sozialen Umwelt ist nicht möglich. Auch wenn es im Rahmen der Spracherwerbstheorien Uneinigkeit darüber gibt, wie groß der erforderliche Einfluss durch die Umwelt ist, gibt es einen Konsens darüber, dass der Einfluss essenziell ist. Die Herstellung des eben genannten gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus gelingt zum Beispiel ausschließlich im Rahmen der Bezugsperson-Kind-Interaktion. Das Kind bringt die Fähigkeit mit, seinen Blick auf einen Gegenstand, zum Beispiel ein Spielzeug, zu richten und anschließend den Blick der Bezugsperson zuzuwerfen. Die Bezugsperson reagiert darauf, indem sie den Gegenstand zum Beispiel benennt, etwas dazu erzählt oder zeigt, was man damit machen kann. Das Kind erfährt so, dass Gegenstände und Handlungen mit bestimmten Wörtern und Sätzen verknüpft sind, die wiederum eine Bedeutung haben (Zollinger 2007, S. 25). Auch wenn das Kind erst zum Ende des ersten Lebensjahres in der Lage ist, den triangulären Blick herzustellen, befinden sich die Bezugspersonen und das Kind schon von der Geburt an in einem Dialog. Durch auf den jeweiligen Entwicklungsstand abgestimmte, zum Teil intuitive, an das Kind gerichtete Sprache unterstützen die Bezugspersonen fortlaufend den Spracherwerbsprozess. Diese besondere Form der sprachlichen Interaktion, welche von pädagogischen Fachkräften auch aktiv und gezielt zur Unterstützung des kindlichen Spracherwerbs eingesetzt werden kann, wird ausführlich in Kapitel 7 dargestellt (▸ Kap. 7).

2.3 Schwierigkeiten beim Erwerb der Sprache


Auch wenn der Spracherwerb des Kindes, wie oben dargestellt, in der Regel robust ist und das Kind sich die Sprache mit seinen angeborenen Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazitäten eigenaktiv und mühelos in sozialer Interaktion mit seiner Umwelt aneignet, gibt es doch auch Kinder, die Schwierigkeiten beim Erwerb einer oder mehrerer Sprachen haben. Die Ursachen wie zum Beispiel eine Hörstörung, kognitive Beeinträchtigungen oder Wahrnehmungsstörungen und ihre jeweiligen Auswirkungen auf den Spracherwerb können sehr vielfältig sein. Eine besondere Form der Sprachstörung kann jedoch mit keiner primären Ursache assoziiert werden, sie wird daher auch als...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-039832-6 / 3170398326
ISBN-13 978-3-17-039832-0 / 9783170398320
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