Die Gedanken sind frei! (eBook)

Ein Essay zur Zeitenwende

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
144 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-5746-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Gedanken sind frei! -  Heinz Schott
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Der Essay versammelt Einfälle, Erinnerungen und Überlegungen, die der Autor zwischen Februar und Juli 2023 niedergeschrieben hat. Das altbekannte Lied "Die Gedanken sind frei!" gab hierzu den Anstoß. Nicht nur im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine ist neuerdings von einer "Zeitenwende" die Rede, was kollektive Untergangsängste auslöst und Rettungsfantasien weckt. Der Autor zeigt aphoristisch auf, wie er in einer Art Selbstanalyse damit umgeht. Diese Schrift schließt an seinen früheren Essay "Corona und was die Seuchengeschichte lehrt" (BoD 2020) an.

Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott, emeritierter Professort für Geschichte der Medizin, leitete das Medizinhistorische Institut der Universität Bonn von 1987 bis 2016.

Vom Wald und den Bäumen


In keinem anderen Land bestimmte das »Waldsterben« so tiefgreifend die öffentliche Debatte wie in (West-)Deutschland. Die Bilder von verdorrten Bäumen, deren Astgerippe in den Himmel ragten, boten einen gruseligen Anblick. Ich erinnere mich an retuschierte Fotos, auf denen anstelle des Schwarzwalds nur noch kahle Berge zu sehen waren. Damit war ein Herzstück deutscher Identität angetastet: der Wald mit seinen Bäumen. Besondere Baumarten werden in vielen Gedichten und Liedern gepriesen. So besitzt die Deutsche Eiche hohen Symbolwert und der Lindenbaum, der am Brunnen vor dem Tore steht, reimt sich bekanntlich auf Traum. Goethes Erlkönig, vertont von Franz Schubert, verleiht der Erle eine transzendente Zauberkraft. Der Wald als ebenso verlockende wie gefährliche Welt spielt in deutschen Märchen eine illustre Rolle, man denke etwa an Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen. Einerseits ist der Wald mit seinen Quellen, Bächlein, Pilzen und Beeren, Hirschen und Hasen, seinen Nymphen und Feen Inbegriff der reinen Natur; andererseits, ist er als Ort der Hexen und Räuber, der Wölfe und Bären lebensgefährlich, in dem man sich verirren und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann.

Die Bedrohung des Waldes empfanden viele Landsleute im ausgehenden 20. Jahrhundert als Angriff auf die eigene Identität — kündigte sich im »Waldsterben« nicht das eigene Sterben an? Diese Beziehung zum Wald und zu den Bäumen ist bei den Deutschen besonders innig. Die Sängerin Alexandra hat sie 1968 in ihrem Lied »Mein Freund der Baum ist tot« unüberbietbar zum Ausdruck gebracht.7 Auf lokalpolitischer Ebene fallen heute die ausgefeilten Baumschutzverordnungen auf, basierend auf Baumschutzsatzungen und kontrolliert durch Baumschutzkommissionen. (Dass hier Regularien grundsätzlich sinnvoll sind, möchte ich nicht bezweifeln.) Auffallend ist nicht nur die hohe Sensibilität vieler Bürger, wenn es um die Erhaltung des Baumbestands in ihrer Umgebung geht. Sie reicht weit darüber hinaus. So wird die Abholzung des tropischen Regenwalds vor allem in Brasilien seit vielen Jahren in der Öffentlichkeit mit ökologischen Argumenten angeprangert, wobei die negativen Folgen für Biodiversität und Klima im Vordergrund stehen. Grundsätzliche Veränderungen der Lebensführung werden davon abgeleitet, etwa die Forderung, auf Importfleisch zu verzichten, um Anbauflächen für die Tiermast und damit den Anreiz zur Rodung des Regenwalds zu verringern. »Rettet den Regenwald« ist zu einem etablierten Label einer Umweltorganisation geworden.8 Das Abholzen wird moralisch angeprangert und alle möglichen Bestrebungen, dem entgegenzuwirken, scheinen geboten zu sein.

Wie sehr sich eine solche Argumentation bei der Schuldfrage verheddern kann, zeigt eine Episode, die im März 2023 zu verzeichnen war. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wandte sich in Brasilien gegen die Abholzung des Regenwalds und behauptete, dass in Deutschland der Wald schändlicherweise schon ganz verschwunden sei. Er erklärte Bewohnern im Regenwald: »Für uns ist das sehr spannend zu verstehen, wie ihr im Wald leben könnt und den Wald schützen könnt, weil in Deutschland vor tausend Jahren die Deutschen alle Bäume gefällt haben. [...] Macht es besser, als es unsere Vorfahren gemacht haben.«9 Allerdings ist knapp ein Drittel der Oberfläche Deutschlands bewaldet, woran sich seit Jahrhunderten wenig geändert hat. Damit zählt Deutschland zu den waldreichen Ländern in der Europäischen Union. Habecks Aussage offenbart seine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit. Die ideologische Brille ist auf einen raffinierten Schuldkomplex fokussiert, der doppelbödig aufgebaut ist. Zunächst: Die Urwaldbewohner machen sich schuldig, wenn sie die Abholzung des Waldes zulassen. Dann aber der Schuldvergleich: Sie machen sich genau so schuldig, wie die eigenen Vorfahren des Besuchers aus Deutschland, die vor tausend Jahren alle Bäume gefällt hätten. Eine solche Argumentation ist insofern raffiniert, da sie die Hörer mit einem Trick zu überrumpeln versucht: Schaut her, wir selbst — das heißt unsere Vorfahren — haben total Schlimmes begangen, lasst euch das zu Warnung dienen! Der »deutsche Sündenstolz« lässt sich, wie die Episode zeigt, nicht nur im Sinne des Philosophen Hermann Lübbe auf die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reichs« beziehen, sondern auch auf die tausend Jahre davor.

Es gibt eine ideologische Hierarchie der Werte: An der Spitze steht derzeit die »Rettung des Klimas«, wofür der massive Ausbau sogenannter erneuerbarer Energien in Form von Windrädern zwingend notwendig sei, der keine Rücksicht auf Wälder nehmen könne. Angesichts des Hauptziels erscheint die Erhaltung der Wälder von untergeordneter Bedeutung. Selbst große Teile des »deutschen Märchenwalds« in Nordhessen sollen Windrad-Monstern weichen.10 Auch im lokalpolitischen Mikrokosmos kommt es zu einer Kollision der Werte. Dies sei an einem Beispiel aus Bonn aufgezeigt. Um das Automobil im Nahverkehr zurückzudrängen, setzen die regierenden Ratsfraktionen auf den Ausbau der Radwege. Dem Ausbau eines Radwegs am Rhein mussten eine größere Anzahl von stattlichen Bäumen weichen, ungeachtet vehementer Proteste.11 Wenn die ideologische Prämisse »Klimaneutralität« Vorrang hat, sind eben C02-ausstoßende Fahrzeuge so weit irgend möglich zu reduzieren und die Menschen zum Radfahren zu motivieren. Bäume sind da nur im Weg.

Vor wenigen Jahren entstand im Kottenforst bei Bonn ein beachtliches Naturdenkmal: das Kunstprojekt »Zeitenwende«.12 Mitten im Wald tut sich ein kahles Areal auf, wo früher Fichten standen, die dem Borkenkäfer und der Trockenheit zum Opfer gefallen waren. Die schnell wachsenden Bäume waren in Monokultur als Nutzwald angepflanzt worden. In riesigen weißen Großbuchstaben am Waldrand im Hintergrund ist ZEITENWENDE zu lesen, hier als Mahnmal gegen Umweltzerstörung und Klimakatastrophe gedacht; mein Foto ist auf dem Buchdeckel zu sehen. Das weite Areal ist mit künstlerischen Exponaten bestückt: Freiluftgemälden, Erklärungstafeln, einer Skulptur »Engel der Kulturen«. An den Stümpfen gestapelter Baumstämme können Passanten auf Merkzetteln ihre Einfälle notiere und an das Holz heften. Inzwischen ist die verfügbare Fläche dicht mit Zetteln bedeckt. Es gibt zwei breite geschwungene Holzliegen unter Bäumen und eine überdachte Sitzbank, von der aus man das Areal in Ruhe überblicken kann. Wie immer man die Erklärungen und Botschaften dieses Kunstprojekts einschätzen mag: Es dokumentiert in meinen Augen vor allem die Liebe zum Wald, die emotionale Verbundenheit zu dieser besonderen Sphäre der Natur.

Das Tiergehege an der Waldau ist ein schwacher Abglanz einstiger Waldesherrlichkeit im Kottenforst bei Bonn. Hier sind durch Zäune drei Tierarten voneinander getrennt: Schwarzwild (Wildschweine), Rotwild (Hirsche) und Damwild (Damhirsche). An die historische Tatsache, dass die Jagd zum Wald gehört, erinnern heute noch manche Namen von Gasthäusern in Waldnähe wie Waldesruh, Waldhäuschen, Waldau, Waldschenke. Eine gelb angestrichene Jagdhütte aus dem 18. Jahrhundert heißt »Jägerhäuschen«, das an einem beliebten Wanderweg liegt. Die hochherrschaftliche Jagd im Kottenforst wurde vom Kölner Kurfürsten Clemens August etabliert, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein prächtiges, nicht mehr existentes Jagdschloss in Röttgen erbauen ließ: das Schloss Herzogsfreude (Joie de Duc). Die Jagdschneisen, lange schnurgerade Wege, die heute durch den Wald führen und auf das frühere Schloss zuliefen, zeugen von den fürstlichen Vorlieben für »Parforcejagden und Sauhatz«.13 Sie stellen jetzt beliebte Wege für Fußgänger und Radfahrer dar. Der Familienname Jäger lässt erahnen, wie verbreitet der Beruf des »Waidmanns« einst war, dessen Revier hauptsächlich den Wald betraf und der — oft konterkariert durch seinen Gegenspieler, den Wilderer — in Literatur und Musik eine wichtige Rolle spielt. Die »romantische Oper« Der Freischütz von Carl Maria von Weber zeugt davon. Das bekannte Volkslied Der Jäger aus Kurpfalz ließ Bundeskanzler Helmut Kohl sogar bei öffentlichen Auftritten gerne spielen oder singen, es gehört zum ehernen Bestand deutschen Liedguts.14 Auch meine Mutter sang es gerne mit uns Kindern, während sie uns auf dem Klavier begleitete.

Ich bin kein Vergleichender Literaturwissenschaftler oder Kulturanthropologe um beurteilen zu können, welche Bedeutung in nichtdeutschen Sprach- beziehungsweise Kulturräumen Wald und Bäume haben. Ich kann hier allenfalls Vermutungen anstellen. Die Tatsache, dass »the Waldsterben« oder »le Waldsterben« sich als Fremdwörter in anderen Sprachen eingebürgert haben, lassen eine...

Erscheint lt. Verlag 20.12.2023
Reihe/Serie SCHOTT's NEUE BIBLIOTHEK
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Die Gedanken sind frei • Essay • Meinungsfreiheit • Zeitenwwende • Zeitkritik
ISBN-10 3-7583-5746-2 / 3758357462
ISBN-13 978-3-7583-5746-6 / 9783758357466
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