Rebel Dreamer (eBook)
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3106-5 (ISBN)
Domitila Barros wurde 1985 in Recife, Brasilien geboren. Nach der Schule studierte sie dort Sozialpädagogik und absolvierte ihren Master in Sozial- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie ist Unternehmerin und Greenfluencerin und arbeitet als Business-Coach, Schauspielerin und Model. Am 19. Februar 2022 wurde sie Miss Germany 2022, deren Kandidatinnen seit 2021 nicht mehr nur nach ihrem Aussehen, sondern vor allem nach ihrer 'Mission' bewertet werden.
Domitila Barros wurde 1985 in Recife, Brasilien geboren. Nach der Schule studierte sie dort Sozialpädagogik und absolvierte ihren Master in Sozial- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie ist Unternehmerin und Greenfluencerin und arbeitet als Business-Coach, Schauspielerin und Model. Am 19. Februar 2022 wurde sie Miss Germany 2022, deren Kandidatinnen seit 2021 nicht mehr nur nach ihrem Aussehen, sondern vor allem nach ihrer "Mission" bewertet werden.
Kapitel 1
Wer in einer Favela aufwächst, feiert das Leben umso mehr
Linha do Tiro, Recife, ein Sommer im Jahr 1997. Unsere Welt scheint an diesem Freitagnachmittag heil und friedlich. Die Hitze steht in den engen Gassen, Rhythmen verschiedener Musikstile schallen aus den geöffneten Fenstern, als wollten sie sich gegenseitig in der Lautstärke überbieten. Rock, Hip-Hop, Samba-Sounds mit Handtrommeln und Perkussionsinstrumenten, die Polka-ähnlichen Rhythmen des Forró. Das Wochenende beginnt. Lebensfreude liegt in der Luft.
Und unser mobiler Beauty-Salon hat geöffnet. Er besteht aus einer Art Werkzeugkasten aus Plastik, mit kleinen Fächern, in denen ein paar Fläschchen mit bunten Farben herumkullern, Nagellackentferner, Watte, Feilen. Ich presse die Lippen fest aufeinander, um nicht danebenzumalen. Konzentriert streiche ich mit dem Pinsel türkisfarbenen Lack auf die Fingernägel eines Mädchens aus der Nachbarschaft, lege den Kopf schräg und betrachte mein Werk immer wieder mit etwas Abstand. Meine beste Freundin und ich sitzen barfuß auf einem windschiefen Mauervorsprung, zwei Teenager aus dem Viertel uns gegenüber auf Plastikhockern, die irgendwann mal farbig waren. Ihre Hände liegen mit gespreizten Fingern auf den verwaschenen Handtüchern, die wir über unsere Knie gebreitet haben, so wie wir es uns von den Profis abgeschaut hatten.
Wir sind zwölf Jahre alt. Und stellen uns vor, wir hätten später mal einen echten Schönheitssalon. Dann könnten wir uns Zuckerwatte leisten. Eis. Vielleicht eines Tages sogar ein paar coole Sneaker.
Schon meine Mutter Roberta hat als kleines Mädchen die Fingernägel ihrer Lehrerinnen gemacht, um ihre Eltern dabei zu unterstützen, das Schulgeld zusammenzubekommen. Wir verdienen bisher nichts damit, machen uns nur gegenseitig die Nägel, um uns aufs Wochenende vorzubereiten.
In Brasilien hat Körperpflege einen enormen Stellenwert. Auch wenn wir nicht wissen, was wir abends essen sollen, sind die Fingernägel gemacht, die Körperhaare entfernt. Viele Bewohner der Favela richten sich in ihrem Wohnzimmer eine improvisierte Waxing-Station ein oder stellen einfach einen Stuhl auf die Straße und legen los. Ganz ohne Anmeldung oder Bürokratie, man kommt einfach vorbei. So fängt für viele von uns an, was man in Europa »Unternehmertum« nennt. Gerade weil wir in einem Armenviertel leben, lieben wir es, uns hübsch zu machen. Dort, wo der beißend-süßliche Gestank von verbranntem Plastik durch das Labyrinth aus dicht aneinandergebauten Hütten und Häusern zieht. Wenn der Müll angezündet wird, den keiner abholt, ist der Wunsch umso stärker, sich in seiner Haut wohlzufühlen. »Fang mit dem an, was du hast.« Mit diesem Grundsatz bin ich aufgewachsen. Wir haben nicht viel, aber die Möglichkeit, uns zu pflegen, die schon. Auch wenn wir kein fließendes Wasser haben und keine Sanitäranlagen, sind wir kreativ. Wir besitzen keine teuren Beauty-Produkte, darum kreieren wir sie uns selbst aus den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen: eine Haarkur aus Aloe vera und Öl, eine Paste aus Zucker fürs Waxing, ein Peeling aus dem Kaffeesatz vom Vortag. »Ich bin arm, aber das muss nicht bedeuten, dass ich dreckig bin«, so sagt man dort, wo meine Wurzeln sind. Sich für den Tag vorzubereiten ist sogar wie eine Zeremonie: Jeden Morgen die kalte Dusche aus dem großen blauen Wasserspeicher auf dem Dach unseres Hauses, wo der Regen gesammelt wird – um Wäsche damit zu waschen oder uns selbst.
Uns schön zu machen gibt uns Selbstbewusstsein. Auch um dem Rassismus, dem Mobbing, der Unfreundlichkeit etwas entgegenzusetzen, dem, was uns auf dem »Asphalt« entgegenschlägt, wie wir die wohlhabendere Gegend nennen, in die wir täglich zum Arbeiten gehen. Es fällt uns leichter, mit diesem Minimum an Selbstwertgefühl. Niemand muss uns unsere Herkunft ansehen, denn wir definieren uns nicht darüber, was wir nicht haben. Die Armut diktiert uns nicht, wer wir sind, wer wir sein sollen. Es ist wie eine kleine Rebellion mit dem Lippenstift. Wir wehren uns dagegen, uns durch äußere Umstände die Lebensfreude nehmen zu lassen.
Denn viele Leute denken: Wenn du aus einer Favela kommst, musst du allem entsagen, was Spaß macht. Musst du ohne all das leben, was man vielleicht als Luxus bezeichnen würde. Darfst du dir nie etwas Schönes gönnen. Doch wer täglich ums Überleben kämpft, wer in dem Gefühl ständiger Bedrohung lebt, der feiert das Leben umso mehr. Wer Gewalt erfährt, wer erlebt, wie Menschen jung sterben, der ist dankbar für jeden neuen Tag. Und für jede gute Party.
Ich habe es geliebt und tue es bis heute, wenn alle zusammenkommen: Die Musik wird dann übertrieben laut aufgedreht, ein ganzes Schwein gegrillt und mit allen geteilt. Jeder bringt mit, was er hat. Und wenn er nichts hat, dann ist er trotzdem willkommen. Es gibt Bohnen, Reis und Obstsalat. Und es wird viel getrunken, Bier und Cachaça, der Zuckerrohrschnaps, der als brasilianisches Nationalgetränk gilt und die Hauptzutat für Caipirinha ist. Kleine Kinder laufen zwischen den Älteren umher, die Tanzfläche ist immer voll. Babys sind dabei, alte Leute und alles dazwischen. Es gibt immer einen Anlass, ausgelassen zu sein. Und wenn es keinen gibt, dann erfinden wir einen. Feiern ist notwendig, um zu überleben.
Wer am Wochenende in eine Favela geht, wird viele wunderschöne Frauen sehen, die sich von anderen zurechtmachen lassen, um abends feiern zu gehen. Und weil an den freien Tagen besonders viel los ist, wittern meine Freundin und ich unsere Chance, um an unseren Fähigkeiten zu feilen: Samstags und sonntags sind die Profis, die normalerweise den Frauen die Fingernägel gegen Geld machen, oft ausgebucht. Also setzen wir uns freitagnachmittags, wenn die anderen noch arbeiten müssen und wir schon Schulschluss haben, auf die Straße und bieten den Mädels aus der Nachbarschaft unsere Dienste an. Wie auch an diesem Tag.
Schusslinie
Wie aus dem Nichts sind sie plötzlich da, nutzen das Überraschungsmoment. Weiter oben am Hang, dort auf der einzigen asphaltierten Straße sind mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei zum Stehen gekommen. Das, was sich gerade noch wie ein friedlicher Abend anfühlte, ist nun zu Ende.
Die Polizeiautos erinnern uns an das, was wir jeden Tag zu vergessen versuchen: dass wir in Wahrheit im Krieg leben. Ja, das tun wir wirklich. Die rivalisierenden Seiten sind die Marginalisierten und die Polizei. Dabei geht es um die Beherrschung von Territorien. Spezialeinheiten gehen in die Favelas, um ein Problem zu lösen, entweder einen Drogenhändler zu stellen oder einen »Boca de Fumo« zu stürmen – so werden Orte genannt, an denen illegale Drogen verkauft werden. Sie »bekämpfen die Dealer«, so heißt es. Meistens müssen sie dazu schießen. Und manchmal ist dann »zufällig« jemand im Weg. Und dieser Jemand stirbt. »Ein Kollateralschaden.« So das offizielle Narrativ. Es sieht wie ein Bürgerkrieg aus, weil Polizei wie Drogenhändler schwer bewaffnet sind. Wenn sie aufeinandertreffen, endet es oft mit Toten und Verletzten. Aber was ich mich schon als kleines Mädchen gefragt habe: Wie kann es sein, dass jemand, der in einer Favela lebt, in der es nicht mal fließendes Wasser oder eine Müllabfuhr gibt, sich Waffen leisten kann? Die Menschen, die das Geld haben, in den Drogenhandel zu investieren, die sind nicht sichtbar, deren Leichen liegen nicht am Straßenrand wie die so vieler junger Menschen aus der Favela.
In meinen Augen hat diese Geschichte noch immer mit der Kolonialzeit zu tun. Es ist eine Geschichte der Korruption durch den Staat. Und es ist ein Machtspiel, das in unserer Gesellschaft stattfindet. Wer die Macht hat, der hat auch das Recht, es so zu machen, wie er will. Der darf Menschen auf der Straße hinrichten. Ohne einen Prozess fürchten zu müssen, einfach so. Und die anderen sollen gefälligst selbst aufpassen, dass sie nicht versehentlich im Weg stehen. Ein sehr eigenwilliges Verständnis von einem Rechtsstaat. Jeder, der in einem Armenviertel in und um Brasiliens Metropolen lebt, weiß, wie es funktioniert, und lernt schon als kleines Kind eine wichtige Lektion: »Wenn die Polizei da ist, dann rennst du oder gehst in Deckung.«
Über diese Realität der Gewalt, in der ich aufgewachsen bin, wird nicht viel berichtet in der Welt. Doch der Regisseur José Padilha erzählt in seinem 2007 erschienenen Film Tropa de Elite davon. Polizeihauptmann Capitão Nascimento kämpft sich darin mit der Spezialeinheit für Bandenbekämpfung, Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE), durch die Elendsviertel Rios, die von der Polizei aufgegeben worden sind und nur noch zum Einsammeln von Bestechungsgeldern betreten werden. Diese Militärpolizisten – nach realem Vorbild – tragen einen Totenkopf vor gekreuzten Pistolen auf ihren schwarzen Uniformen. Wenn sie in die Favelas fahren, dann in einem Panzerfahrzeug mit Schießscharten, aus denen sie das Feuer eröffnen. Der Film stellt dar, wie jeder dieser Polizisten mit seinem Antritt eine Entscheidung treffen muss: für Korruption oder Krieg. Die echte BOPE versuchte damals, den Kinostart zu verhindern, denn so wollte wohl niemand offiziell dargestellt werden. Dennoch haben über fünfzehn...
Erscheint lt. Verlag | 30.5.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut • Brasilien • Coach • Drogenkrieg • Favela • Gefahr • Greenfluencerin • Millenium Dreamer • Miss Germany 2022 • Slums • Straßenkind • Unternehmerin |
ISBN-10 | 3-8437-3106-3 / 3843731063 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3106-5 / 9783843731065 |
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Größe: 12,9 MB
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