Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung -  Liane Grewers

Gewaltprävention und Gewaltintervention in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung (eBook)

Schutzkonzepte, Mustertexte, Fallbeispiele
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
99 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-044305-1 (ISBN)
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In Deutschland sind Menschen mit Behinderungen nicht wirksam vor Gewalt geschützt. Um die Lücken im Gewaltschutz zu schließen, bietet das Buch einen Leitfaden für strukturelle, personelle und inhaltliche Maßnahmen im Bereich der Gewaltprävention. Dazu stellt es einen Katalog von Handlungsschritten bei Grenzüberschreitungen, Übergriffen bis hin zu strafrechtsrelevanter Gewalt zur Verfügung. Die enthaltenen Mustertexte können als Bausteine für einrichtungsbezogene Gewaltpräventions- und Gewaltinterventionskonzepte dienen - von der Sexualaufklärung, über ein Präventions- und Interventionskonzept bis hin zu einem Beschwerdemanagement. 10 exemplarische Fälle mit Lösungen veranschaulichen die Darstellung auf praxisnahe Weise.

Die Autorin ist Juristin und war Referatsleiterin im Hessischen Sozialministerium.

1 Einleitung


1.1 Der besondere historische Hintergrund für die gegenwärtige Sichtweise


»Doch man sieht nur die im Lichte – Die im Dunklen sieht man nicht.«
Bertolt Brecht: Dreigroschenoper – Mackie Messer

Menschen mit Behinderung sieht man zwar immer mehr auch im Licht: in der Öffentlichkeit, in allgemeinen Kinderbetreuungseinrichtungen, in den allgemeinen Schulen, in der allgemeinen Arbeitswelt oder in normalen Wohnverhältnissen, aber viele sind leider immer noch auf »Sonder«-Einrichtungen wie Förderschulen, Werkstätten oder Tagesförderstätten für behinderte Menschen sowie Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung oder sogar auf allgemeine Pflegeheime angewiesen. Sie stehen damit tatsächlich häufiger noch im Dunklen, abseits vom gewöhnlichen und für alle zugänglichen Bereich.

Umso mehr die Lebens- und Wohnwelten abgeschirmt und an besonderen Orten platziert sind, umso weniger findet eine soziale Kontrolle statt, umso mehr können sich Strukturen entwickeln, in denen Übergriffe und Machtmissbrauch nicht so leicht für außenstehende Dritte erkennbar sind.

In Deutschland hat die vorhandene Stellung der Menschen mit Behinderung einen besonderen geschichtlichen Hintergrund, der durch die nationalsozialistischen Verbrechen einen Höhepunkt gefunden hat.

Nach bisherigen Untersuchungen geht man davon aus, dass bis zu 250.000 Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen untergebracht waren, in der NS-Zeit getötet wurden (United States Holocaust Memorial Museum, 2019).

Die Tötungsaktionen können in vier Phasen eingeteilt werden:

  • Tötung geistig oder körperlich behinderter Kinder; 1939 begonnen und bis Kriegsende fortgesetzt, sogenannte »Kindereuthanasie«;

  • Tötung von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten, 1939 bis 1944, im engeren Sinne als »Aktion T4« bekannt;

  • »Wilde Euthanasie«, nachdem die »Aktion T4« eingestellt war; 1941 bis Kriegsende;

  • Tötung der psychisch kranken und arbeitsunfähigen Häftlinge der KZs; Frühjahr 1941 – 1944/45; sog. »Aktion 14f3« (planet schule, 2023).

Neben der gezielten Tötung von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen gab es auch im Gesundheitsbereich gravierende menschenrechtsverletzende Eingriffe.

Bereits im Juli 1933, kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, erließ die Regierung das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Es trat am 01. 01. 1934 in Kraft und erlaubte in Deutschland die Zwangssterilisation von Menschen, die nicht den nationalsozialistischen Rasseidealen entsprachen. Diese Menschen sollten keine Möglichkeit haben, Kinder zu zeugen (Wildt, M., 2012).

Dazu zählten »angeborener Schwachsinn«, »Schizophrenie«, »Zirkuläres Irresein« (manisch-depressive Erkrankung), »Erbliche Fallsucht« (Epilepsie), »Erblicher Veitstanz« (Chorea Huntington), »Blindheit«, »Taubheit« und auch »Alkoholismus«. Diese Klassifizierungen wurden ab Jahresende 1933/34 in allen Gesundheitsämtern in speziellen Abteilungen zur »Erb- und Rassenpflege« verwendet (Eichhorn, L., 2014).

Es wird davon ausgegangen, dass von 1934 bis Kriegsende ca. 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Eine genaue Zahl der Sterilisierungen lässt sich nicht angeben, da die Veröffentlichung von statistischen Erhebungen zum Sterilisierungsgesetz ab 1936 vom Reichspropagandaministerium untersagt wurde. In der Bevölkerung wurde eine Beunruhigung befürchtet. Die sterilisierten Menschen waren zwischen 18 und 40 Jahren (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie).

An den dargestellten grausamen menschenverachtenden Praktiken der NS-Zeit wird deutlich, dass es in der deutschen Geschichte gravierende Gewalttaten gegen Menschen mit Behinderung gab, angefangen von systematischen Diskriminierungen und Ausgrenzungen über drastische Maßnahmen gegen die sexuelle Selbstbestimmung bis hin zur gänzlichen Aberkennung des Rechts auf Leben.

Bis heute gibt es nur wenige Ansätze für eine grundlegende Aufarbeitung dieser Verbrechen.

Verstärkend kommt hinzu, dass es auch gegenwärtig noch nicht zu rechtfertigende Rechtsverletzungen hinsichtlich des Rechts auf (sexuelle) Selbstbestimmung gibt. Diese können durch Unterlassen notwendiger Informationen und Aufklärung über bestehende Rechte eintreten. Sie treten aber auch dann ein, wenn keine adäquaten Unterstützungsmaßnahmen eingerichtet oder angeboten werden sowie keine entsprechenden notwendigen Vorkehrungen personeller oder sächlicher Art getroffen werden.

1.2 Gegenwärtige Wertschätzungs- und Gleichbehandlungsdefizite


Dennoch kann in den letzten drei Jahrzehnten von großen gesellschaftspolitischen Veränderungen zugunsten von Menschen mit Behinderung in Richtung Normalität, Integration bis hin zu Inklusion durch eine Öffnung der Kinderbetreuungseinrichtungen, der Schulen, der Wohn- und Arbeitsverhältnisse auch für Menschen mit Behinderung gesprochen werden.

Aber immer noch tun sich auch heute in Deutschland nicht wenige Menschen schwer damit, Menschen mit Behinderung als lebens- und achtenswert, als gleichrangig mit Menschen ohne Behinderung zu betrachten.

Nach einem Bericht des deutschen Bundestages vom 04. 04. 2019 (DrS 19/9059, S. 49) werden nach einer pränatalen Diagnose bei durchschnittlich 92 % aller Schwangerschaften mit der Diagnose Trisomie 21, bei 77 % mit der Diagnose Anencephalie, bei 74 % mit der Diagnose Spina bifida, bei 55 % mit der Diagnose Lippe-Kiefer-Gaumen-Spalte und bei 46 % mit der Diagnose Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen Schwangerschaften abgebrochen. Weiterhin ist eine Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche bei einem Herzfehler festzustellen.

Am 19. 08. 2021 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte, Kliniken und Krankenkassen eine Patienteninformation zu einem ab 2022 kostenlosen Bluttest für Schwangere auf Trisomien. Die bekannteste Trisomie ist die des Down-Syndroms, Nr. 21. Mit dem Bluttest können aber auch weitere Trisomien wie die auf dem Gen Nr. 13 oder 18 bestimmt werden (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2022). Bislang musste der Bluttest privat gezahlt werden. Ab 2022 wurde er Kassenleistung. Die schärfste Kritik an dieser Form der Selektionsmöglichkeit kommt von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe und der katholischen Kirche.

Was sagt diese Entwicklung für unser Menschenbild aus?

Ist für viele, auch einflussreiche Politiker, die entsprechende Entscheidungen als Volksvertreter mitgetroffen haben, das Leben für einen Menschen mit einer Trisomie/mit einer Behinderung nicht lebenswert? Werden Menschen mit einer Trisomie/mit einer Behinderung nicht als willkommenes Mitglied unserer Gesellschaft betrachtet?

Wie die zentralen Medien und damit eventuell auch die Mehrheitsmeinung gegenwärtig mit den Lebensumständen von Menschen mit Behinderung umgehen, lässt sich beispielhaft an der Reaktion auf eine Gewalttat in Brandenburg an vier Heimbewohnern mit Behinderung 2021 in Potsdam festmachen.

Am 29. 4. 2021 wurden vier Menschen mit Behinderung von einer langjährigen Bediensteten durch schwere Schnittverletzungen an der Kehle ermordet, bei drei Menschen mit Behinderung führten die Angriffe nicht zum Tode, sondern zu einer gefährlichen Körperverletzung. Es handelte sich um Frauen und Männer im Alter von 31 – 56 Jahren, die im diakonischen Wohnheim für Körper- und Mehrfachbehinderungen lebten.

Die Tatverdächtige kam sehr schnell in die Psychiatrie, die zuständige Richterin vermutete alsbald das Vorliegen eingeschränkter oder vollständiger Schuldunfähigkeit. Das Geschehen hatte eine ortsbezogene starke Anteilnahme durch Angehörige, Nachbarn, Behörden und sonstige Dritte zur Folge.

Die am 01. 05. 2021 stattfindende Gedenkandacht fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Medienvertreter statt. Am 07. 09. 2021 wurde Anklage erhoben und am 22. 12. 2021 verurteilte das LG Potsdam die Täterin zu 15 Jahren Haft und zur Unterbringung in der Psychiatrie.

Es gab nur ganz spärliche Meldungen in den Medien zu dieser schrecklichen Tat: zum Beispiel eine offizielle Meldung in der Tagesschau, in der Zeit online vom 29. 04. 2021 (Zeit online, dpa, 2021), in rbb24.de und in Spiegel online vom 07. 9. 2021. Es erfolgte keine breit angelegte gesellschaftspolitische Aufarbeitung und Debatte. Die Tat gerät in das Vergessen.

Liegt das nicht im allgemeinen politischen Interesse? Wie ist diese Ungleichbehandlung in den Medien im Vergleich mit sonstigen »Mehrfachtötungen« zu erklären? Wo bleiben die Anteilnahme und Solidarität?

Auch wenn die Lebensumstände von Menschen mit Behinderung nicht im Interesse des allgemeinen Mainstreams liegen, ist es besonders wichtig, dass die Menschen, die...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-044305-4 / 3170443054
ISBN-13 978-3-17-044305-1 / 9783170443051
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