Abschied vom Pazifismus? (eBook)

Wie sich die Friedensbewegung neu erfinden kann
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83749-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschied vom Pazifismus? -  Johannes Ludwig
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Will die Friedensbewegung auch in Zukunft eine ernst zu nehmende Stimme in gesellschaftlichen Debatten sein, so muss sie sich dringend reformieren. Die friedensethischen und -politischen Fragestellungen im Zuge des Kriegs Russlands gegen die Ukraine zeigen im Brennglas die Defizite der Bewegung auf, die über Jahrzehnte verschleppt wurden. Das ideologisierte Erbe der Vergangenheit, die mangelnde Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse und das Abdriften in populistische Diskurse haben sie in die Sackgasse geführt. Auf der Grundlage einer kritischen Standortbestimmung zeigt Johannes Ludwig, welcher Reformen es bedarf, um die Friedensbewegung zukunftsfähig zu machen.

Johannes Ludwig, geb. 1996, studierte Internationale Beziehungen (B.A.), Internationale Sicherheitspolitik (M.A.), International Political Economy (M.Sc.) und kath. Theologie in Dresden, Boston, Paris und London. Mit einer Arbeit zur Menschenrechtspolitik des Heiligen Stuhls wurde er zum Dr. phil. promoviert. Seit 2022 arbeitet er als Referent für Globale Vernetzung und Solidarität im Bistum Limburg.

Johannes Ludwig, geb. 1996, studierte Internationale Beziehungen (B.A.), Internationale Sicherheitspolitik (M.A.), International Political Economy (M.Sc.) und kath. Theologie in Dresden, Boston, Paris und London. Mit einer Arbeit zur Menschenrechtspolitik des Heiligen Stuhls wurde er zum Dr. phil. promoviert. Seit 2022 arbeitet er als Referent für Globale Vernetzung und Solidarität im Bistum Limburg. Wolfgang Thierse, geb. 1943, war von 1998 bis 2005 Präsident und seit 2005 Vizepräsident des Deutschen Bundestags. Mitglied des Zentralkomitees deutscher Katholiken.

2. Der Wandel des Friedensbegriffs: Vom Ende der Geschichte zur unendlichen Geschichte


Das abrupte Ende des Kalten Kriegs muss dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama als ebenso unvorhersehbare wie glückliche Fügung vorgekommen sein. Der gesamte weltpolitische Rahmen, innerhalb dessen er groß geworden war und in dessen Analyse er ein herausragender Experte war, hatte mit einem Mal ein jähes Ende gefunden. Vorbei die Zeit der Blockkonfrontation; die Sowjetunion, die jahrzehntelang die größte Bedrohung der USA dargestellt hatte, war plötzlich nicht mehr als ein Relikt der Vergangenheit.

Die Euphorie, die mit dieser Zeitenwende einherging, war so groß, dass Fukuyama 1992 in seinem Buch The End of History and the Last Man gar von einem Ende der Geschichte sprach. Hatte das friedliche Ende des Kalten Kriegs nicht den jahrzehntelang währenden Wettkampf um Fortschritt und Wohlstand zugunsten des Liberalismus entschieden und bewiesen, dass Demokratie und Marktwirtschaft Garantinnen eines menschenwürdigen Lebens waren? Die Geschwindigkeit, mit der sich die „vierte Demokratisierungswelle“1 in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und den Blockstaaten zu vollziehen schien, bestätigten ihn in der Annahme, dass der Siegeszug der den Frieden sichernden Demokratie nun endgültig begonnen hatte.

Im Rückblick mag Fukuyamas Rede vom „Ende der Geschichte“ vorschnell gewesen sein; sie wurde damals wie heute massiv kritisiert: Es wurde bald auf drastische Weise offensichtlich, dass die vermeintliche Demokratisierung sich in vielen Teilen der Welt mehr als ein Fortbestand vorhandener Machtstrukturen unter anderem Namen entpuppte; die Staatszerfallskriege in vielen ehemaligen Staaten der Sowjetunion waren nur Vorboten einer Ära der Instabilität, der man mithilfe des neuen Weltordnungskonzepts des Multilateralismus Herr zu werden suchte. An die Stelle einer Ordnung, in der letzten Endes das Recht des Stärkeren gegolten hatte, sollte eine zunehmende Verdichtung der Verrechtlichung und Institutionalisierung der internationalen Beziehungen treten. Fukuyamas Analyse zeigt eindeutig die enge Verbindung des politischen und wirtschaftlichen Systems mit dem Konzept des Friedens. Er war freilich nicht der erste und ist auch nicht der letzte Wissenschaftler, der einen Zusammenhang von Staatsform und Friede herzustellen suchte. Schon in der Antike hatte Aristoteles idealtypisch sechs Verfassungsformen beschrieben und die Politie, eine Mischung aus Demokratie und Monarchie, als die stabilste und dem Wohlstand und Frieden zuträglichste Staatsform bezeichnet. Auch in der jüngeren politikwissenschaftlichen Forschung ist das Postulat des „Demokratischen Friedens“ immer wieder vertreten worden. Dabei kann grundsätzlich zwischen zwei Spielarten der Theorie unterschieden werden. Während die monadische Theorie von einer grundsätzlichen Friedfertigkeit demokratischer Systeme ausgeht, wird in der dyadischen Variante präzisiert, dass sich die Friedfertigkeit nur auf das Verhalten einer Demokratie gegenüber anderen Demokratien beschränkt. Es gibt zahlreiche Befunde, die die monadische Theorie vom demokratischen Frieden widerlegen; auch demokratische Staaten führen Kriege gegen andere Staaten – ein Beispiel hierfür ist etwa die Invasion der USA im Irak. Die dyadische Theorie vom demokratischen Frieden hat sich demgegenüber als erstaunlich haltbar erwiesen. Die wenigen Beispiele für militärische Auseinandersetzungen zwischen Demokratien bleiben in der Intensität zumeist unterhalb der Schwelle des Kriegs. Für die dyadische Theorie gibt es mehrere Erklärungsansätze. Einerseits kann angenommen werden, dass die Bürger:innen ihren eigenen wirtschaftlichen und sozialen Nutzen dann maximieren können, wenn ein Staat stabile Außenbeziehungen unterhält. Anderseits kann der Friede zwischen Demokratien auch durch die hohe Bereitschaft zum Eingehen von Abhängigkeiten erklärt werden. Der Krieg wird dieser institutionalistischen Lesart folgend schon deshalb nicht in Erwägung gezogen, weil er angesichts der Interdependenzen auch für den Aggressor selbst mit erheblichen Konsequenzen verbunden wäre. Schließlich lautet ein dritter Erklärungsansatz, dass demokratische Systeme im Inneren zum Vertrauensaufbau in den Außenbeziehungen der Staaten führen. Demnach hat in Demokratien auf nationaler und internationaler Ebene ein Lernprozess stattgefunden, innerhalb dessen Methoden der friedlichen Streitbeilegung internalisiert wurden.2

Der vom Westen propagierte Fortschrittsoptimismus fand einen erneuten Höhepunkt im Arabischen Frühling, der von manchen schon bald als „fünfte Welle der Demokratisierung“ gefeiert wurde.3 Nach dem Ende des Kolonialismus und dem Zerfall der Sowjetunion schienen nun auch die letzten autokratischen Bastionen zu fallen. Was mit der tragischen Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Tunesien begonnen hatte, entfaltete bald in der ganzen arabischen Welt eine Sprengkraft, die niemand vorherzusagen gewagt hatte. Machthaber, die teils jahrzehntelang die Geschicke ihrer Länder bestimmt hatten und nicht selten von kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen profitiert hatten, wurden über Nacht abgesetzt. Der Demokratisierung und der davon erwarteten Friedensdividende schien nichts mehr im Wege zu stehen.

Umso massiver war der Realitätsschock, als sich auch diese Hoffnungen schon bald als illusorisch erwiesen. In vielen Staaten konnten die alten Eliten nach den Unruhen und Umwälzungsversuchen des Arabischen Frühlings schon bald auf ihre Machtpositionen zurückkehren oder wurden durch repressiv agierende Militärregierungen ersetzt. Selbst Tunesien, das lange als Paradebeispiel der „Demokratiefähigkeit“ der arabischen Welt gegolten hatte und als Hoffnungsträgerin des Arabischen Frühlings gefeiert worden war, ist inzwischen wiederum in autokratische Strukturen abgedriftet. Repressionen im Iran, die ultrakonservative Muslimbruderschaft in Ägypten, ein grausamer Bürgerkrieg in Syrien und das Erstarken der Terrorbewegung Islamischer Staat: Die Bilanz der ‚fünften Welle der Demokratisierung‘ war verheerend ausgefallen. War bei vielen europäischen Beobachter:innen also der Wunsch Vater des Gedankens gewesen? Drastischer hätte man kaum daran erinnert werden können, dass die Staatsform der Demokratie im Zeitverlauf und auch regional bis heute eher die Ausnahme als die Regel geblieben ist. Zudem ist sie äußerst fragil und anspruchsvoll. Im Zuge der Welle des Rechtspopulismus wurden auch viele westliche Demokratien daran erinnert, dass selbst lange bestehende politische Systeme nicht immun gegenüber Anfechtungen sind. Dass der friedliche Machtwechsel in den Vereinigten Staaten von Amerika, der einflussreichsten und wohlhabendsten Demokratie der Welt, infrage stand, ist nur die Spitze des Eisbergs, zumal der friedliche Regierungswechsel als absolutes Minimalkriterium eines demokratischen Systems gilt. Auch um den Erhalt der Demokratie in Europa scheint es nicht besser bestellt: In Italien wird eine rechtsnationale Regierung von der nächsten abgelöst, Frankreich erzittert vor jeder Wahl vor dem drohenden Sieg des Front National, die erodierende Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen unterminiert das Projekt der europäischen Einigung und in Deutschland reißt eine Partei die 20-Prozent-Hürde, deren Jugendorganisation und Landesverbände vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft werden oder unter permanenter Beobachtung stehen.

Von Bedeutung ist diese in erster Linie innenpolitische Trendwende insofern, weil die multilaterale Ordnung selbst zum Ziel der Angriffe rechtspopulistischer Parteien geworden ist. Das Engagement und die institutionalisierte Zusammenarbeit auf internationaler oder – wie im Falle der Europäischen Union – supranationaler Ebene werden als ‚Ausverkauf nationaler Interessen‘ tituliert. An die Stelle einer Idee der europäischen Einigung als Friedensprojekt und der Vision einer regelbasierten internationalen Ordnung ist ein Kalkül getreten, in dem nach kurzfristigen Kosten, nicht aber nach langfristigem Gewinn gefragt wird. Der Friede in Europa wurde in zunehmendem Maße als unhinterfragte Grundkonstante der politischen Ordnung hingenommen, sodass kaum mehr gesehen wurde, dass er in erster Linie Dividende des Projekts der europäischen Integration gewesen ist. Mit der von populistischen Parteien getragenen und vorangetriebenen Renationalisierung vieler Staaten zeigt sich bereits heute – etwa beim europäischen und internationalen Schutz der Menschenrechte – auf leidvolle Weise, dass dieser Prozess alles andere als unumkehrbar ist. So wie die Institutionalisierung und Verrechtlichung auf internationaler Ebene langfristig für relative Sicherheit und Wohlstand gesorgt haben, so würde die konsequente Orientierung an der kurzsichtigen Agenda des Populismus zur politischen Desintegration und einer anarchistisch geprägten Weltordnung führen, in der an die Stelle der Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren tritt.

Die politischen Debatten um die Themen Flucht und Migration sind nur ein Beispiel dafür, dass dieses Kalkül des Populismus bereits Eingang in die Mitte der Gesellschaft gefunden hat; anders lassen sich das immer wieder aufflammende Geschacher um die Aufnahmequoten von Menschen auf der Flucht oder die...

Erscheint lt. Verlag 22.1.2024
Co-Autor Wolfgang Thierse
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Friedens-Aktivismus • Friedensbewegung • Friedensethik • Friedenspolitik • Pazifismus • Populismus • Ukrainekrieg
ISBN-10 3-451-83749-8 / 3451837498
ISBN-13 978-3-451-83749-4 / 9783451837494
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