Einführung in die Interaktionssoziologie -  Marion Müller

Einführung in die Interaktionssoziologie (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
277 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8068-1 (ISBN)
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Interaktion ist der soziologische Fachbegriff für Sozialität, die unter Bedingungen körperlicher Anwesenheit und wechselseitiger Wahrnehmung entsteht. Hier gelten andere Regeln als z.B. bei der Kommunikation zwischen Personen, die weder Zeit noch Raum unmittelbar miteinander teilen. Diese Einführung liefert einen Überblick über zentrale Konzepte zur Beschreibung und Analyse von Face-to-Face-Interaktionen, erläutert die theoretischen Grundlagen der Interaktionsforschung sowie das Verhältnis des Interaktionsbegriffs zu anderen soziologischen Grundbegriffen (Handeln, Kommunikation, Praxis). Darüber hinaus werden begriffliche Weiterentwicklungen und aktuelle Forschungsfelder der Interaktionssoziologie vorgestellt.

Prof. Dr. Marion Müller, Jg. 1973, lehrt Soziologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie, Interaktionsforschung und die Soziologie der Personenkategorien (vor allem Geschlecht, Ethnizität und Behinderung).

Vorwort (für Studierende) und eine kleine Leseanleitung


Zwei verliebte Menschen, die sich tief in die Augen schauen, eine flüchtige Begegnung zwischen Fremden in einem engen Korridor, ein Spiel in der Fußball-Bundesliga und ein Passant, der sein Fahrrad durch die volle Fußgängerzone schiebt: Die Gemeinsamkeit all dieser sozialen Situationen besteht darin, dass sich Personen hier unmittelbar begegnen, d. h. sie sind gleichzeitig am selben Ort körperlich anwesend, nehmen sich wechselseitig wahr – wenn auch unterschiedlich intensiv – und reagieren in irgendeiner Art und Weise auf die Anwesenheit der anderen. Das sind die konstitutiven Merkmale einer besonderen Form von Sozialität, für die der soziologische Fachbegriff soziale Interaktion bzw. Face-to-Face Interaktion lautet. Er besagt, dass unter den Bedingungen der körperlichen Anwesenheit und wechselseitigen Wahrnehmung besondere Regeln für den Umgang miteinander gelten. Das ist die Ausgangsthese der Interaktionssoziologie, die sich mit der Erforschung eben dieser Regeln beschäftigt. Demnach macht es also einen Unterschied, ob Menschen sich direkt von Angesicht zu Angesicht begegnen oder nur vermittelt durch Schrift oder elektronische Geräte miteinander zu tun haben, wie z. B. in einem Brief oder einer E-Mail. So ist es z. B. viel einfacher auf eine E-Mail nicht zu reagieren, als eine Person zu ignorieren, die mich auf der Straße direkt anspricht oder grüßt. Die meisten Menschen werden den Gruß erwidern – und zwar unabhängig davon, ob sie die andere Person kennen oder nicht. Man kann gar nicht anders, sondern reagiert fast automatisch (auch wenn man sich danach vielleicht fragt, wer das eigentlich gerade war). Wie genau diese Art sozialer Alltagsmagie funktioniert und welche Regeln unter Anwesenden gelten, gehört zu den zentralen Fragestellungen der Interaktionsforschung und steht im Mittelpunkt dieses Einführungsbuchs.

Im Soziologiestudium spielt die Interaktionsforschung vor allem während der ersten Semester bzw. der soziologischen Grundausbildung eine wichtige Rolle. So werden Studierende häufig losgeschickt und sollen kleine alltägliche Begegnungen beschreiben und mit Konzepten der Interaktionstheorie analysieren. Das ist ein guter Einstieg in die Soziologie und lässt sich aufgrund der leichten Zugänglichkeit solcher kleinen Ereignisse leicht umsetzen. Die Studierenden fertigen Beschreibungen der beobachteten Situationen an, in denen sie sich von dem Geschehen distanzieren und statt eines Teilnehmenden die Perspektive soziologischer Beobachter:innen einnehmen. Auf diese Weise wird dann schnell klar, dass das, was sie sehen, gar nicht so selbstverständlich und unkompliziert ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Man merkt z. B. schnell, dass die Kommunikation in vielen dieser Alltagsbegegnungen in Form bestimmter Paarsequenzen abläuft. Ähnlich wie bei der Begrüßung auf den Gruß der Gegengruß folgt, so folgt auf das Stellen einer Frage („Wie geht’s?“) eine Antwort („Gut. Danke.“) oder auf ein Angebot (Tür offenhalten) dessen Annahme (durchgehen und lächeln) oder aber Ablehnung („Nein danke, Sie zuerst!“).

Auf den ersten Blick erscheinen diese kleinen wechselseitigen Rituale eher beiläufig und unwichtig, gleichzeitig merkt man schnell, dass sie nahezu omnipräsent sind und unser gesamtes Leben und unseren Alltag durchziehen. Außerdem üben sie einen gewissen Zwang auf uns aus, denn unter körperlich Anwesenden – und nur auf solche Situationen beziehen sich diese Überlegungen – ist es ziemlich schwierig und irgendwie unangenehm, nicht zurückzugrüßen, auf eine Frage nicht zu antworten oder auf eine offengehaltene Tür gar nicht zu reagieren. Die Leser:innen können das ja bei Gelegenheit mal versuchen und werden schnell merken, wie schwer das fällt und wie die anderen Menschen mit Irritation, wenn nicht sogar Ablehnung reagieren. Verweigert man diese ritualisierten Reaktionen über eine längere Zeit hinweg systematisch, gerät man schnell unter Verdacht, an einer Störung des Sozialverhaltens zu leiden, gilt als seltsam, wird gemieden oder sogar zum Arzt geschickt.

Bei der Auseinandersetzung mit diesen alltäglichen Interaktionsritualen fällt außerdem auf, dass viele der üblichen Methoden der empirischen Sozialforschung hier nicht funktionieren: So erscheint es wenig sinnvoll, die Interaktionsteilnehmer:innen danach zu fragen, was sie bei diesen Begegnungen denken, welche Absichten und Einstellungen sie haben und wie genau sie die Entscheidung treffen, einen Gruß zu erwidern. Weder kann man die Leute dazu interviewen (es ist zumindest nicht mit weiterführenden Antworten zu rechnen) noch scheinen Modellrechnungen bzgl. der Einflüsse auf ihre Handlungswahl hierbei zielführend zu sein. Stattdessen hat man beim Beobachten ihres Verhaltens den Eindruck, dass sie eher automatisch reagieren und manchmal selbst über ihre Reaktionen erstaunt sind. Die Anwesenheit anderer Menschen und das Bewusstsein, dass diese das eigene Verhalten wahrnehmen, scheinen einen gewissen Druck auszuüben, der eine Eigendynamik erzeugt. Entsprechend fokussiert die Interaktionssoziologie auch weniger den einzelnen Menschen, dessen Ziele und Absichten, als vielmehr die Verstrickungen zwischen anwesenden Personen. Goffman, der Gründervater der Interaktionssoziologie, hat es folgendermaßen formuliert:

„Ich setze voraus, daß der eigentliche Gegenstand der Interaktion nicht das Individuum und seine Psychologie ist, sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen. […] Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.“ (Goffman 1973a: 8 f.)

Ein Leitfaden durch das Buch


Das vorliegende Einführungsbuch richtet sich vor allem an Anfänger:innen der Soziologie bzw. der Interaktionssoziologie, also Studierende in den ersten Fachsemestern. Zumindest die ersten beiden Kapitel setzen wenig Vorwissen voraus und die vorgestellten Begriffe und Zusammenhänge werden ausführlich erklärt. Da man dafür etwas mehr Seiten braucht, kann nur eine begrenzte Anzahl interaktionssoziologischer Konzepte vorgestellt werden, und an manchen Stellen werden bestimmte Anschlüsse aus Platzgründen nur angedeutet. Zusätzlich finden sich Vorschläge für eine vertiefende Lektüre. Fürs schnelle Nachschlagen gibt es ganz hinten im Buch ein Glossar mit wichtigen interaktionssoziologischen Fachbegriffen und Konzepten.

Dieses Buch basiert auf der Überzeugung, dass Begriffe in der Soziologie (wie in der Wissenschaft generell) eine wichtige Rolle spielen. Letztlich sind Begriffe die kleinsten Einheiten jeder wissenschaftlichen Analyse, daher sollten sie präzise, eindeutig und zweckmäßig sein (vgl. Opp 2014: 141 ff.). Das bedeutet, dass ihre Bedeutung klar und nicht missverständlich oder unscharf sein darf und ihre Verwendung einen analytischen Mehrwert bei der Untersuchung sozialer Wirklichkeit mit sich bringen muss, nur dann sind sie überhaupt brauchbar. Außerdem sollten sie an bereits bestehende andere soziologische Grundbegriffe anschlussfähig sein. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lassen sich mithilfe von Begriffen auch klare theoretische Zusammenhänge formulieren. Das sind wichtige Voraussetzungen für das wissenschaftliche Arbeiten, aus denen sich schließlich auch der Aufbau dieses Buchs ergeben hat.

Zu Beginn steht eine (wirklich kurze) Geschichte des Interaktionsbegriffs und dessen Etablierung als soziologischem Grundbegriff. Das ist wichtig, um die zunehmende Präzisierung des Begriffs nachvollziehen zu können. Hier zeigt sich die Plastizität des Fachs und seiner Interessen (d. h. die Form- und Veränderbarkeit der soziologischen Fragestellungen), denn die Soziologie hat sich nicht immer für Sozialität unter Anwesenheitsbedingungen interessiert und der entsprechende Begriff wurde erst in den 1950er Jahren von Erving Goffman entwickelt. Gleichzeitig zeigt diese Darstellung aber auch, dass sich die Bedeutung solcher zentralen Fachbegriffe im Lauf der Zeit verändern kann. Zum anderen soll dieser historische Einstieg dabei helfen, theoriegeschichtliche Zusammenhänge in der Soziologie besser zu verstehen, also z. B. die Frage, an wessen Arbeiten Goffman eigentlich anschließt und warum ausgerechnet in dieser Zeit auf einmal direkte Begegnungen ...

Erscheint lt. Verlag 7.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8068-1 / 3779980681
ISBN-13 978-3-7799-8068-1 / 9783779980681
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