Praxishandbuch Empowerment -  Nkechi Madubuko

Praxishandbuch Empowerment (eBook)

Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen begegnen
eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
239 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-7059-0 (ISBN)
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Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen verlangen nach einer Antwort der pädagogischen Professionen und der Sozialen Arbeit. Aus der Betroffenenperspektive heraus analysiert die Autorin, welche Reflexion und welches Wissen als Fachkraft unabdingbar ist, um Rassismus zu erkennen und Empowerment mitzudenken. Empowerment-orientierte Handlungskompetenz, Umgang mit Unterschieden, Wirkungen von Rassismuserfahrungen und wie Diskriminierung zu begegnen ist, wird praxisnah vorgestellt und mit Beispielen zur Umsetzung verknüpft. Das Besondere: Erstmals stellen Empowerment-Trainer_innen ihre Methoden in geschützten Räumen (Safer Spaces) vor. In der 2. Auflage gibt es inhaltliche Anpassungen: Statt »Haltung« steht nun »Wissen« im Mittelpunkt. Zahlreiche neue Passagen zu Rassismus, Positionierung und Macht wurden ergänzt und aktuelle Surveys, Literatur und Fakten eingebunden.

Nkechi Madubuko, Dr., ist promovierte Soziologin, Autorin, Diversity-Trainerin und ausgebildete Fernsehjournalistin (ZDF). Sie arbeitet als Dozentin an der Universität Kassel und Koblenz. Ihre Schwerpunkte sind Empowerment, Verarbeitung von Rassismuserfahrungen, rassismuskritische Bildung, diversitätssensibler Umgang und Empowerment-Orientierung im Kontext Schule.

Kapitel 1

Wissensbestände für empowerment-orientiertes Arbeiten


„Gehst du mal in deine Heimat zurück?“ – „Was, nach Bielefeld? Nee!“ Noah Sow 2009, S. 199.

1Grundlagen zur Migrationsgesellschaft und Diversität


In diesem Kapitel 1 werden sechs wichtige Wissensbestände für Empowerment und einer Empowerment-Orientierung vorgestellt. Beginnen möchte ich mit Grundlagen zur Migrationsgesellschaft und Diversität.

Gesellschaftliches Setting, mit dem markierte Kinder und Jugendliche konfrontiert sind

Um herkunftsbezogene Ablehnungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen besser zu erkennen, ist es wichtig zu wissen, wie Diversität in der Gesellschaft gehandhabt wird. Verschiedenheit der Herkunft, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, sexueller Identität und Kulturen gehören zur statistischen Normalität der Gesellschaft. In Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen und im Alltag spiegelt sich dies wider. Um erstes Wissen zur Rolle von Vielfaltsdimensionen zu erlangen, braucht es ein grundlegendes Verständnis davon, wie das gesellschaftliche Setting ist, in dem Kinder und Jugendliche mit bestimmten Merkmalsdimensionen aufwachsen und was sie darin erleben.

Migration wird in Deutschland in den Medien und der Politik wiederkehrend als Problem behandelt und das spüren auch schon die hier lebenden Kinder. Die politische Lage von Migrant_innen und deren Familien sowie gesellschaftliche Diskurse über sie als soziale Gruppe haben sich seit der Bundestagswahl 2016 deutlich verschlechtert. Obwohl bundesweit 37,7 %1 aller Kinder unter sechs Jahren und jede_r vierte Bürger_in einen Migrationshintergrund haben, fehlt es an einer breiten Akzeptanz für ein multikulturelles, vielsprachiges Deutschland.

Die öffentlichen Debatten um Migration haben auf politischer Ebene populistische bis rassistische Züge erreicht. Sich öffentlich rassistisch zu äußern wird zunehmend akzeptiert und legitimiert (vgl. Wahlkampf der AFD in dem geflüchtete Menschen als „Vogelfutter“ bezeichnet wurden oder als unverhohlen angedeutet wurde Menschen an der Grenze zu erschießen).2 Sogenannte „Migrantenschulen“ werden als „Problemfälle“ in bundesweiten Medien wie der Bild-Zeitung angeprangert und sprachliche Vielfalt in Grundschulen skandalisiert.3 Rechtspopulistische Parteien wie die AFD werden von Menschen gewählt, die in allen Gesellschaftsbereichen leben und arbeiten.

Menschen, die als Muslime gelesen werden, nicht-deutsche Herkunft und/oder dunklere Hautfarbe

Im Bildungsbereich wurde durch die PISA-Studien erneut deutlich: Bildungserfolg ist in Deutschland eng an deutsche Herkunft, Bildungsstand und sozialen Status der Eltern gebunden. Ergänzend belegte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013 ein umfangreiches Ausmaß an Diskriminierung in Bildung und frühkindlichen Einrichtungen4: in der Kita, in Bildungseinrichtungen, in der Verwaltung, in Behörden, im Studium sowie an Schulen.5 Kinder und Jugendliche können von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen sein (Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Homophobie …). Für dieses Buch lege ich den Schwerpunkt auf Rassismuserfahrungen als Diskriminierungsform. Sie ist gebunden an Herkunft, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe und zugeschriebener Kultur eines Menschen. Rassismus ist mehr, als nur Vorurteile gegen Schwarze Menschen zu hegen. Rassismus findet auf individueller und struktureller Ebene statt. Rassistische Kategorisierungen zeigen sich in unterschiedlichen Formen: als Anti-Schwarzen Rassismus, Anti-Asiatischen Rassismus, Antisemitismus, Antimuslimischem Rassismus und als Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja.

Kinder und Jugendliche mit phänotypisch sichtbaren Merkmalsdimensionen (beispielsweise sichtbare religiöse Attribute oder dunkle Hautfarbe) sind in der Öffentlichkeit mit Sprüchen wie zum Beispiel: „Geh doch dahin zurück, wo du herkommst“ oder „Sowas wie dich wollen wir hier nicht haben“ konfrontiert. Je nach Vielfaltskombination können sich rassistische Diskriminierungen auch überlappen und gegenseitig beeinflussen (intersektional). Ist eine Muslima auch türkischer Herkunft, ist sie von Zuschreibungen betroffen, die miteinander in Bezug stehen.

Die Notwendigkeit von Empowerment liegt vor allem darin begründet, dass rassistische Diskriminierung in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfindet. Erfahrungen von Abwertungen entlang von Vielfaltsdimensionen beginnen schon im Kindergartenalter.6 Mit drei Jahren erleben diese Kinder dort, wo sie Bezugspersonen finden sollten, Ausgrenzungen und stereotype Zuschreibungen (auch solche, die nett gemeint sind). Steffen Brockmann (2006)7 analysierte die Entwicklungen und Diskurse zu interkulturellen und antirassistischen Ansätzen im frühkindlichen Bereich. Dort beschreibt er Drei- bis Vierjährige, die von Fachkräften wiederholt auf ihre ethnische Zugehörigkeit angesprochen und damit reduziert werden, obwohl diese für sie selbst nur eine untergeordnete Rolle spielt. Kinder selbst definieren sich in dem Alter eher über ihre Geschlechterzugehörigkeit (was auch mit der Sozialisation zu tun hat).

Rassistische Denkweisen begegnen ihnen auf Individualebene über Erwachsene und Kinder in ihrem direkten sozialen Umfeld: Verkäufer_innen, Erzieher_innen, Lehrer_innen, Mitschüler_innen oder Nachbar_innen. Als Jugendliche sind es ggf. Türsteher_innen, Arbeitgeber_innen im Bewerbungsgespräch oder Vermieter_innen.

Diskriminierende Ausgrenzung hat viele Gesichter und muss nicht intendiert stattfinden, um wirksam zu sein. Auf struktureller Ebene findet sich rassistische Diskriminierung in üblichen Verfahrensweisen an Schulen durch abwertende Darstellungen in Schulbüchern, pauschales zu- und abschreiben von Kompetenzen entlang der Herkunft und sog. Kultur, schlechtere Benotung aufgrund des Namens, nicht-christl. Religionszugehörigkeit und Herkunft. Strukturell zeigt er sich außerdem in Ämtern, in Gesetzen, bei der Polizei (Racial Profiling) oder beim Einlass in Diskotheken.

Unser soziales Wissen ist durchzogen von Zuschreibungen, Verallgemeinerungen und Abwertungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen. In ihnen stecken vielfach rassistische Denkstrukturen. Schaut man in die (sozialen) Medien, die Werbung, die Literatur, Kinderbücher, Schulbücher oder auf Aussagen in der Politik, werden dort Zuschreibungen als allgemein bekannte „Wahrheiten“ über Andere kommuniziert und reproduziert. Hinzu kommt der Alltagsrassismus (siehe #MeTwo). Dort gibt es hunderte von Beispielen über Ausgrenzung, Beschimpfung, Diskriminierung bis hin zu physischen Angriffen. Rassistische Angriffe haben in Deutschland eine jahrzehntelange Kontinuität mit Verletzten und Toten. Ob der Anschlag in Mölln 1993, die Angriffe in Hoyerswerda oder aktuelle Anschläge auf Migrant_innen in Hanau 2020 und den Morden der NSU – dies alles sind rassistische Angriffe oder Morde, die zu beklagen sind.8 Das trifft hier lebende Menschen mit Migrationsgeschichte, die ohnehin alltäglich Rassismus erleben, hart und lässt sie an ihrer Sicherheit zweifeln.

Aber Deutschland ist ein freies und demokratisches Land, in dessen Mehrheit der Politik und der Zivilgesellschaft Rassismus verpönt ist und Minderheiten zumindest formal vom Grundgesetz und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geschützt sind. Die Realität im Alltag in Form einer deutlichen antirassistischen Haltung fehlt allerdings in der Breite. Als Unterstützer_in und Bezugsperson von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Settings, sollten Sie sich dafür einsetzen. Seien Sie an der Basis da, um rassistische Denkweisen in ihrem Umfeld abzubauen bzw. ihnen keinen Raum zu geben.

Studien zu Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt liegen umfangreich vor. Auf dem Wohnungsmarkt gilt wiederkehrend, dass aufgrund des ausländisch klingenden Namens nicht vermietet wird und...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7799-7059-7 / 3779970597
ISBN-13 978-3-7799-7059-0 / 9783779970590
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