Eisernes Schweigen (eBook)

Das Attentat meines Vaters. Eine deutsche Familiengeschichte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31154-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eisernes Schweigen -  Traudl Bünger
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Wie ist es, herauszufinden, dass der Vater ein Attentäter war? Traudl Bünger kannte ihren Vater als einen fürsorglichen Mann, auf den sie sich stets verlassen konnte, der aber auch rigide Meinungen hatte. Schon als Kind wusste sie, dass ihn ein Geheimnis umgab, über das er stets eisern schwieg. Nach seinem plötzlichen Tod beginnt sie, dieses Geheimnis zu lüften - und wird in die frühen Sechzigerjahre katapultiert. Deutschland ist frisch durch die Mauer geteilt, Bundeskanzler Konrad Adenauer will die BRD als verlässlichen internationalen Partner etablieren. Da flammt ein Konflikt auf, der die junge BRD emotionalisiert und in dem auch Traudl Büngers Vater tatkräftig mitmischt. Im Herbst 1962 fährt er mit Gesinnungsgenossen nach Italien. Ziel der Mission: Völkerrechtsverletzungen an »Volksdeutschen« in Südtirol brandmarken. Das Mittel: Sprengstoff. Das Ergebnis: Ein Toter und zahlreiche Verletzte.   Was hat ihren Vater im Alter von 27 Jahren zu dieser Tat verleitet? Was für ein Mensch war er? Traudl Büngers Recherchen führen sie in zahlreiche Archive und in drei Länder. Sie beginnt, mit Angehörigen über das damalige Geschehen zu sprechen. Dabei blickt sie nicht nur in die Abgründe ihrer Familiengeschichte. Sie führt uns auch tief in die Historie der Bundesrepublik, des Kalten Krieges und seiner Propagandaschlachten. »Eisernes Schweigen« zeigt ein junges Land, das sich neu positionieren muss und dabei die Schatten seiner Vergangenheit konsequent übersieht - bis heute. 

Traudl Bünger konzipiert seit 2004 Kulturveranstaltungen, u.a. als Programmleitung der Literatur- und Kulturfestivals lit.Cologne und lit.Ruhr sowie des Literatur- und Musikfestivals »Wege durch das Land«. Sie war Kritikerin im Literaturclub des Schweizer Fernsehens und lehrt und publiziert zu Themen der Kulturvermittlung, der literarischen Öffentlichkeit und Gegenwartsliteratur. Sie ist Mitglied der Jury des Heinrich-Heine-Preises. Gemeinsam mit Roger Willemsen schrieb sie den Bestseller »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Die Weltgeschichte der Lüge«. Bei Kiepenheuer & Witsch erschien zuletzt von ihr der Roman »Lieblingskinder«. Für die Arbeit an »Eisernes Schweigen« wurde sie vom Fritz-Bauer-Institut unterstützt, außerdem mit dem Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln, dem Au- tor:innenstipendium der Kunststiftung NRW und dem Arbeitsstipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW ausgezeichnet. Traudl Bünger lebt in Köln.

Traudl Bünger konzipiert seit 2004 Kulturveranstaltungen, u.a. als Programmleitung der Literatur- und Kulturfestivals lit.Cologne und lit.Ruhr sowie des Literatur- und Musikfestivals »Wege durch das Land«. Sie war Kritikerin im Literaturclub des Schweizer Fernsehens und lehrt und publiziert zu Themen der Kulturvermittlung, der literarischen Öffentlichkeit und Gegenwartsliteratur. Sie ist Mitglied der Jury des Heinrich-Heine-Preises. Gemeinsam mit Roger Willemsen schrieb sie den Bestseller »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Die Weltgeschichte der Lüge«. Bei Kiepenheuer & Witsch erschien zuletzt von ihr der Roman »Lieblingskinder«. Für die Arbeit an »Eisernes Schweigen« wurde sie vom Fritz-Bauer-Institut unterstützt, außerdem mit dem Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln, dem Au- tor:innenstipendium der Kunststiftung NRW und dem Arbeitsstipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW ausgezeichnet. Traudl Bünger lebt in Köln.

Winter 2019, Berlin


Ich sitze in einem Kreuzberger Hinterhof und lese »Student im Volk«, die Publikation des Bunds Nationaler Studenten. Ein Experte hatte mir verraten, dass es genau einen Ort gibt, in dem alle Ausgaben der Zeitschrift versammelt sind: das Apabiz (Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin). Ich bin unendlich dankbar, dass es das Apabiz gibt. Es ist nicht mehr als eine Wohnung mit Regalen und Topfpflanzen und Flyern, in denen Filmvorführungen und Diskussionsabende angekündigt werden, könnte man denken. Aber tatsächlich ist es ein spendenfinanziertes, hoch engagiertes Archiv, das seit siebzig Jahren Dokumente der extremen Rechten sammelt. Ich fühle mich sofort wohl, die Teestuben-Sozialisation.

Schon Wikipedia hat mir verraten, dass der Bund Nationaler Studenten die Zeitschrift »Student im Volk« herausgegeben hat. Vielleicht hat mein Vater oder mein Onkel hier publiziert? Über Südtirol? Über die Gründe, die zwei junge Männer aus bürgerlichem Elternhaus mit einer strahlenden Zukunft in der Wirtschaftswunder-BRD haben können, sich in einen Konflikt in Südtirol einzumischen, der hässlich ist, aber nicht hässlicher als das, was zu jener Zeit in Algerien geschieht? Ein Konflikt, in dem Menschen- und Völkerrechte verletzt werden, aber weitaus weniger massiv als zum Beispiel in den USA der Rassentrennung oder im Südafrika der Apartheid. Ein Konflikt, der geopolitisch nicht unbedeutend ist und es in einem CIA-Dossier bis auf den Schreibtisch von J.F. Kennedy geschafft haben soll, der aber wesentlich weniger bedrohlich ist als das, was sich gerade zwischen Kuba und den USA aufbaut. Vielleicht spricht mein Vater endlich durch eine sechzig Jahre alte Zeitschrift einer rechtsnationalen Studentenorganisation zu mir?

Ich blättere mich durch die Ausgaben, finde jedoch keine Artikel meines Vaters oder meines Onkels. Aber ich finde Texte, in denen ich Worte lese, die ich von meinem Vater kenne:

Den rassischen Mischmasch lehne ich ab. Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht einen. Alle Menschen sind gleich, das ist weder eine Wahrheit noch eine Lüge. Es ist eine Halbwahrheit.

Ich habe mich nie in jemanden verliebt, der eine dunkle Hautfarbe hatte. Mein erster Freund hatte schwarze Haare und dunkelbraune Augen. Ich hatte mich darauf vorbereitet, diese Wahl vor meinem Vater zu verteidigen. Mit Sätzen, in denen die Haarfarbe Hitlers vorkam. War aber nicht nötig gewesen.

Wenn ich Kinder mit Migrationshintergrund zu meinem Geburtstag einladen wollte, gab mein Vater mir eine Quote vor. Eigentlich fast erstaunlich, dass sie bei zwei und nicht bei null lag.

Im Winter 2019 habe ich noch nicht mit meinem Onkel Kontakt aufgenommen. Viele Monate, viele hartnäckig-charmante Mails und viele Stücke Streuselkuchen später wird er mir von seiner Zeit in Südafrika erzählen. Und von der Arbeit für die Regierung von Swasiland, die sich bei der Weltbank um einen Kredit für Infrastrukturmaßnahmen bewerben wollte und dafür den Status quo erheben musste. Ungeheuerliches wird er mir erzählen: Von den Zauberdoktoren, die ihren Klienten versprachen, sich in ein Krokodil zu verwandeln und ihre unliebsam gewordene Frau zu fressen, oder die den Verzehr des Gehirns eines minderjährigen Kindes als Glück bringendes Ritual bei einer Fußballmeisterschaft empfahlen. Und er wird von seiner Stelle im Department of Economics an der Universität von Natal erzählen. Von der Kiwi-Plantage, die er anschließend betrieb, und den Schwarzen Menschen, die für ihn arbeiteten. Von seiner Schwarzen Haushälterin, die ihm einen Brief geschrieben habe, in dem gestanden hätte, dass er doch bitte wiederkommen solle.

»Ich bin mit den Schwarzen immer sehr gut ausgekommen«, wird er mir sagen. Ich durfte das Gespräch aufnehmen und hier zitieren. Ein paar Tage später werde ich im ICE zwischen Stuttgart und Mannheim sitzen und diese Aufnahme auf dem Rechner archivieren. Ich werde diesen Satz versehentlich viermal hintereinander abspielen.

Ich bin mit den Schwarzen immer sehr gut ausgekommen.

Ich bin mit den Schwarzen immer sehr gut ausgekommen.

Ich bin mit den Schwarzen immer sehr gut ausgekommen.

Ich bin mit den Schwarzen immer sehr gut ausgekommen.

Kopfhörer werde ich nicht haben.

 

Es ist heiß im Apabiz. Ich nehme mir eine weitere Ausgabe »Student im Volk«. Wie oft habe ich mich gefragt, wie mein Vater so radikal geworden ist. Am Elternhaus hat es nicht gelegen. Mein Großvater ist während des Nationalsozialismus kein hoher Parteikader gewesen. Er ist erst spät und aus pragmatischen Gründen in die Partei eingetreten. Sicher kein Widerständler, aber auch kein »Hundertprozentiger«, so lautet die Familienerzählung. Hat mein Vater im Bund Nationaler Studenten die ideologische Prägung erfahren, die er bis an sein Lebensende nicht mehr abgelegt hat? An der Sektion mit den Leserbriefen bleibe ich hängen:

Die Kollektivscham wächst uns schon zum Halse heraus. Das Tagebuch der Anne Frank und die ganzen KZ-Greuel habe ich satt bis daher!

Ich bin in der neunten Klasse und lese »Das Tagebuch der Anne Frank« im Deutschunterricht. »Moortje ist mein weicher und schwacher Punkt. Ich vermisse sie jede Minute, und niemand weiß, wie oft ich an sie denke.« Ich weine mit Anne um ihre Katze. Ich verliebe mich mit ihr zögernd in Peter und hasse Fritz Pfeffer und seine Gymnastik.

Ich kann die Erschütterung dieser Lektüre noch dreißig Jahre später spüren. Ich glaube, niemand, der diese Erschütterung erlebt hat, kann behaupten, Anne Franks Tagebuch sei gefälscht.

Später werde ich recherchieren, wer wie und wann zum ersten Mal in Deutschland behauptet hat, das Tagebuch der Anne Frank sei gefälscht. Lothar Stielau schrieb 1958 in der »Zeitschrift der Vereinigung ehemaliger Schüler und der Freunde der Oberrealschule zum Dom E.V., Lübeck«: »Die gefälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht viel echtere Tagebuch von Anne Frank haben den Profiteuren der deutschen Niederlage gewiss einige Millionen eingebracht …« Nachdem er von Otto Frank verklagt worden war, zog er diese Behauptung zurück, beide einigten sich auf einen Vergleich.

Im Bericht einer Nachrichtenstelle werde ich lesen, dass Lothar Stielau der Bruder von Konrad ist. Konrad ist der Schwiegervater meines Onkels. Ich werde einen Bericht finden, laut dem Konrad ehemaliger Ortsgruppenleiter der NSDAP in seinem Heimatdorf war und noch in den 1960ern als »unbelehrbarer Fanatiker« galt.

Als ich in der neunten Klasse war, hat mein Vater mir nicht gesagt, dass er das Tagebuch der Anne Frank für gefälscht hält. Stattdessen hat er mir von den Tausenden von Kindern erzählt, die in deutschen Städten verbrannt sind. Mit zitterndem Finger hat er auf meine Ausgabe gedeutet und mit wütender Stimme gefragt, warum deren Tagebücher niemand druckt, niemand liest und niemand um sie weint. Heute weiß ich, wie die rhetorische Figur heißt, die mein Vater damals angewendet hat. Ich erkenne sie wieder, wenn im Februar in Dresden die Rechten aufmarschieren, wenn sie Schilder tragen, auf denen »Bombenholocaust« zu lesen ist.

 

Ich frage den Archivar im Apabiz, ob ich ein paar Kopien von den Heften machen darf. Er ist reizend und hilfsbereit. Ich frage mich, was ich für ihn bin. Ein Tier im Zoo? Ein Exponat? Die Tochter des Rechtsradikalen.

16. Oktober 1962, Innsbruck

Bestimmt sieht mein Onkel zufrieden aus, als er gegen neunzehn Uhr in Innsbruck wieder mit meinem Vater und Schröder zusammentrifft. Sein Begleiter ist schmal, fast schmächtig, spricht österreichischen Dialekt und trägt eine Brille.

»Walter«, sagt er und gibt Manfred Schröder und meinem Vater die Hand.

»Klaus Dieter«, sagt Manfred Schröder.

»Franz«, sagt mein Vater. Vielleicht auch Willi.

Sie besteigen den Ford, verlassen die Stadt und erreichen eine nicht asphaltierte Straße, die in Serpentinen aufwärtsführt. Ich stelle mir vor, dass der Mann, der sich als Walter vorgestellt hat, erzählt, wie er am Morgen in Bozen einen Strommast gesprengt hat. Und dass Manfred Schröder gerne weitere Details erfahren würde. Dass er liebend gerne von seinen eigenen Taten erzählen würde, der Sprengung des Kinos in Paris gemeinsam mit der französischen Untergrundbewegung »Organisation de l’armée secrète« (OAS), dem Anschlag in Westberlin auf die Druckerei mit seinen Kumpels.

Wahrscheinlich erzählt er all das nicht. Sicher hat man in diesen Kreisen nicht mit seinen illegalen Taten geprahlt. Aber wenn, dann würde er wohl unerwähnt lassen, dass er es auf die SED-Zeitung »Die Wahrheit« abgesehen hatte und erst später erfuhr, dass sie längst nicht mehr in jener Druckerei gedruckt wurde. Ebenso, dass die Feuerwehr nur ein Handlöschgerät benötigt hat, um den Brand zu löschen. Vielleicht weiß er das auch gar nicht. Ich weiß das aus den Ereignismeldungen der Berliner Polizei.

Ich stelle mir vor, dass Manfred Schröder gerne von Berlin erzählen würde, seinem großen Anliegen. Von der besetzten, geteilten, der geschundenen Stadt, von den Kundgebungen vor dem Rathaus Schöneberg, die ihn als kleinen Jungen so berührt haben. Von Peter Fechter, der im Todesstreifen verblutet ist und fast fünfzig Minuten um Hilfe schrie. Von der Verabredung,...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 60er Jahre • Adenauer-Ära • Anschlag • Attentat • Autobiografie • Autobiografisch • Autobiographie • Autobiographisch • Bomben-Anschlag • Bozen • BRD • Bundesrepublik • DDR • Deutschland • Familiengeschichte • Hans Globke • Italien • Nazi • Ost-Berlin • Rechter Terrorismus • Rechtsextremismus • Sechzigerjahre • Stasi • Südtirol • Terrorismus • Terroristen • Traudl Bünger • Vater • Vater-Tochter
ISBN-10 3-462-31154-9 / 3462311549
ISBN-13 978-3-462-31154-9 / 9783462311549
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